Die zwei Parteitage der Alternative für Deutschland und der Partei Die Linke am letzten und am vorletzten Juni-Wochenende dieses Jahres geben ihnen zu Optimismus wenig Anlass. Von Aufbruch konnte weder in dem einen noch in dem anderen Fall die Rede sein. Bei beiden Parteien gab es vorübergehend nur eine Person im Amt des Vorsitzenden, da die Co-Vorsitzenden zurückgetreten waren: Jörg Meuthen (AfD) im Januar wegen der Radikalisierung der Partei, Susanne Hennig-Wellsow (Die Linke) im April, um den Weg für eine Erneuerung der Partei freizumachen. Während Meuthen die AfD danach verließ und bald der christlich geprägten Zentrumspartei beitrat, einer Splitterpartei, blieb Hennig-Wellsow ihrer politischen Kraft treu. Konnten sich die bisherigen Vorsitzenden Tino Chrupalla (AfD) und Janine Wissler (Die Linke) auf den Parteitagen bei der Wahl knapp behaupten, so schnitten die neuen Co-Vorsitzenden Alice Weidel (AfD) und Martin Schirdewan (Die Linke) besser ab.
Bei der AfD flammten auf dem Parteitag in Riesa die Streitigkeiten heftiger denn je auf. Mangelnde Geschlossenheit und Radikalisierung sind unübersehbar. In vielen Fragen setzten sich die radikalen Kräfte durch. Gewiss, die AfD ist angesichts personeller, ideologischer, strategischer und organisatorischer Defizite in einer schweren Krise. Aber wer meint, ihr baldiges Ende nahe, irrt. Das Stimmenergebnis der Partei hängt kaum vom Erscheinungsbild ab, das sie in der Öffentlichkeit abgibt. Sie verfügt zum einen nicht nur über zahlreiche Protestwähler, sondern mittlerweile auch über eine ausgeprägte Anhängerschaft.
Was ihr Reüssieren neben der Radikalisierung bremst: die Apostrophierung als rechtsextremer Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz. Am 8. März wies das Verwaltungsgericht Köln die Klage der AfD gegen ihre Hochstufung zum (rechtsextremistischen) Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz ab. Es gebe Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht für verfassungsfeindliche Bestrebungen bei der gesamten Partei. Manche Aussagen verletzten die „Menschenwürdegarantie“, Erklärungen der Partei etwa zum Volksverständnis seien dagegen weithin Lippenbekenntnisse, trotz eingeleiteter Parteiordnungsverfahren.
Die Werturteile des Verfassungsschutzes seien dagegen sachlich formuliert – die Beobachtung diene lediglich dazu, den Verdacht weiter abzuklären. Auch wenn die AfD gleich Widerspruch einlegte, bleibt eine Konsequenz: Gerade bürgerliche Mitglieder nehmen Abstand oder treten erst gar nicht der geächteten Partei bei. Nach außen fehlt es ihr damit an Salonfähigkeit. Eine Koalitionsoption der Partei ist ohnehin nicht im Ansatz zu erkennen.
Wagenknecht stiftet Unruhe
Beim Erfurter Parteitag blieb der Partei Die Linke eine derartige Zerreißprobe vorerst erspart. Aber dieser Umstand ändert nichts an dem desolaten Zustand der Partei. SPD und Grüne sind mittlerweile auf große Distanz zu ihr gegangen, obwohl die Partei in vier Ländern der jeweiligen Regierung angehört: in Thüringen, wo sie mit Bodo Ramelow seit 2014 sogar den Ministerpräsidenten stellt, in Berlin (seit 2016) und Mecklenburg-Vorpommern (seit 2021) und im westdeutschen Stadtstaat Bremen (seit 2019). Ohne dass deswegen die Kritik an der NATO abgemildert wurde, fand der Leitantrag, Putins Russland wegen des verbrecherischen Angriffs auf die Ukraine scharf zu verurteilen, eine deutliche Mehrheit.
