Im Publikum des Wirtschaftstags, den der CDU-nahe Wirtschaftsrat im Mai veranstaltete, saßen nicht unbedingt Fans von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Trotzdem holte der verhinderte Kanzlerkandidat sich den einen oder anderen Applaus ab. Besonders viel Beifall gab es für seine Definition von politischer Führung: „Sie ist die Bereitschaft, Fehler zu machen“. Denn nur dann könne man erwarten, dass auch andere Verantwortung übernehmen.
Von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gibt es nicht viele ikonische Zitate. Seine Rhetorik ist darauf abgestellt, möglichst sperrige Wortwolken auszustoßen, auf die er später nicht festgenagelt werden kann. Das sichert seine Flexibilität. Aber auch von Scholz gibt es ein Leadership-Zitat. Derzeit wird es ihm vor allem um die Ohren gehauen. „Wer bei mir Führung bestellt, muss wissen, dass er sie dann auch bekommt“ ist dieser Satz. Bei Beobachtern und dem politischen Gegner – ja selbst bei Politikern der Ampel steht Scholz als Zögerer und Zauderer da. Das bezieht sich vor allem auf die Trippelschritte, die den Umgang des Kanzlers mit dem Ukrainekrieg bestimmen.
Der großen Ankündigung einer Zeitenwende im Februar folgten keine weiteren Verlautbarungen nach. Stattdessen folgte ein Gezerre um Waffenlieferungen und Begriffsschlachten darum, was schwere Waffen sind. Dazu kam die Posse, dass sich der Bundeskanzler bis zum Juni weigerte, nach Kiew zu reisen, um die Ausladung des Bundespräsidenten zu bestrafen. Am schwersten fällt aber wohl ins Gewicht, dass Olaf Scholz definiert hat, wie Deutschland seinen Weg gehen will – aber nicht, wohin.
Bei seinem Besuch des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr in Potsdam fasste Scholz sein Verständnis vom Führen so zusammen: „Es ist wichtig, kühlen Kopf zu bewahren, klar und entschlossen zu sein und vorsichtig zu bleiben.“ Auch die Prinzipien, nach denen er seine Ukraine-Politik ausrichtet, hat der Kanzler klar benannt: keine deutschen Alleingänge, die Nato aus dem Krieg heraushalten, verteidigungsfähig bleiben und nichts unternehmen, was Deutschland mehr Schaden zufügt als Russland. Diese Mantras sind sehr eindeutig und Scholz hält sich eisern daran. Was aber folgt daraus konkret?
Hierüber schweigt Scholz oder bleibt beharrlich im Ungefähren – zumindest in der Öffentlichkeit. Hier möchte der Kanzler nur Ergebnisse vorstellen, keine Absichten oder Zwischenstände. Den Druck bis dahin gilt es auszuhalten, danach wird dieser ohnehin vergessen. Dieses Rezept mag bisher aufgegangen sein. Allerdings stimmen viele Theorien in der Politik nur so lange, bis sie nicht mehr stimmen. Wer erinnert sich nicht an die Erzählung, Armin Laschet sei in seiner politischen Karriere noch aus jedem aussichtslosen Wettkampf als knapper Sieger hervorgegangen? Auch in kriegerischen Zeitenwenden könnte Scholz‘ Standhaftigkeit sich auszahlen – oder schief gehen.
In die Regierungskoalition hinein kommuniziert der Kanzler viel, sagen zwei, die die SPD-Spitze lange begleitet haben und ihr nach wie vor beratend zur Seite stehen. „Er spricht mit dem Kabinett, im Koalitionsausschuss, mit der SPD-Parteispitze, mit der Bundestagsfraktion, auch mit dem Bundespräsidenten“, sagen sie. Als besonderen Erfolg dieser Strategie werten sie, dass die SPD-Fraktion viele Maßnahmen mittrage, die alten Überzeugungen krass zuwiderlaufe. Die lauten Bauchschmerzen über deutsche Ausrüstung und Sanktionen gegen Russland, die Fraktionschef Rolf Mützenich immer wieder in die Öffentlichkeit trägt, dürften nicht darüber hinwegtäuschen, dass er die Fraktion stabil auf dem Kurs des Kanzlers halte.
