Die ersten 100 Tage nach der Bundestags­wahl aus der Sicht von ­Interessen­vertretern

Politik

An einem jeden Wahlabend stehen spätestens um 22 Uhr die Sieger und Verlierer fest. Erste Koalitionskonstellationen zeichnen sich ab. So war es auch bei der Bundestagswahl 2017. Zumindest für die Wahlkämpfer war die Arbeit getan, für alle anderen fing sie erst richtig an: Der Wahlsieger muss eine neue Regierung bilden, das Parlament muss sich konstituieren, der Koalitionsvertrag ausgehandelt und geschrieben werden. Und auch außerhalb des Parlaments stehen die Akteure bereits in den Startlöchern. Interessenvertreter jeder Couleur versuchen, sich Gehör zu verschaffen, um ihre Positionen in einem möglichst frühen Stadium auf die politische Agenda zu setzen. Wer dabei erfolgreich sein möchte, sollte nicht nur gut vorbereitet sein, sondern auch das richtige Timing beachten.

Züge beim Personal-Schach richtig interpretieren

Obwohl die parlamentarische Arbeit vor Wahlen in der Regel auf ein Minimum reduziert wird, können sich Inte­ressenvertreter in dieser Zeit nicht einfach zurücklehnen und die Zeit bis zum Beginn der nächsten Legislatur­periode untätig verstreichen lassen. Vielmehr gilt es, genau zu beobachten und zu analysieren, wie sich die politischen Vertreter beim Personal-Schach in Stellung bringen, welche Ro­chaden ausgeführt werden und wer unter Umständen noch vor Ende des Spiels schachmatt gesetzt wird.

Das lässt erste Rückschlüsse darauf zu, mit welcher Gemenge­lage man es nach der Wahl zu tun haben wird, welche Positionen vertreten werden und auf welche möglichen “Gefahren” für die Interessen der Mandanten man sich vorbereiten sollte. Schon lange vor der Wahl sollten Interessenvertreter daher erste Entwürfe für Positions- und Argumentationspapiere entwickeln und Kontakt zu den wichtigen Köpfen aufnehmen, um zu gegebener Zeit gut vorbereitet für ihre Positionen einstehen zu können.

Sondierung: eine zeitlich unsichere Variable

Ist der Wahlabend vorüber, sind die Sektgläser bei den Siegern geleert und die Wunden bei den Verlierern geleckt, beginnt ein weiterer anstrengender Arbeitsabschnitt: die Sondierungs- und Koalitionsgespräche. Herausfordernd für Interessenvertreter ist dabei, dass es keine formalen Regeln für den Ablauf dieser Gespräche gibt. Sie sind eine zeitlich unsichere Variable. Selbst wenn das Wahl­ergebnis relativ klar ist und sich die Parteien schon im Wahlkampf zueinander bekannt haben, ist das nicht automatisch ein Garant für schnelle Sondierungs­gespräche. Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ging die Sondierung beispielsweise sehr schnell in Koalitions­verhandlungen über, während nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2016 SPD-Spitzenkandidat Michael Müller mehrfach Gespräche in alle Richtungen führte und sich die sogenannte “Brautschau” somit stark in die Länge zog.

Ob kurz oder lang: Die Sondierungsgespräche bieten für Interessenvertreter eine hervorragende Möglichkeit, das handelnde Personal genau zu beobachten und Positionen einem entsprechenden Feinschliff zu unterziehen. Denn wer zu den Köpfen in diesen Gesprächen gehört, wird höchstwahrscheinlich auch später in den Koalitionsverhandlungen zu den Entscheidern zählen.

Während der Verhandlungen ist Ansprache von Entscheidern schwierig

Als Interessenvertreter gilt es nicht nur, die relevanten Protagonisten auf dem Schirm zu haben. Genauso wichtig ist es, schon frühzeitig eine vertrauensvolle Beziehung zu diesen wichtigen Entscheidern aufzubauen. Denn in Verhandlungszeiten sind die Zeitfenster für Ansprachen sehr begrenzt. Zudem können die Gespräche eine komplexe Angelegenheit sein: Nach der Bundestagswahl 2013 etwa waren 259 Vertreter der drei Parteien CDU, CSU und SPD aktiv an den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag beteiligt. Wer da nicht den Überblick verlieren wollte, musste die wichtigen Akteure schon vorher kennen. Im Falle einer Jamaika-Koalition wäre die Gemengelage mit einer Partei mehr sogar noch komplizierter.

