Vor knapp drei Monaten, im März, da war 2015 plötzlich wieder ganz nah. Deutsche Zeitungen und das Internet waren voller Bilder von Flüchtlingen, die sich an der türkisch-griechischen Grenze drängten und von griechischen Sicherheitskräften mit Tränengas beschossen wurden. Migration und Asyl waren kurz davor, wieder als große Streitthemen in die deutsche Öffentlichkeit zurückzudrängen. Auch die beiden alten Lager, „lasst sie rein“ und „wehrt sie ab“, waren schnell formiert. Dann kam Corona. Mittlerweile sind Politik und Gesellschaft mit vielem beschäftigt: Corona, Wirtschaft, auch Rassismus. Über Asylbewerber, die in Deutschland leben, redet kaum jemand. Dabei sind sie von allen diesen drei Themen besonders stark betroffen.
Zunächst ist positiv zu konstatieren: In den letzten fünf Jahren sind flächendeckend auf dem gesamten Bundesgebiet aus der Flüchtlingskrise heraus krisenfeste Strukturen entstanden, die abmildernd auf die Auswirkungen der Corona-Krise für Asylbewerber wirken konnten. Vor allem Strukturen für die Beratung und Betreuung der neu angekommenen Menschen hielten der Pandemieherausforderung stand. In Bayern etwa stehen für die Betreuung von Geflüchteten landesgeförderte Flüchtlings- und Integrationsberatungen bereit, die durch zusätzliche Förderungen einzelner Kommunen für Beratungs- und Koordinationsstellen unter anderem für ehrenamtliche Helfer ergänzt werden. Hinzu kommen die bereits 2005 aufgebauten vom Bund geförderten Migrationsberatungsstellen, die auch von anerkannten Asylbewerbern aufgesucht werden können.
Trotz der großen Anstrengungen der Beratungsstellen sind Aspekte der Integrationsarbeit durch das Brennglas Corona-Krise mit einer neuen Dringlichkeit in den Vordergrund gerückt. Die Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit Geflüchteten, die Wichtigkeit sozialer Kontakte für die Integration, der auftretende Bildungsrückstand geflüchteter Schulkinder ebenso wie die häufig diskutierten Unterbringungsformen von neu ankommenden Asylbewerbern müssen wieder in den Blick genommen. Wertvolle, hart erkämpfte Fortschritte der Integration drohen sonst verloren zu gehen.
Kontaktlose Beratung
Die greifbarste Auswirkung der Corona-Krise auf die Betreuung der Geflüchteten bestand darin, in kürzester Zeit Beratungsangebote trotz der eingeschränkten persönlichen Kontaktmöglichkeiten zu schaffen. Der persönliche Kontakt vor Ort in den Gemeinschafts- und Sammelunterkünften wurde auf einen äußerst begrenzten Personenkreis beschränkt. Die Mehrheit der Beratungen erfolgte auf ungewohnte Weise entweder telefonisch oder als Online-Beratung. Für Notfälle hatten die meisten Beratungsdienste einzelne Büros außerhalb der Unterkünfte geöffnet. Die Berater fanden kreative Wege, wie Dokumente kontaktlos, zum Beispiel für eine Ausfüllhilfe abgegeben werden konnten. Aus den Zeiten der Flüchtlingskrise haben die meisten Integrationsarbeiter Erfahrungen gesammelt, wie sie in einem äußerst schwierigen Umfeld, das nur geringe Ressourcen aufweist, bestmöglich den Bedarf ihrer Klienten decken – auch ohne Büroausstattung oder Übersetzer, mithilfe der allgemein bekannten Hand-und-Fuß-Sprache.
Des Weiteren hat sich in den letzten fünf Jahren eine enge Verbindung zwischen staatlichen Stellen, hauptamtlichen Integrationsberatungen und ehrenamtlichen Helfern als Dreigestirn der Integrationsarbeit herausgebildet. Die Kommunikation mit den Geflüchteten wird über den Austausch dieser Akteure aufrechterhalten. In kürzester Zeit wurden von unterschiedlichsten Stellen Informationsblätter mit Übersetzungen in mehr als 30 Sprachen der Welt erstellt. Auch wurde an Plakate mit der Darstellung der wichtigen Hygiene- und Schutzmaßnahmen mit Piktogrammen gedacht, die ebenfalls für Analphabeten verständlich sind. Zusätzlich wurden die Bewohner der Unterkünfte stetig durch hauptamtliche Beratungsstellen und Helfer aufgeklärt, insbesondere wenn eine Quarantäne angeordnet wurde. Die Organisation der Versorgung von in Quarantäne gestellten Unterkünften trugen meist amtliche Stellen, wobei gerade in der Anfangszeit der Krise auch Integrationsberatungsstellen und Ehrenamtliche in einigen Fällen aushelfen mussten.
