Lange hatte man von den „Angstbürgern“ nichts mehr gehört, aber nun werden sie wieder herbeigeschrieben. Den Deutschen wird eine Mischung aus Angstanfälligkeit und Überheblichkeit attestiert – ein Volk von Romantikern, dem es an Maß und Mitte fehle. Die „German Angst“ sei ein typisch deutsches, tief in unseren Genen verankertes Phänomen.
Dabei war doch unlängst noch von der neuen deutschen Gelassenheit die Rede. Noch im September 2015 meinte die Tageszeitung „Welt“, das Land schwimme auf einer Welle der Selbstzufriedenheit. Zu diesem Zeitpunkt gingen die Wutbürger längst auf die Straße. Die rechte Protestbewegung Pegida ruft seit Oktober 2014 zu ihren Umzügen auf. Die „Alternative für Deutschland“ (AfD) wurde sogar schon 2013 als Reaktion auf die Euro-Rettungspolitik gegründet. Anfangs war nicht ausgemacht, ob es sich überhaupt um eine populistische oder eher um eine nationalkonservative Partei handele. Nach dem Austritt des wirtschaftsliberalen Flügels um Bernd Lucke im Sommer 2015 schien es, als hätte die AfD ihre beste Zeit hinter sich. Innerhalb von nur zwei Jahren hatte sie, auch durch interne Querelen, abgewirtschaftet.
Doch dann hauchte die Flüchtlingskrise und deren kopflose Handhabung der AfD schlagartig neues Leben ein. Mit zweistelligen Umfragewerten ist sie in aktuellen Umfragen inzwischen drittstärkste Partei und das, obwohl sie sich deutlich nach rechts bewegt hat. Die CDU hat Grund, um ihre Hegemonie im bürgerlichen Lager zu bangen. Schon bei den Landtagswahlen in Brandenburg 2014 hatte die AfD mit 12,2 Prozent mehr Wähler aus dem bürgerlichen Lager auf ihre Seite gezogen als ehemalige Wähler von SPD oder Linkspartei.
Elitenversagen, Verkrustungen, Inkompetenz
Man wird dem Phänomen des Populismus nicht gerecht, wenn man es nicht als Antwort auf Elitenversagen, Parteienverkrustungen, Steuerungskrisen, Inkompetenz und einseitige Medienpolitik versteht. Populismus ist eine Reaktion auf politische Alternativlosigkeit. Große Koalitionen mögen in bestimmten Situationen unumgänglich sein, sind aber Gift für das demokratische Wechselspiel zwischen deutlich unterscheidbaren politischen Alternativen. Banken- und Finanzwelt, Euro, Griechenland, EZB, EU und Energiewende – seit 2008 leben wir mit mehreren ungelösten Krisen. Während dieser Dauerkrisen stand die SPD alternativlos an der Seite der CDU.
Populismus und Elitenhandeln verhalten sich wie kommunizierende Röhren zueinander. Sinkt die Zufriedenheit mit der „politischen Klasse“, steigt populistischer Protest. Die Krise der Repräsentation ist ja nicht neu, sie beschäftigt Sozialwissenschaftler seit Jahren. Immer mehr Menschen, vor allem im unteren sozialen Segment, fühlen sich von der Politik abgehängt und glauben nicht, dass ihre Wahlbeteiligung daran etwas ändern könne.
Der Ruf der Kanzlerin als Krisenmanagerin beruht auf der Strategie des Auf-Sicht-Fahrens: keine Visionen, kein umfassender Masterplan, sondern die „Tina“-Botschaft: „There is no alternative“ (Es gibt keine Alternative). Wir schaffen das. Aber was eigentlich und zu welchen nicht nur materiellen Folgekosten? Manche haben die Entscheidung der Kanzlerin gerühmt, im nationalen Alleingang die im Herbst vor der ungarischen Grenze gestrandeten rund 130.000 Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen. Eine Welle der Gesinnungsethik schwappte über das Land: Die neudeutsche Willkommenskultur gab uns ein Überlegenheitsgefühl und stellte skeptischere Länder als moralische Versager und schwarze Schafe an den Pranger.
Der Gesinnungsethiker, so Max Weber in seinem Werk „Politik als Beruf“, handelt nach der Maxime: „Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim.“ Dagegen weiß der Verantwortungsethiker, „dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat“. Politiker werden nicht an ihren guten Absichten, sondern an den voraussehbaren Folgen ihres Handelns gemessen.
Wehret den Anfängen
Mit Blick auf Merkels Flüchtlingspolitik lässt sich feststellen: Es war voraussehbar, dass vor allem junge, alleinstehende Männer einreisen würden. Jeder Migrationsforscher weiß das. Es war voraussehbar, dass sich darunter nicht nur gesittete, gut ausgebildete Fachkräfte befinden würden. Zu den voraussehbaren Folgen des gesinnungsethischen Signals Merkels gehört auch, dass die Sparpolitik im öffentlichen Dienst zu langen Wartezeiten bei der Bearbeitung von Asylanträgen führen würde. Man konnte auch vorhersehen, dass die angestrebte Verteilung von Flüchtlingen auf andere EU-Mitgliedsstaaten auf Widerstand stoßen und der Ruf nach Solidarität folgenlos bleiben würde.
Nicht zuletzt trägt eine gut gemeinte, aber kontraproduktive Informationspolitik zu populistischen Gegenreaktionen bei. Deutschland befindet sich nicht mehr in der Phase der Reeducation nach 1945, aber immer noch gilt: Wehret den Anfängen. Die Angst, der Islamophobie geziehen zu werden, führt zu Sprachregelungen und Verhüllungsstrategien, lenkt aber nur Wasser auf die Mühlen derer, die mit dem Slogan „Lügenpresse“ die Glaubwürdigkeitskrise ausschlachten. Viele Menschen fühlen sich von den Medien einseitig informiert. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen geriert sich geradezu als moralische Anstalt in der Berichterstattung über die Flüchtlingsdebatte.
Weitere Flüchtlinge in unkalkulierbarer Zahl werden zu wachsenden Verteilungskämpfen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt führen. Die Zahl der Bildungsverlierer wird steigen. Was das heißt, sieht man in Frankreich, dem Land mit der stärksten rechtsextremen Partei Westeuropas und ghettoisierten Trabantenstädten. Merkels „Wir schaffen das“ ist ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft. In den Kommunen, unter Sozialarbeitern und Ehrenamtlern wächst die Skepsis. Eines aber schaffen wir mit einer gesinnungsethischen Haltung sicher: den Boden, auf dem der Rechtspopulismus gedeiht, zu düngen. Wenn sich bei vielen Menschen der Eindruck verstärkt, die staatlichen Institutionen seien nicht Herr der Lage, so entsteht ein Glaubwürdigkeitsvakuum, das sich andere zunutze machen.
Der Populismus hat kein schönes Gesicht, aber er kommt nicht von ungefähr. Er ist ein Korrektiv in Zeiten politischer Alternativlosigkeit, dem man nicht mit moralischer Denunziation oder „Koalitionen der Anständigen“ beikommt, sondern mit Antworten auf die legitimen Fragen: Woher kommen wir, wohin gehen wir? Wer nur auf Sicht fährt, der sollte, in den Worten Julia Klöckners (CDU), „einfach mal die Klappe halten“.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation I/2016 Emotionen. Das Heft können Sie hier bestellen.