Die Koalitionsgespräche folgen in der Regel einem ähnlichen Muster: Aufgeteilt auf Verhandlungsgruppen zu spezifischen Politikfeldern, die den späteren Ministerien ähneln, widmen sich die Verhandelnden ihren jeweiligen Einzelthemen. Detailfragen werden in Arbeitsgruppen besprochen, in denen die Fachpolitiker aus den Fraktionen beziehungsweise herausragende Köpfe aus den Landes­verbänden vertreten sind. Außerdem verhandeln hier designierte Minister, damit sie später nicht mit einem Koa­litionsvertrag konfrontiert werden, den sie nicht vertreten.

Mit allem rechnen

Der Zeitplan der Regierungsbildung kennt kaum Fixpunkte, nur wenige Daten stehen von vornherein fest, so zum Beispiel die Konstituierung des Bundestags spätestens 30 Tage nach der Wahl. Die Koalitionsverhand­lungen werden in keiner Weise von diesem straffen Zeitrahmen tangiert. Betrachtet man die vergangenen 30 Jahre, zogen sich die Verhandlungen meist über dieses Datum hinaus. Lediglich die rot-grünen Koalitionen von 1998 und 2002 schafften die Regierungsbildung innerhalb dieser Frist. Die mit Abstand längste Zeit nahm dagegen die Bildung der Großen Koalition 2013 in Anspruch, mit einer Dauer von 86 Tagen. Erst am 17. Dezember 2013 wählten schließlich 462 der 631 Bundestagsabgeordneten Angela Merkel zur Bundes­kanzlerin.

Es dauerte unter anderem deshalb so lange, weil der damalige SPD-­Vorsitzende Sigmar Gabriel jegliche inner­parteiliche Kritik an der Großen Koalition ausräumen wollte, indem er über den Koalitions­vertrag per Mitglieder­votum abstimmen ließ. Das war ein Novum, denn bisher wurden Koalitionsverträge in der Regel – so war es auch 2013 bei CDU und CSU – durch Parteitage oder einen Beschluss des Vorstands abgesegnet.

Niedersachsen machte alles komplizierter

Die Gespräche nach der Bundestagswahl 2017 könnten den 2013 aufgestellten Rekord schon wieder brechen. Denkbar ist, dass die nächste Bundesregierung erst im Januar 2018 die Arbeit aufnehmen wird. Denn durch die vorgezogene Neuwahl in Niedersachsen hat sich der Beginn der Sondierungsgespräche auf den 17. Oktober verschoben.

Die Zeit der Unsicherheit würde sich für Interessen­vertreter damit verlängern. Gleichzeitig würden diese aber auch mehr Zeit gewinnen, sich auf die nächste Regierung und deren Programm einzustellen. Darüber hinaus bestünden mehr Möglichkeiten, den Informationsbedarf der Politiker während der Koalitionsverhandlungen mit eigenen Argumenten zu decken. Denn bei Koalitions­verhandlungen kommt es nicht einfach zu einem Merger von Wahlprogrammen, sondern es geht darum, eine vertragliche Grundlage für die gemeinsame Arbeit in der nächsten Legislaturperiode herzustellen.

Was kommt als Erstes auf die Agenda?

Kristallisiert sich nach den Verhandlungen irgendwann heraus, welche Projekte in den kommenden Jahren angegangen werden sollen, müssen Interessen­vertreter in Erfahrung bringen, welche Themen als Erstes auf die Agenda kommen. Das gibt ihnen die Möglichkeit, mittel- bis langfristige Strategien zu erarbeiten, mithilfe derer sie die konkrete Umsetzung der einzelnen Initiativen aktiv und von Beginn an begleiten können. Darüber hinaus heißt es, zum gewohnten Arbeits­rhythmus zurückzukehren, erste Gesprächstermine zu vereinbaren und Veranstaltungskonzepte umzusetzen. Dabei gilt für die dann folgenden Monate und Jahre dasselbe wie während der Koalitionsverhandlungen: Auf gute Vorbereitung und das richtige Timing kommt es an.

Ausdauer und Hartnäckigkeit

Alle vier Jahre stellt eine Bundes­tagswahl das Highlight im Kalender der Berliner Politik­szene dar. Allen Beteiligten und Betroffenen verlangt das Ausdauer, Geduld, Kompromiss­bereitschaft und mitunter Hartnäckigkeit ab. Wer als Interessenvertreter nicht im Gewusel untergehen will, sollte die folgenden To-dos unbedingt angehen:
 
•    Vorbereitung ist alles
•    politische Prozesse kennen
•    wichtige Ansprechpartner identifizieren
•    das Unerwartete einplanen
•    die Zeit effektiv nutzen
•    zum gewohnten Arbeits­rhythmus zurückkehren

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 120 – Thema: Die ersten 100 Tage nach der Bundestagswahl. Das Heft können Sie hier bestellen.