In der Not müssen Parteien ihre Grundüberzeugungen prüfen

Politik

Das ändert alles“ ist normalerweise nur ein Spruch. Wenn sich die Umstände derart verändern, dass man nicht mehr auf denselben Wegen weiterwandeln kann wie bisher, dann sagt man sowas. Auf die derzeitige Situation trifft das zu. Wenn die Zeitenwende nicht schon im Februar stattgefunden hat, so vollzieht sie sich sicher derzeit vor unseren Augen. Viele Krisen treffen da zusammen: die auslaufende Corona-Pandemie, deren Nachwehen uns in Form des chinesischen Lockdowns und den daraus entstehenden Lieferengpässen noch immer drücken. Der Ukraine-Krieg, auf dessen schnelles Ende wir wohl nicht hoffen dürfen. Die Energieversorgung, die infolge dessen nicht nur teurer, sondern aktuell auch unsicherer wird. Die Inflation, die uns still beraubt.

Die Menschen spüren, dass alles anders ist – natürlich. Wie schon die Corona-Pandemie sind auch diese Krisen mit den Händen zu greifen und treten in unseren Alltag ein. Zuallererst im Supermarkt und für viele auch auf der Nebenkostenabrechnung. Die Politik hat das verstanden und allerlei Maßnahmen erlassen, um die Folgen der Krisen für die Bürger abzumildern. Dennoch brechen die Zustimmungswerte der Regierungsparteien ein. Die SPD und die FDP verlieren eine Landtagswahl nach der anderen. Die Grünen sind erst seit Kurzem auf dem absteigenden Ast. Was ist passiert?

Es scheint, als trage jede der Ampelparteien einen Rucksack, mit dem sie nicht so recht klarkommt. Oft berührt das fundamentale Überzeugungen, die das Selbstbild einer Partei geprägt haben. Wenn neue Weltlagen diagnostiziert werden, so scheint es, ist es ein bitterer Fehler, hierzu eine alte Schallplatte aufzulegen.

Bei der SPD ist diese offenkundig das Verhältnis zu Russland und die Sehnsucht, mit einem pragmatischen Verhältnis zum Riesenreich außenpolitische Reife herauszustellen. Die CDU mag in Teilen und historisch dasselbe Problem haben, zu ihrem Glück ist sie derzeit aber nicht in Verantwortung. Zudem winden sich bei den Sozialdemokraten die Regierungsmitglieder und die Parteispitzen in ähnlichem Takt, auch wenn Michael Roth querschießt.

Das könnte kalter Kaffee sein. Allerdings halten ihn Parteivertreter wie Ralf Stegner und die Berichterstattung über Spenden des russischen Honorkonsulats an die niedersächsische SPD noch warm. Natürlich haben die Sozialdemokraten versucht, dieses Bild zu korrigieren. Kanzler Olaf Scholz hat der Ukraine den Sieg im Krieg gewünscht und Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil gefordert, die Ostseepipeline „Nord Stream 2“ niemals in Betrieb zu nehmen. Dies und mehr – alles zu spät.

Offenbar reicht es in Zeitenwenden nicht mehr, das Richtige zu tun. Es ist entscheidend wie nie, den richtigen Zeitpunkt dafür nicht zu verpassen. Die Wähler haben diese Salamitaktik in den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen bestraft. In Umfragen ist die Kanzlerpartei SPD mittlerweile wieder unter 20 Prozent gerutscht.

Ein Ende ist nicht in Sicht. Denn die längste Salami der SPD sind die Waffenlieferungen in die Ukraine. Unlängst kündigte Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht an, 50 gepanzerte Fahrzeuge des Typs Dingo sowie zwei Mehrfachraketenwerfer Mars an die Ukraine zu liefern.

Die ukrainischen Truppen werden auch diese Lieferung gut gebrauchen können. Es ist aber kein Geheimnis, dass die Ukraine sich schwerere Waffen gewünscht hätte. Wie seit Monaten. Soeben hat sie eine erfolgreiche Gegenoffensive gestartet. Nun möchte sie das Momentum für weitere Vorstöße nutzen und braucht dafür auch moderne Kampfpanzer.

Um der Ukraine aber ja keine zu schweren Waffen zu liefern, bemühen die Sozialdemokrat seit Monaten Argumente, die niemanden so recht überzeugen. Es hieß, man wolle Russlands rote Linien nicht übertreten, um keinen Atomkrieg zu riskieren. Den Punkt, wo man diese roten Linien anfangs vermutet hat, hat Deutschland aber mit den bisherigen Lieferungen wohl mehrfach übertreten. Dass die Regierung auch dazu oft gedrängt werden musste, macht nichts besser. Die Auslieferungsanträge für ausgemusterte Panzer bearbeitet die Bundesregierung einfach nicht.