Das Lob für Scholz aus der Wirtschaft ist leiser. Das liegt aber nicht daran, dass man unzufrieden ist. Von Interessenvertretern hört man in Berlin, viele Unternehmen seien froh über den vorsichtigen Kurs des Kanzlers. Es sei niemandem gedient, wenn sich die Bundesregierung in übereilte Entscheidungen treiben lasse, die womöglich der Ukraine nicht helfen, aber Deutschland schwer schadeten. Besonders laut sagen sie das aber nicht. Offenbar wollen sie Scholz keinen Bärendienst erweisen. Wirtschaftsforderungen wird nicht erst seit Corona unterstellt, Geld gegen Leben aufzurechnen. Deshalb begnügen sich Wirtschaftsvertreter damit, dem Kanzler hinter den Kulissen das Vertrauen auszusprechen.
International gibt es zwar Misstöne, vor allem aus Osteuropa. Deutschland und Frankreich aber bewegen sich in ähnlicher Geschwindigkeit, angefangen von zurückhaltenden Positionen zu Waffenlieferungen bis zum schonenden Umgang mit Wladimir Putin. Allerdings scherte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron jetzt aus und bekannte sich wie US-Präsident Joe Biden ausdrücklich dazu, der Ukraine den „Sieg“ zu wünschen. Davor schreckt Olaf Scholz noch immer zurück.
Überführung?
Im engeren Zirkel der Macht läuft es geräuscharm. Die Koalition scheint stabil. Scholz und sein langjähriger Wegbegleiter und Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt stimmen sich eng mit den Ministerien der Bundesregierung ab. In Hamburg erzählt man sich, Scholz habe sich als Erster Bürgermeister bis tief in die Nacht durch Kleine Anfragen gefressen. Fachsenatoren mussten sich anschließend unangenehmen Fragen stellen, wenn sie dort etwas übersehen hatten. Seine abwartende Art werde oft als Zaudern missverstanden. In Wahrheit verfolge Scholz unbeirrbar eine Politik, die er für richtig halte. Das sind Lob und Kritik zugleich. Zudem lässt Scholz seinen Koalitionspartnern ihre Vorhaben – auch wenn seine Behörde bei gut laufenden Projekten natürlich den gemeinsamen Pressetermin nicht vergisst.
Aber gibt es bei enger Führung auch zu viel des Guten? Ein leitender Mitarbeiter eines Ministers der letzten Bundesregierung mahnt, dass zu viel Steuerung aus dem Kanzleramt Strukturen in den Ministerien zerstören kann – oder verhindert, dass sie sich überhaupt herausbilden. „Wie soll sich eine effektive Verwaltung einspielen, wenn aus dem Kanzleramt ständig Entscheidungen umgeworfen oder neu bestimmt werden“, fragt er. Außerdem gibt er zu bedenken, der Kanzler übernehme sich, wenn er bis in kleinste Details hineinregiere. Auf Bundesebene sei das auf Dauer kaum durchzuhalten. Dazu komme, dass zu viele Eingriffe von außen in die einzelnen Ministerien dort nicht unbedingt gut ankämen. „Das wird als Misstrauen und Arroganz verstanden“, sagt er.
Beißreflexe
Die harte Sicht auf Scholz, den Zauderer, wird natürlich von der Opposition gepflegt. CDU-Chef Friedrich Merz kann den Kanzler nicht immer stellen. Als Oppositionsführer hat er aber Möglichkeiten, Themen auf die Agenda zu setzen, über die Scholz lieber nicht spricht. Das fällt dann auf. Aber auch der Berliner Politikjournalismus verliert die Geduld mit dem Kanzler, teils mit schrillen Tönen. Die Bürger urteilen laut Umfragen milder über ihn, schicken dafür aber seine Partei wieder in den Sinkflug.