Das Lager Sahra Wagenknechts erlitt damit in Personen- und Sachfragen eine klare Niederlage. Ihr Mann Oskar Lafontaine hatte Die Linke wenige Tage vor der saarländischen Landtagswahl im März 2022 verlassen. Wagenknecht lehnt mit starken Argumenten die Position einer „Lifestyle-Linken“ ab, etwa beim Gendern.
Auf der einen Seite propagiert die Ikone der Partei eine restriktive Einwanderungspolitik, auf der anderen Seite zeigt sie viel Verständnis für die russische Sichtweise. Wagenknecht hatte kurz vor dem Parteitag einen Aufruf „Für eine populäre Linke“ mit der Forderung nach einem „echten Politikwechsel“ lanciert. Sie sieht die Partei im Niedergang begriffen. Sarkastisch heißt es bei ihr: „Never change a losing team.“ Sie will ein Netzwerk organisieren, das Die Linke wieder nach vorne bringen soll. Mit ihrer 2018 ins Leben gerufenen Bewegung „Aufstehen“ war Wagenknecht allerdings schnell gescheitert.
Zwei Ostparteien
AfD und Die Linke sind vor allem im Osten stark. Bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr holte die AfD 20,5 Prozent in den neuen Bundesländern und nur 8,2 Prozent in den alten. Die Linke holte 10,4 Prozent im Osten und 3,7 Prozent im Westen. Im Osten sind aber nur 18 Prozent der Wähler beheimatet. Und im Westen bröckelt das Votum weiter: Die Linke verlor bei den drei Landtagswahlen in diesem Jahr jeweils mehr als die Hälfte ihres bisherigen Anteils. Die AfD ist zum ersten Mal nicht mehr in einem Landtag vertreten (Schleswig-Holstein) und schwächelt ebenso, freilich auf einem höheren Niveau. Hatte die Existenz der Großen Koalition die beiden Parteien nicht gestärkt, gilt Gleiches für die Coronapandemie und – jedenfalls bisher – für den Krieg gegen die Ukraine, bei dem die AfD noch stärker laviert als Die Linke. AfD und Die Linke sind stark antiwestlich orientiert. Die AfD will die EU verlassen, Die Linke die NATO.
Der Ausgangspunkt der Parteien ist ganz unterschiedlich: Die 2013 gegründete AfD hat sich im Vergleich zur Anfangszeit unter dem eurokritischen Bernd Lucke sowie später unter Frauke Petry und Jörg Meuthen radikalisiert. Die Zahl ihrer Mitglieder ist rückläufig (jetzt: 30.000), bei der Partei Die Linke stagniert sie (jetzt: 60.000). Die Tendenz zeigt bei beiden nach unten.
Allerdings hat sich Die Linke, entstanden aus der ostdeutschen Staatspartei, der SED, entradikalisiert. Viele der Mitglieder der beiden Parteien hadern mit demokratischen Prinzipien. Im Osten Deutschlands ist die AfD radikaler als im Westen. Bei den Postkommunisten läuft es umgekehrt. In den neuen Bundesländern gibt es keine Formen der Ausgrenzung, auch wenn der Verfassungsschutz einzelne Strömungen der Parteien in seinen Berichten aufführt. Insgesamt neigt die deutsche Gesellschaft aufgrund der Last der Geschichte dazu, eine Rechtspartei schärfer zu bewerten als eine Linkspartei.
Kritiker bemängeln die mangelnde Äquidistanz im Umgang mit den beiden Parteien. Das gilt für die Politik, die öffentliche Meinung und die Wissenschaft gleichermaßen. So kommt kaum zur Sprache, dass Janine Wissler lange führende Kraft des trotzkistischen Netzwerkes „marx21“ gewesen ist. Die dortige Mitgliedschaft gab sie erst nach der Übernahme des Parteivorsitzes 2021 auf.
