Autofahrer in Berlin, Hamburg und München verbringen jedes Jahr durchschnittlich über 140 Stunden im Stau. Bis zu einem Drittel des urbanen Verkehrsaufkommens ist zu Spitzenzeiten reine Parkplatzsuche. Es drohen Fahrverbote durch Feinstaubbelastung und die Treibhausgasemissionen des Verkehrssektors sinken nicht, sie steigen. Der ÖPNV ist vielerorts überlastet und unterfinanziert, Radfahrer leben gefährlich.
Was bis vor wenigen Wochen eine einigermaßen zutreffende Beschreibung unserer Mobilitätsprobleme gewesen wäre, klingt heute wie eine Meldung aus einer anderen Zeit. Die Krise beschleunigt den Umbruch. Ihn jetzt gemeinsam und vor allem nachhaltig zu gestalten, ist vordringliche Aufgabe, um Mobilität krisenfest zu machen und Arbeitsplätze langfristig zu sichern. Politik und Wirtschaft sollten die historische Chance jetzt gemeinsam nutzen.
Die Covid-19-Krise hat unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unsere Art zu leben und uns zu bewegen, massiv verändert. Die Wirtschaft macht eine Vollbremsung und mit ihr die Autoindustrie und fast alle Mobilitätsanbieter: #Stayhome – wer kann, bleibt zu Hause.
Zugleich schlägt die Stunde der Politik. Bund und Länder stellen unvorstellbare Summen bereit und treffen weitreichende Entscheidungen mit noch unübersehbaren Variablen. Die Krise zeigt uns unsere Verwundbarkeit, aber sie zeigt zugleich, dass Mobilität im wahrsten Sinne des Wortes kritische Infrastruktur ist und was möglich ist: Städte auf der ganzen Welt verteilen den urbanen Raum neu und die Luft ist so sauber wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Effekte, die auch nach der Krise den Maßstab für das Machbare in der Mobilität beschreiben.
Die Krise als Katalysator für die Mobilitätswende
Die Mobilitätsbranche befand sich schon vor der Krise im größten Umbruch ihrer Geschichte. Die Krise wirkt jetzt wie ein Reaktionsbeschleuniger: Die Brüsseler Innenstadt wird zur Fahrrad- und Fußgängerzone und nicht nur in Berlin und Bogotá entstehen provisorische Radwege im Rekordtempo. Hier zeigt sich ein neuer Gestaltungsanspruch und ein wachsender Gestaltungswille der Politik. Dieser ist auch nötig. Nicht nur die Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren die Mobilitätswende verschlafen, indem sie noch immer vorwiegend auf Mobilität im eigenen (Verbrenner-) Pkw setzt. Auch die Politik hat ihre Möglichkeiten nicht ausgeschöpft.
Die Automobilindustrie ist denkbar schlecht auf die Krise vorbereitet. Ihre Probleme sind größtenteils hausgemacht und sie muss die verpasste Entwicklungsphase neuer Antriebe und Modelle jetzt ausgerechnet in globalen Krisenzeiten stemmen. Umso größer ist aber ihre Bedeutung für die Volkswirtschaft. Diskussionen über Stützmaßnahmen der Autoindustrie haben dieser Tage wieder Konjunktur. Doch selbst Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) warnt vor Abwrackprämien, die es der Industrie ermöglichen, so weiterzumachen wie bisher. Denn klar ist: Die Klimakrise macht auch in Corona-Zeiten keine Pause und der Verkehrssektor reißt zuverlässig seine Emissionsziele.
Neue digitale Technologien haben gleichzeitig unsere urbane Mobilität jenseits des eigenen Pkw verändert und eine ganz neue Branche hervorgebracht: Mobility as a Service (MaaS). Ob Ride Sharing bzw. Pooling, Car Sharing, Mikromobilität oder E-Roller – in den vergangenen Monaten und Jahren vor der Krise ist der Markt geradezu explodiert. Diese Anbieter trifft es jetzt in der Krise sofort und mit voller Wucht.
Während der ÖPNV als Teil der Daseinsvorsorge und als Rückgrat des städtischen wie ländlichen Verkehrs von den Kommunen getragen wird, beschleunigt die Krise die Marktkonsolidierung im Bereich der MaaS-Anbieter in atemberaubendem Tempo. Diese werden keine Catchup-Effekte verzeichnen können – die Nachfrage nach einer Mobilitätsdienstleistung lässt sich nicht verschieben oder nachholen. Zwar reagieren einige der MaaS-Dienstleister in der Krise flexibel, sie bieten Freifahrten für Menschen in systemrelevanten Jobs oder Lieferungen und Transporte an. Dennoch sind gerade sie – als unverzichtbare Träger der Verkehrswende – in der Krise gefährdet. Die gesamte Sharing-Economy braucht für ihr Geschäftsmodell neue Antworten.
