Herne, Anfang Februar. Im Mondpalast hatte Martin Schulz, damals noch designierter Kanzlerkandidat seiner Partei, seinen bundesweit allerersten Wahlkampftermin bei der SPD-Parteibasis. Mitten im Ruhrgebiet, wo die Menschen entweder schwarz-gelb (Borussia Dortmund) oder weiß-blau (Schalke 04) sind, traut sich Schulz nach einigen begeistert aufgenommenen Sätzen zu Gerechtigkeit und seinen Ambitionen auf das Bundeskanzleramt auch an eine Grundsatz-Frage: „Ich bin bekennender Anhänger des 1. FC Köln“, sagt er ungefragt – doch den Genossen ist das in ihrem Jubelrausch egal.
Wenige Stunden zuvor hatte Schulz, der auch im Beirat des 1. FC Köln sitzt, auf seiner Ruhrgebietstour bereits ein Fan-Projekt des VfL Bochum besucht. Auch dort wurde deutlich: Das Thema Fußball, es passt einfach zu gut für Schulz, der seine Biografie der Brüche auch immer wieder mit dem zerplatzten Traum des Profifußballers erklärt. Denn: Die Gesellschaft zerfasere immer mehr, hat der SPD-Spitzenkandidat beobachtet, sein Eindruck aber sei, dass eine Gesellschaft nicht könne „ohne Zusammengehörigkeitsgefühl, ohne identitätsstiftende Zusammengehörigkeit. Das war früher das Stadtviertel, das war früher die Partei, das waren früher die Gewerkschaften, das war früher die Kirche, wo die Leute Ankerpunkte hatten. Das haben sie nicht mehr, es sei denn, Du gehörst zu einem Fußballklub.“
Seien es die 80.000 Zuschauer jede zweite Woche im Stadion von Borussia Dortmund oder eben die 40.000 in Bochum oder Köln, erklärt er im Haus des Fan-Projekts: „Deshalb finde ich, haben die Fußball-Klubs eine gesellschaftlich viel größere Aufgabe heute, als ihnen selbst vielleicht bewusst ist.“ Eine Botschaft, die Schulz immer wieder predigte – und auch nach außen sichtbar macht: Denn gut zwei Wochen später besucht er ein Heimspiel des 1. FC Köln.
Die Kraft der Stadionbilder
Die Episode zeigt: Im anstehenden Bundestagswahlkampf treffen auch zwei Fußballfans aufeinander. Doch während SPD-Spitzenmann Schulz dies offensiv betont, kann Bundeskanzlerin Angela Merkel mit vereinzelten Auftritten kontern – und auf eine glaubwürdige Beziehung zum Fußball verweisen. Allerdings dürfte es kein Zufall sein, dass sie Anfang April erstmals nach vier Jahren wieder ein Bundesligaspiel besuchte – ebenfalls im Stadion des 1. FC Köln. Offiziell informierte sich die Kanzlerin dabei über die Aktivitäten des Klubs bei der Integration von Flüchtlingen, doch Merkel weiß auch um die Kraft der Bilder – und das nicht erst, seitdem sie regelmäßig bei großen Turnieren mit der Fußballnationalmannschaft mitfiebert. Die Sympathiewerte, die der gemeinsame Besuch mit dem damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck beim WM-Finale 2014 in Brasilien sowie das anschließende Mannschaftsfoto mit Pokal in der Kabine erreichen, lassen sich durch keine Wahlkampagne erzielen.
Es sind solche Momente, die zeigen, wie hoch der Stellenwert des Fußballs in unserer Gesellschaft mittlerweile ist – und welche Bedeutung ihm auch von Politikern eingeräumt wird. Denn 60 Jahre vorher, als Deutschland in Bern erstmals Fußballweltmeister wurde, dachte der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, nicht im Traum daran, sich im Stadion zu zeigen: Stattdessen standen am 4. Juli 1954 ein Abstecher nach Rüdesheim sowie am Abend in Bonn ein „Abendessen bei Herrn Bundespräsident“ in Adenauers Terminkalender. „Undenkbar, dass Konrad Adenauer zum Spiel gegangen wäre, sich mit den Spielern gezeigt hätte oder gar in der Mannschaftskabine aufgetaucht wäre“, sagt auch der Historiker Jürgen Peter Schmied, der Führungen unter dem Motto „Konrad Adenauer und der Fußball“ organisiert.
Und während Merkels Vorgänger im Amt, vor allem Helmut Kohl und Gerhard Schröder, peu à peu den Fußball für Bundeskanzler salonfähig machten, setzt Merkel ihn seit Beginn ihrer Amtszeit zielgerichtet ein. Als sie beispielsweise im Juli 2013 dem damaligen Bürgermeister von Florenz, Matteo Renzi, einen Besuch abstattete, hatte dies zunächst politstrategische Gründe: Renzi war aussichtsreicher Anwärter auf den Posten des italienischen Ministerpräsidenten, was er im Februar 2014 dann auch wurde. Doch Merkel konnte den aufstrebenden Politiker damals auch beeindrucken: Als Erstes wollte die Kanzlerin wissen, wie es denn dem deutschen Nationalspieler Mario Gomez beim AC Florenz ginge, verriet Renzi Monate später in einem „Zeit“-Interview: „Stellen Sie sich vor, selbst das hat sie gewusst.“
Bei seinem Gegenbesuch im Jahr 2014 – dann als Ministerpräsident – überreichte er der Kanzlerin passenderweise ein Gomez-Trikot mit persönlicher Widmung. Ohnehin scheint sich Merkels Fußballleidenschaft auch international herumgesprochen zu haben: Insgesamt 21 Trikots bekam die Kanzlerin seit ihrem Antritt im Jahr 2005 bis in den Herbst 2016 geschenkt. Darunter, neben den obligatorischen und zahlreichen Trikots der deutschen Nationalmannschaft (Männer wie Frauen), auch ein Jersey der japanischen Nationalmannschaft („Nr. 10 – Merkel“) sowie die illustre Mischung aus Hemden von VfR Aalen, Energie Cottbus, SC Paderborn sowie Real Madrid.