Funkstille
Allerdings wurde die Aufklärung der Geflüchteten durch Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Ämtern teils sehr erschwert. Die Gesundheitsämter wurden zur Herrin des Verfahrens. Sie mussten Prioritäten der Dringlichkeit entsprechend setzen, so dass nicht immer zuverlässige und verbindliche Auskünfte an die Beratungsstellen weitergegeben wurden. Die Beratungsstellen konnten ihren Klienten auf diese Weise keine eindeutigen Empfehlungen geben, was die Betroffenen zusätzlich verunsicherte – insbesondere in Unterkünften, in denen einzelne Bewohner positiv auf das Coronavirus getestet wurden.
Beengte Verhältnisse begünstigen die Virusübertragung. In einer Flüchtlingseinrichtung in St. Augustin (Rhein-Sieg-Kreis) wurden im Mai 130 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet. Insgesamt wurden in der Unterkunft 300 Personen getestet. Zur Quarantäne wurden die Infizierten in eine Bonner Jugendherberge verlegt. (c) dpa/Marcel Kusch
Darüber hinaus hat sich während der Corona-Krise ein weites Geflecht von staatlichen Akteuren gebildet, die nur dürftig über ihre Unterstützungsangebote informiert haben. Verabschiedete Corona-Hilfen für Empfänger von Sozialleistungen, wie der Kindernotzuschlag oder die IT-Hilfen für Schulkinder einiger bayrischer Kommunen, blieben unter Betroffenen weitgehend unbekannt. Selbst die Beratungskräfte mussten aufwendig recherchieren, um sich eine Übersicht über Neuerungen zu verschaffen, da die zuständigen Behörden nicht ausreichend und zeitnah über Neuerungen Auskunft gaben.
Fake News
Ein besonderes Problem für die Kommunikation mit den Geflüchteten während der Corona-Krise sind Falschmeldungen über die Gefährlichkeit des Virus etwa aus dem arabischen Raum, häufig gemischt mit in ihrer Argumentation konsistenten Verschwörungstheorien. Meist werden diese Falschmeldungen über die gängigen Social-Media-Kanäle verbreitet. Häufig geäußert wird beispielsweise die falsche Annahme, die Corona-Krise sei bewusst von der Politik heraufbeschworen worden, um den Bürgern grundlegende Rechte zu verwehren und ihre Freiheiten einzuschränken.
Diese Fehlinformationen haben die Aufklärungsarbeit deutlich erschwert und führten unter einem kleinen Kreis der Asylbewerber sogar dazu, dass sie sich deutlich seltener an die Kontaktbeschränkungen hielten. Glücklicherweise war ihre Zahl überschaubar. Die meisten Geflüchteten legten ein vorbildliches Verhalten seit Beginn des ersten Ausbruchs des Coronavirus an den Tag. Mit Blick auf diesen zuverlässigen Personenkreis sollte eine selbstorganisierte Vertretung von Geflüchteten in den Unterkünften stärker gefördert werden. Über sie können verlässliche Informationen unter den Bewohnern verteilt werden. Solche Selbstvertretungen wurden in der Vergangenheit – auch wegen der häufigen Umverteilung von Bewohnern – nur in seltensten Fällen eingeführt.
Alltag wichtig für Sprachpflege
Für die meisten Geflüchteten, aber auch Migranten wird der Integrationsweg durch die notwendige räumliche Distanzierung während der Corona-Krise deutlich holpriger. So sind die Integrationskurse abgebrochen und erst seit kurzer Zeit gibt es Alternativangebote, die online von den Integrationskursträgern bereitgestellt werden können. Viele Betroffene bemerken ohne die konstante Fortführung der Integrationskurse einen Rückgang ihres Sprachempfindens. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird nun Regelungen für eine Erweiterung der maximal geförderten Kursstunden finden müssen, um den Teilnehmern einen erfolgreichen Abschluss des Integrationskurses zu ermöglichen.
Mehr noch wird ein erfolgreicher Integrationsweg am häufigsten über den sozialen Umgang in der nahen Umgebung gegangen: vom morgendlichen Kontakt zur freundlichen Bäckereiverkäuferin über die Gespräche zwischen Eltern bei der Begleitung der Schulkinder bis hin zur Arbeitsstelle und den gemeinsamen Feierabendritualen unter Bekannten. Das unabdingbare Social Distancing während der Corona-Krise führt zu einem abrupten Abfall dieser Kontakte und lähmt über Monate hinweg die Integration von Geflüchteten und Migranten. Insbesondere fehlen soziale Kontakte durch den häufigen Verlust des Arbeitsplatzes. Überdurchschnittlich viele Flüchtlinge sind im Gastgewerbe oder der Zeitarbeit tätig, die hart von der Krise betroffen sind. Nicht umsonst hat Integrationsministerin Annette Widmann-Mauz (CDU) deswegen in der „taz“ Alarm geschlagen.
Für viele Betroffene geht der Verlust der Anstellung zusätzlich mit dem Verlust der Arbeitserlaubnis einher, da diese in den meisten Fällen an den Arbeitgeber gebunden ist. Viele, die nun wieder für ihren Lebensunterhalt auf Unterstützung der Agentur für Arbeit oder des Jobcenters angewiesen sind, müssen nicht nur mit den Herausforderungen der Isolation umgehen, sondern bangen vor allem darum, ob ihnen wieder eine Arbeitsgenehmigung nach der Krise erteilt wird.