Die Nachfrage nach Mobilität wird sich erholen – ungewiss bleibt, wie sich diese künftig verteilt. Die Gretchenfrage ist: Wie lösen MaaS-Dienstleister, wie löst der ÖPNV den Zielkonflikt auf, möglichst viele Menschen gleichzeitig zu befördern und zugleich den Belangen des Gesundheitsschutzes gerecht zu werden. Sharing- und Pooling-Modelle sind mit Blick auf neue Hygienekonzepte besonders gefordert. Erst wenn es darauf passende Antworten gibt, kann neues Vertrauen in die Nutzung von öffentlichen und geteilten Verkehrsmitteln entstehen, die auch in Zukunft das Rückgrat des städtischen Verkehrs bilden müssen. Wer Antworten auf diese Frage findet und Angebote entwickelt, Risikogruppen wirksam zu schützen, wird am Ende erfolgreich sein.
Es spricht einiges dafür, dass nur ein intelligenter, multimodaler Ansatz Lösungen für die verschiedenen Zielgruppen liefern kann, nicht eine One-Size-fits-All Lösung. Denn Alltagsmobilität nach dem Lockdown heißt, insbesondere für Risikogruppen neue Lösungen zu finden. Dafür braucht es passgenaue Angebote für diese Zielgruppen und neue Hygienekonzepte. Dennoch sollte niemand, der heute einen Bus, eine U-Bahn oder ein Sharing-Fahrzeug konzipiert – oder einen Service designt – auf epidemiologischen Rat verzichten. Gleiches gilt für Bahnhöfe oder Haltestellen. Und wenn nun nach und nach die Schulen wieder geöffnet werden, stellt sich die Frage nach eigenen Hygienekonzepten für die Schülerverkehre besonders schnell.
Die Krise als Katalysator für die Politik
Hier muss die Politik ihrer Gestaltungsverantwortung gerecht werden. Die globale Entwicklung hat nicht auf Deutschland und Europa gewartet, während die Bundesregierung in Europa für den Verbrennungsmotor lobbyierte. Die Antwort auf unsere Mobilitätsprobleme ist und war nie (allein) der private Pkw – ganz unabhängig von der Art seines Antriebs.
Wer die Mobilitätswende will, braucht die multimodale Vernetzung verschiedenster Verkehrsmittel. Schon vor der Krise fehlte dafür ein verlässlicher Rechtsrahmen. Noch immer warten Kommunen und Mobilitätsdienstleister auf eine Reform des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG), die neue Verkehrskonzepte auf rechtssichere Grundlagen stellt, um für ein Mindestmaß an Planungssicherheit zu sorgen. Das gilt nach der Krise umso mehr. Gerade in der Verkehrspolitik und im Mobilitätsmarkt gilt die Regel, dass sich ein Angebot seine Nachfrage schafft.
Es heißt, Krisenzeiten seien die Stunde der Exekutive. Sicher ist, dass sich in diesen Tagen die Gewichte durch die eingreifende, ja rettende, Hand des Staates verlagern. Umso mehr sollten staatliche Hilfen nun Lenkungswirkung entfalten und an übergeordnete Ziele geknüpft sein. Die Herausforderungen sind immens: Wir müssen die Klimakrise bekämpfen, zugleich die Spaltungen zwischen Stadt und Land überwinden und hier wie dort unsere Verkehrsprobleme lösen. Dabei ist Infrastrukturpolitik immer auch Konjunkturpolitik. Jede Forderung nach Unterstützung aus der Wirtschaft wird sich künftig daran messen lassen müssen, ob und wie sie dazu beiträgt, diese übergeordneten Ziele und die Mobilitätswende zu erreichen. Je früher, desto besser.
Nötig ist Ordnungspolitik auf Augenhöhe: Mit staatlichen Hilfen, die an Bedingungen geknüpft sind. Und mit einer Förderpolitik, die effizient ist und ihren Gestaltungswillen zeigt. Staatliches Handeln muss gerade in Zeiten sinkender Steuereinnahmen diesen Ansprüchen gerecht werden. Und auch der Vorsorgestaat hat einen Anspruch auf nachhaltige Dividende: sei sie sozial, ökologisch oder ökonomisch – am besten ohne „Oder“.
Nie zuvor war der Raum für neue Wege in der Verkehrspolitik, für neue Ideen und Kooperationen, vielleicht sogar für unwahrscheinliche Allianzen, so offen wie derzeit. Wir sollten als Gesellschaft, als Teilnehmer des politischen Diskurses, als Wirtschaft und BürgerInnen den Mut aufbringen, diese Wege gemeinsam zu beschreiten. Ganz sicher wird die Krise unseren Alltag nachhaltig verändern. Es liegt in unserer Hand, diese Veränderung nachhaltig zu gestalten.