Nicht einmal das Credo von Kanzler Scholz und Verteidigungsministerin Lambrecht, aus Rücksicht auf Verbündete könne es keine deutschen Alleingänge geben, schien wasserdicht. Zuerst befanden Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Litauerns Außenminister Gabrielius Landsbergis eine Aufrüstung der Ukraine wichtiger als volle Waffendepots. Dann sagte die neue US-Botschafterin Amy Gutmann im „ZDF“: „So sehr ich die deutschen Bestrebungen begrüße und bewundere, besonders die Zeitenwende von Olaf Scholz: Meine Erwartungen an Deutschland und die USA sind noch höher.“ Der Twitteraccount der US-Botschaft präzisierte: „Die Entscheidung über die Art der Hilfen liegt letztlich bei jedem Land selbst.“ Die in Washington lebende Sicherheitsexpertin Constanze Stelzenmüller übersetzte in einem „ZDF“-Interview: „Die Devise aus Washington ist schlicht und ergreifend die: ‚Sagt nicht, dass ihr nicht könnt, wenn ihr nicht wollt.‘“

Über den Umgang mit dem Krieg sind sich die Deutschen keineswegs einig. In einer Civey-Umfrage Mitte September befürworteten 52 der Befragten Panzerlieferungen an die Ukraine und 40 Prozent lehnten sie ab. Wenn die Abstrafung der SPD etwas damit zu tun hat, dann müsste nicht zwangsläufig ihre Position dafür verantwortlich sein, sondern auch, dass ihre Argumente nie aufrichtig wirkten. Rote Linien wurden übertreten, logistische Argumente schienen konstruiert und dann hat man sich noch hinter anderen versteckt. Um von der Öffentlichkeit dafür bestraft zu werden, muss die SPD gar keine echten Sympathien für Russland haben, von denen sie angesichts einer neuen Weltlage partout nicht lassen will. Es muss nur so aussehen.

Eine Zumutung zu viel für die Grünen?

Was den Sozialdemokraten schwer fällt, gelang den Grünen anfangs scheinbar mühelos. Sie forderten sofort eine bedingungslose Unterstützung für die Ukraine und brachen damit mit der pazifistischen Überzeugung, man dürfe keine Waffen in Krisengebiete liefern. Ihnen war wie den meisten Menschen klar, dass sich die Umstände geändert und Koordinaten grundlegend verschoben hatten.

Diese pragmatische Hemdsärmeligkeit von Annalena Baerbock und ihrer Partei wurde von den Wählern goutiert. Sie schickten die Grünen in zwei Landtagswahlen auf die Regierungsbank und in Umfragen auf einen Höhenflug, in dem sie die SPD weit überflügelten. Natürlich kam für die Grünen begünstigend hinzu, dass ihre vermeintlich idealistische, wertegeleitete Außenpolitik, die immer eine harte Distanz zu Russland empfohlen hatte, sich als gar nicht idealistisch entpuppte – sie war in Wahrheit realistisch. Die Grünen haben mit ihrer Skepsis schlicht recht gehabt.

Dieser Höhenflug scheint vorerst gestoppt. In einer neuerlichen Insa-Umfrage für „Bild am Sonntag“ warfen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck 49 Prozent der Befragten vor, einen schlechten Job zu machen – gegenüber 26 Prozent im Juni. Die Grünen sackten im Politbaromenter um minus sieben Prozent in der politischen Stimmung und minus drei Prozent in der Wahlumfrage ab. Was war passiert?

Deutschland befindet sich infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine in einer Energiekrise. Um herauszufinden, ob Deutschland auch unter maximal verschärften Bedingungen ohne russisches Gas und Atomstrom durch den Winter käme, gab Habecks Haus Stresstests in Auftrag. Das Ergebnis: Stromausfälle im Winter seien zwar unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen. Habeck plant deshalb, zwei Kernkraftwerke als „Einsatzreserve“ kalt zu fahren und nur zuzuschalten, wenn sich gravierende Energieengpässe abzeichnen. Die Strompreise steigen, Stromausfälle sind möglich – und der grüne Wirtschaftsminister weigert sich, den Atomausstieg aufzuschieben. Das Bild der unideologischen Verantwortungsträger bröckelt.