Parteien der unteren Mittelschicht
In der Wählerschaft der beiden Parteien dominiert die untere Mittelschicht. Gleiches gilt auch für das Bildungsniveau. Wie die repräsentative Wahlstatistik für die Bundestagswahl 2021 belegt, war die AfD bei den Männern stark (13,0 zu 7,8 Prozent), Die Linke nur schwach überrepräsentiert (5,0 zu 4,8 Prozent). Komplizierter sieht es bei den Altersgruppen aus: In der jüngsten Altersgruppe, bei den 18- bis 24-Jährigen, schnitt Die Linke mit 7,8 Prozent doppelt so gut ab wie in der ältesten, bei den über 70-Jährigen (3,9 Prozent). Hingegen kam sie bei den 45- bis 59-Jährigen nur auf 4,1 Prozent. Den Jungen fehlt die Erinnerung an die SED-Diktatur, anders als den Alten. Die AfD weist in der jüngsten und der ältesten Altersgruppe mit 6,4 und 6,0 Prozent stark unterproportionale Ergebnisse auf. Das könnte daran liegen, weil hier die – tatsächliche oder wahrgenommene – Konkurrenz durch Migranten im Beruf keine Rolle spielt. Ihre Hochburgen hat die Partei bei den 35- bis 44-Jährigen (mit 14,1 Prozent).
Ein genauer Blick auf Ost und West nach Geschlecht wie nach Alter kann Einsichten vermitteln, etwa zur Frage nach möglicherweise gegenläufigen Entwicklungen. Die Linke hat in den neuen Bundesländern ihre Hochburg bei den ab 70-jährigen Wählern mit 13,3 Prozent, in den alten ist sie exakt in dieser Alterskategorie mit 1,6 Prozent extrem unterrepräsentiert. Wie ist das zu erklären? Während in den neuen Ländern Die Linke den älteren Bürgern vertraut ist, stößt sie im Westen, wo sie weitaus radikaler auftritt als im Osten, in der Gruppe der ab 70-Jährigen auf schroffe Ablehnung. Bei der AfD gibt es zwischen Ost und West keine gravierenden Differenzen.
Nutzen Repräsentationslücken?
Beide politischen Kräfte sind in einer existenziellen Krise. Sie büßten bei den vergangenen Landtagswahlen teils deutlich Stimmen ein. Bei der Bundestagswahl galt das ebenso. Ließen sich die Verluste für die AfD noch verschmerzen (sie ging von 12,6 auf 10,3 Prozent zurück), brach Die Linke mit 4,9 Prozent der Stimmen geradezu ein (zuvor: 9,2 Prozent). Sie vermochte nur wegen des Gewinns von drei Direktmandaten – zwei in Berlin, eines in Sachsen – in den Bundestag zu gelangen und so die Fünfprozenthürde umgehen.
Wer einen Vergleich zieht, muss die Perspektiven der AfD besser einschätzen. Sie dürfte politisch von den wirtschaftlichen und finanziellen Problemen profitieren, in die das Land durch den Krieg in der Ukraine gerät. Auch die schwarz-grünen Koalitionen auf Länderebene könnten für Zulauf sorgen. Der AfD nutzen Repräsentationslücken in der rechten Mitte. Diese fehlen in der linken Mitte.
Wenn jetzt im „heißen Herbst“ oder später im „Wutwinter“ wegen der drastisch gestiegenen Energiepreise aufgrund des Krieges von Russland gegen die Ukraine Montagsdemonstrationen stattfinden, dürfte die AfD an vorderer Front dabei sein. Bei der Partei Die Linke gehen die Meinungen auseinander. Die radikale Vorsitzende Janine Wissler unterstützt solche Demonstrationen, während der gemäßigte thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow davor warnt, an ihnen teilzunehmen. Im Fall der AfD tobt der Kampf zwischen Gemäßigten und Radikalen, im Fall der Partei Die Linke der zwischen „Soziallinken“ und „Kulturlinken“. Vielleicht steht hier sogar eine Abspaltung der Richtung um Sahra Wagenknecht an.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 140 – Thema: Anspruchsvoll. Das Heft können Sie hier bestellen.