Ein Grund für den Unwillen der Hauptstadtjournalisten gegenüber dem Bundeskanzler liegt sicherlich in der Art seiner Kommunikation. Die Reaktion vieler Bürger auf Politikersprech ist es, ab- und auszuschalten. Journalisten können das schon von Berufs wegen nicht. Jeder Auftritt des Bundeskanzlers ist ein relevanter Vorgang, der begleitet werden muss. Oftmals erleben die Journalisten die Frustration darüber, wie Scholz mit vielen Worten wenig sagt – oder seine Worte und seine Taten weit auseinanderklaffen. Das fühlt sich an, als müsste man jede Woche auf eine Wohnungsbesichtigung, wo ein Immobilienmakler eine baufällige, dunkle Besenkammer im Außenbezirk als gemütlichen, heimeligen Raum für Kreativität nah an der Natur anpreist. Journalisten ordnen nicht nur ein und recherchieren, sie sind auch nur Menschen. Einige fühlen sich verschaukelt.
Die zwei SPD-Männer sehen hier Luft nach oben. Die Regierungssprecher könnten Journalisten die Lage in Hintergrundgesprächen noch besser erklären und für Scholz‘ Kurs werben, sagen sie. Einer, der Scholz gut kennt, findet, Scholz und sein Team hielten mitunter Pressefeuer aus, das es gar nicht geben müsste. Manche Streitereien, etwa um Formulierungen, könne man auch vermeiden. „Scholz hat die wesentlichen Punkte alle im Blick“, sagt er. „Aber auch Akzeptanz ist eine machtpolitische Realität. Das darf man nicht aus den Augen verlieren.“
Der weinende Dritte
Die Regierungsführung des Kanzlers erinnert an seine Vorgängerin Angela Merkel (CDU). Sie schwebte fast parteilos über den Dingen, während sich die Union, „die Partei, der ich nahe stehe“ (Merkel), und der Koalitionspartner SPD in der Ebene beharkten. Davon profitierte sie persönlich, ihre Partei immerhin mittelbar. Wenn zwei sich streiten, freut sich die Dritte. Bei drei Koalitionspartnern gingen viele davon aus, dass es zwischen Grünen und FDP ordentlich knirscht. Die sondierten vorab in einer Zitrus-Konstellation, um den künftigen Koalitionspartner – egal ob Union oder SPD – nicht in die Rolle des lachenden Dritten schlüpfen zu lassen. Bei vielen Streitpunkten war aber klar, dass das nicht so einfach funktionieren würde.
Die SPD kann jetzt dennoch nicht den ehrlichen Makler spielen. Das liegt vor allem an der Ausnahmesituation Krieg. Er legt den Parteien auf, klare Standpunkte zu vertreten: Beim Umgang mit Russland und Waffenlieferungen wird eine klare Haltung gefordert. Prominente Köpfe der SPD liegen bei diesen Fragen auseinander. Eine klare Ansage aus dem Kanzleramt könnte diesem Eindruck entgegenwirken. Allein: Sie kommt nicht. Die diskrete Arbeit an langen Linien aber passt nicht in diese Zeit. Kann oder will Scholz das nicht ändern?
Klar ist: Es werden andere Herausforderungen kommen. Themen, bei denen sich Grüne und FDP nicht so einig sind wie jetzt in der Außenpolitik. Bis zur nächsten Bundestagswahl sind es ja noch einige Jahre. Die Erzählung, dass Olaf Scholz beharrlich seinen Weg geht, um am Ende doch als erster im Ziel zu sein: sie könnte ein weiteres Mal wahr werden – oder eben nicht.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 139 – Thema: Politische Events. Das Heft können Sie hier bestellen.