Auch hier wirken viele Argumente nicht falsch, aber der Notlage unangemessen. CO2-neutrale Kernkraftwerke müssen vom Netz, dafür wird wieder schmutzige Kohle verfeuert. Französische AKW dienen der Abschreckung, sind aber in den Stresstest-Szenarios fest eingepreist. Besonders verunsichert es, wenn Experten widersprechen. Die Wirtschaftsweise Monika Grimm mahnte mit Blick auf die deutschen CO2-Preise, es sei gut, „um diese Effekte abzufedern, die Kernkraft noch ungefähr fünf Jahre laufen zu lassen.“ Der Ökonom Clemens Fuest bezeichnete den Atomaustieg „mitten in einer gewaltigen Stromkrise“ gar als „völlig verrückt und europäisch extrem unsolidarisch“.

Wenn Kritiker der grünen Unbeweglichkeit dann noch raunen, das könne an der Landtagswahl am 9. Oktober in Niedersachsen und dem Parteitag der Grünen Mitte Oktober in Bonn liegen, ist es wieder zurück: Das Bild der ideologischen, mit sich selbst beschäftigten Ökopartei – mitten in einer Ausnahmesituation. Das erstaunt insofern, als die Partei bereits davon profitiert hat, über ihren Schatten zu springen. Offenbar hat sie die falschen Schlüsse daraus gezogen.

Schulden und Schuld

Vor einer verzwickten Lage steht die FDP. Mehrere Debakel in Landtagswahlen und ein Umfragesturzflug seit der Regierungsbeteiligung setzen die Liberalen unter Druck. Bei der Bundestagswahl vor knapp einem Jahr holte die Partei mit 11,5 Prozent das zweitbeste Ergebnis seit 1961. Heute dümpeln die Freien Demokraten zwischen sieben und acht Prozent herum. Im Beliebtheitsranking der Regierungspolitiker ist Parteichef und Finanzminister Christian Lindner auf den achten Platz abgerutscht. Bange schaut die FDP auf die anstehende Landtagswahl in Niedersachsen.

Die FDP steht vor dem grundsätzlichen Problem, dass die gelben Ministerien in Zeiten der Staatskrise keinen Platz für große Würfe bieten. Auf dem großen Parkett ist meist nur Platz für Finanzminister Lindner: als Spielverderber für teure Programme, mit denen Sozialdemokraten und Grüne ihre Klientel stützen wollen. Immerhin die Schuldenbremse will Lindner nun halten. Dafür hat er sich schließlich das Finanzministerium gesichert: um das bürgerliche Korrektiv einer linken Regierung zu sein.

Gleichzeitig hatte Lindner bei der Kabinettsklausur in Meseberg aber ein „wuchtiges“ Entlastungspaket angekündigt, mit dem die hohen Preise für Lebensmittel und Energie abgefedert werden sollten. Nicht nur bürgerlich-­liberale Wechselwähler fragen sich, wie das zusammenpassen soll. Auch hier wird zum Problem, dass alte Argumente nicht in außergewöhnliche Zeiten passen: Wenn Deutschland in einer Zeitenwende begriffen ist – und das noch mehr noch, als das im Februar absehbar war, als Kanzler Scholz sie im Parlament diagnostizierte – müssen große Kraftanstrengungen unternommen werden, um die damit verbundenen Herausforderungen zu wuppen. Ähnlich wie bei Corona gilt, dass dafür Geld in die Hand genommen werden muss. Natürlich leuchtet das Argument der Generationengerechtigkeit ein. Heutige Generationen sollten keine Schulden machen und dann künftigen Generationen aufbürden. Mit demselben Schlagwort ist es aber auch nicht zu verantworten, folgenden Generationen einen Staat mit einer verheerten Wirtschaft und einen (mindestens) deutlich ungemütlicheren Planeten zu überlassen.

Gibt es ein Richtig und ein Falsch? Selbst aus historischer Sicht dürfte darüber künftig gestritten werden. Immerhin sehen wir heute, dass es in Notlagen nicht ausreicht, Althergebrachtes durchzutragen. Ein guter Plan passt manchmal schlecht in schwierige Zeiten. Da kann es helfen, in der Sache beherzt und öffentlichkeitswirksam umzufallen. Nicht zuletzt die Menschen, die die Politik führen muss, sehen dann: Da meint es jemand ernst. Das schafft Vertrauen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 140 – Thema: Anspruchsvoll. Das Heft können Sie hier bestellen.