In der Schule abgehängt
Besonders Flüchtlingskindern, aber auch einem großen Teil der Migrantenkinder droht derzeit, in der Schulbildung abgehängt zu werden. Gerade Grundschulkinder sind für die weitere Entwicklung auf Hilfe angewiesen. Seitens der Eltern stehen dem oft genug mangelnde Sprach- und Fachkenntnisse entgegen. Ob überhaupt Schulmaterialien und die dazugehörigen Aufgaben an die Schüler verteilt werden, hängt häufig vom persönlichen Engagement von Helfern und in vielen Fällen der Lehrkräfte ab, die sich besonders in Grundschulen der ländlichen Gebiete aufopferungsvoll um ihre Schulklassen kümmern.
Angesichts des oft niedrigen Bildungsstands der Eltern und der spärlichen IT-Ausstattung in den Unterkünften der Geflüchteten kann die Aufopferungsbereitschaft einzelner Personen nur geringfügig den Rückstand vieler Kinder infolge des Lockdowns mildern. Hier könnte ein freiwilliges Ferienangebot für alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft Abhilfe schaffen, um möglichst alle Schulkinder auf einen ausreichenden Wissensstand für das folgende Schuljahr zu bringen.
Unterbringung steigert Ausbruchsrisiko
Die größte Problemlage ist die Unterbringung der Geflüchteten in Sammel- und Gemeinschaftsunterkünften. Die Missstände sind hier nicht erst seit gestern bekannt. Aber die Corona-Krise hat sie im wahrsten Sinne des Wortes virulent gemacht. Sammel- und Gemeinschaftsunterkünfte erschweren die Versorgung der Geflüchteten, ihre Integration, erhöhen das Infektionsrisiko und machen das Social Distancing nahezu unmöglich. Hygienevorschriften werden ad absurdum geführt in Unterkünften, in denen sich mehrere Familien die Sanitär- und Küchenräume teilen. Während zumindest für Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe einheitliche Regelungen bestehen, gibt es für Gemeinschaftsunterkünfte, insbesondere aber auch für die Aufnahmeeinrichtungen mit kaum überschaubarer Kapazität keine Mindestanforderungen.
Die Unterbringung von Geflüchteten vor allem in großen Unterkünften an den Randbezirken führt zu sozialer Ausgrenzung und dem dauerhaften Risiko der Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Immer wieder kommen Fälle, beispielsweise von Tuberkulose, in den Unterkünften vor. Unrealistisch erscheint die Forderung, alle Asylbewerber unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus in kürzester Zeit in dezentrale Unterkünfte wie Wohnungen unterzubringen. Es wäre den Wählern kaum zu vermitteln, warum deutlich erhöhte Ausgaben für die Unterbringung abgelehnter Asylbewerber mit äußerst geringer Bleibeperspektive in dieser Krisenzeit veranschlagt werden sollten. Langfristig aber müssen Sammelunterkünfte für alle Asylbewerber durch menschenwürdige und integrationsfördernde Unterbringungsformen ersetzt werden. Migranten zeigen deutlich bessere Integrationserfolge, wenn sie Einheimische in eine eigene Wohnung oder Wohngemeinschaft einladen können. Sie schämen sich, in Sammelunterkünften Besucher zu empfangen.
Um hier mittelfristig mehr zu erreichen, braucht es alternative Wege in die deutsche Gesellschaft für nicht anerkannte Geflüchtete, die trotz des abgelehnten Asylbescheids teils bereits mehr als fünf Jahre in Deutschland leben und bessere Integrationsfortschritte vorweisen können als manch ein anerkannter Geflüchteter oder Migrant. Für anerkannte Asylbewerber geht der positive Asylstatus praktisch mit dem Recht einher, dauerhaft in Deutschland bleiben zu dürfen. Sie müssen deutlich rascher als bisher von den in Außenbezirken befindlichen Unterkünften in kleinere, dezentrale Unterkünfte inmitten von Städten und Ortschaften – und damit in die Mitte unserer Gesellschaft – umverteilt werden.
Denn nur durch einen verbesserten sozialen Kontakt kann die Integration dieser Gruppe von Geflüchteten nachhaltig gelingen. Seit 2015 wurden in der Integrationspolitik viele richtige Schritte unternommen, die es nun aber sozio‑politisch weiterzudenken gilt. Die Schaffung von aus Flüchtlingsunterkünften ausgehenden Krankheitsrisiken, möglicher neuer Formen von Clankriminalität oder sonstiger negativer Folgen dieser Unterbringungsform muss verhindert werden. Stattdessen sollte ein zukunftsorientiertes Miteinander mit einem konstruktiven Beitrag der neuen Mitbürger dieser Gesellschaft gefördert werden. Die Massenunterbringung mag in Zeiten des massenhaften Zuzugs alternativlos gewesen sein. Jetzt verursacht sie vor allem Probleme. Die Corona-Krise hat das nicht verursacht, wohl aber sichtbar gemacht.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 131 – Thema: Politiker auf Social Media. Das Heft können Sie hier bestellen.