Enger Draht zur Nationalmannschaft
Auf eine Anfrage im Juli 2016 teilte eine Regierungssprecherin mit, dass es „36 offizielle im Zusammenhang mit Fußball stehende Termine, davon elf im Bundeskanzleramt“ gegeben habe. Darunter waren alleine sechs Stadionbesuche bei der WM 2006, mit denen Merkel die Grundlage ihres öffentlichen Bilds als „Fußball-Kanzlerin“ („Bild“) legte. Seitdem hält sie einen engen Draht zur Nationalmannschaft und deren Führung, was das „Handelsblatt“ zu der Schlagzeile „Mutti Merkel und ihre Mannschaft“ verleitete.
Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière bestätigte dies und blieb dabei im Familien-Bild, wenn auch andersherum: „Die Kanzlerin ist so was wie halb adoptiert in dieser Mannschaft, wahrscheinlich. Und ich kenne auch viele ganz gut. Da gibt es schon eine große Nähe.“ Eine Beziehung, die von Merkel auch gepflegt wird: Sie steht in SMS-Kontakt mit Manager Oliver Bierhoff oder auch Bastian Schweinsteiger und empfängt das DFB-Spitzenpersonal regelmäßig im Bundeskanzleramt. Zu ihrem 60. Geburtstag kam der damalige DFB-Präsident Wolfgang Niersbach vorbei, überreichte einen Bildband „Merkel und Fußball“ und nach dem WM-Erfolg 2014 gab es einige Monate später sogar ein Abendessen mit Bundestrainer Joachim Löw, dessen Frau und weiteren Gästen.
Aber es gibt auch Gegenbesuche – und das nicht nur im Stadion: Beim DFB-Bundestag 2016 in Erfurt hielt die Kanzlerin die Laudatio auf Jürgen Klinsmann, der zum Ehrenspielführer ernannt wurde. Doch Merkel ist nicht nur Fan aus Leidenschaft. Sie nutzt den Fußball nicht nur zur Inszenierung, sondern auch inhaltlich, wie Merkel-Beobachter Dirk Kurbjuweit, heute Mitglied der Chefredaktion beim „Spiegel“, beobachtet hat. Beispielsweise in ihrer Neujahrsansprache 2006: „Die Frauenfußball-Nationalmannschaft ist ja schon Fußballweltmeister, und ich sehe keinen Grund, warum Männer nicht das Gleiche leisten können wie Frauen“, sagte sie damals.
Erstmals, so Kurbjuweits Beobachtung, nahm Merkel, die sich sonst nicht als Anwältin der Frauen präsentiert hatte, damit eine Frauen-Position ein. Und eine Botschaft in der Integrationsdebatte sahen viele in dem Foto der Bundeskanzlerin mit Nationalspieler Mesut Özil bei ihrem Kabinenbesuch im Oktober 2010. Nach dem EM-Qualifikationsländerspiel gegen die Türkei in Berlin, das Merkel zusammen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan besucht hatte, ging die Kanzlerin in die Kabine – und zwar ohne Rücksprache mit dem damaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger, weshalb am Tag danach ein klärendes Telefonat stattfinden musste. Der Fußball ist eben öffentlichkeitswirksam: „Die Freude am Fußball teile ich mit Millionen Menschen in Deutschland“, sagte Merkel mal in einem Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung“. „Die Menschen würden es sofort durchschauen, wenn ich diese Freude instrumentalisieren würde.“
Angesichts unzähliger authentischer Jubelbilder auf den Tribünen wird ihr diese Haltung mittlerweile abgenommen. „Es gibt niemanden, der den Fußball politisch so gut nutzt wie Angela Merkel“, muss auch Claudia Roth neidlos anerkennen. Und das, obwohl die ehemalige Grünen-Vorsitzende und Bundestagsvizepräsidentin im Kuratorium der Frauen-WM 2011 saß und selbst Mitglied der DFB-Nachhaltigkeitskommission sowie der „Deutschen Akademie für Fußball-Kultur“ ist.
Doch Merkels Leidenschaft hat sich auch auf dem politischen Parkett herumgesprochen: „Lassen Sie es mich so sagen: ‚She is a very learned fan'“, erinnert sich Philip D. Murphy, einst US-Botschafter in Deutschland, leidenschaftlicher Fan und Besitzer eines Frauenfußball-Teams in den USA, „ich habe sehr gerne mit ihr über Fußball gesprochen“. Doch Murphy versuchte auch, die Leidenschaft Merkels, sie ist Ehrenmitglied bei Energie Cottbus, beruflich zu nutzen: „Wir waren bei zwei oder drei Cottbus-Spielen“, berichtet der US-Botschafter von Abstechern in die Fußball-Provinz, „und ich habe immer dafür gesorgt, dass sie das mitbekommen hat“.
Der Text ist ein aktualisierter Auszug aus dem Buch „Es war einmal ein Spiel. Wie der Fußball unsere Gesellschaft beherrscht“, das gerade im Werkstatt-Verlag erschienen ist.