Welche Aufgaben nach der Bundestagswahl vor den Parteien liegen

Politik

Wer hätte das gedacht! Nach der Bundestagswahl 2017 schien der Vorsprung der Union uneinholbar zu sein. Bei den Meinungsumfragen hatte sie zeitweilig einen Stimmenanteil, der über dem der SPD und der Grünen zusammen lag. Die SPD schwächelte, die Grünen lagen an zweiter Stelle. Fast alle Wahlbeobachter rechneten mit einer schwarz-grünen Bundesregierung. Als sowohl die Stimmung für die Union als auch für ein Bündnis mit den Bündnisgrünen nachließ, prophezeiten viele Auguren eine Jamaikakoalition (Schwarz-Grün-Gelb). Im Laufe des Wahlkampfs zog jedoch die SPD unter ihrem Spitzenkandidaten Olaf Scholz an den Grünen vorbei – diese rutschten nach einem kurzen Höhenflug mit ihrer Spitzenkandidatin Annalena Baerbock in der Gunst der Bürger immer mehr ab. Gleiches galt in der Endphase für die Union. Deren Spitzenkandidat Armin Laschet, der zunächst den Kampf um den CDU-Vorsitz gegen Friedrich Merz gewinnen musste und dann den um die Kanzlerkandidatur gegen Markus Söder, kam bei der Bevölkerung nicht gut an. Zudem gab er sich manche Blöße – man denke nur an sein Lachen bei einer Rede des Bundespräsidenten im Hochwassergebiet. In den letzten Wochen vor der Wahl zog die SPD nicht zuletzt deswegen an der Union vorbei.

Es lag in in der Natur der Sache, dass die drei Sieger SPD (Plus von 5,2 Punkten), Grüne (Plus von 5,9 Punkten) und FDP (Plus von 0,8 Punkten) eine Koalition bilden. Union (Minus von 8,9 Punkten), AfD (Minus von 2,3 Punkten) und Die Linke (Minus von 4,3 Punkten) bilden eine heterogene Opposition. Besonders bitter ist der Wahlausgang für den Spitzenkandidaten der Union. Armin Laschet wurde weder Kanzler noch Vizekanzler noch Fraktionsvorsitzender. Aber nicht nur das: Er ist nicht mehr nordrhein-westfälischer Ministerpräsident und bald auch nicht mehr Parteivorsitzender. Die bisherigen Wahlverlierer der großen Parteien avancierten entweder zu Fraktionsvorsitzenden im Bund (z. B. Helmut Kohl 1990; Rudolf Scharping 1994) oder behielten ihre Ämter als Ministerpräsident (z. B. Oskar Lafontaine 1990; Edmund Stoiber 2002).

Den Parteien blieb nach dem Wahlausgang ein erbitterter Streit erspart. Hätte die Union vor der SPD gelegen und Die Linke deutlich besser abgeschnitten, wären zwei ganz unterschiedliche Bündnisse infrage gekommen: entweder Schwarz-Grün-Gelb oder Rot-Grün-Rot. Das Zünglein an der Waage in beiden Fällen: die Grünen! Dieser Kelch ist an ihnen vorübergegangen, denn demokratietheoretisch wäre das kaum zu rechtfertigen gewesen: Die Regierungsbildung wäre ohne den Willen des Wählers vonstattengegangen und nur von den Grünen abhängig gewesen. Eine ähnliche Situation hatte schon 2017 bei der Basisabstimmung der SPD über eine Große Koalition für Ärger gesorgt.

Ursachen für den Wahlausgang

Olaf Scholz war mit weitem Abstand der populärste Kandidat. Im Gegensatz zu seinen Konkurrenten wurde er mehr als ein Jahr vor der Wahl nominiert. Scholz gerierte sich als männliche Merkel – selbst die Raute fehlte nicht. Aus der Not wurde eine Tugend gemacht. Sein mangelndes Charisma galt als Zeichen staatsmännischer Sachlichkeit. 2019 beim Kampf um den SPD-Vorsitz unterlegen, praktizierte er faktisch einen Wahlkampf ohne Partei und verkörperte beides: die Sehnsucht nach einer gewissen Wechselstimmung wie die nach Kontinuität.

Den Aufschwung verdankte die SPD nicht nur – ja nicht einmal in erster Linie – ihrem Spitzenkandidaten, sondern auch den Konkurrenten. Wegen der mittlerweile eher schwachen Parteiidentifikation der Bürger spielte Personalisierung im Wahlkampf eine dominante Rolle, es zählte das Gesicht der Spitzenkandidaten. Annalena Baerbock war – verständlich angesichts des Lebensweges ausschließlich im Parteiumfeld – vielfach unzureichende Kompetenz anzumerken. Armin Laschet zeigte sich in akuten Krisen (Corona, Flut) nicht stets von seiner besten Seite.

Im Nachhinein erwies sich die Niederlage von Scholz bei der Wahl des Parteivorsitzes als Gewinn: Auf diese Weise wurde der starke linke Flügel eingebunden. Parteiinterne Querschüsse wie bei den Wahlen 2009, 2013 und 2017 blieben aus. Die Riege der dezidierten Linkspolitiker um Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und Kevin Kühnert hielt still, fiel Scholz nicht in den Rücken. Das war professionell!

Bei der Union ist nicht nur Laschet für das verheerende Ergebnis verantwortlich zu machen, sondern auch Wolfgang Schäuble, Markus Söder und – last, not least – Angela Merkel. Schäuble deshalb, weil er sich derart massiv für Laschet ins Zeug gelegt hatte, um einen möglicherweise erfolgreicheren Kandidaten der CSU zu verhindern; Söder, weil dieser im Wahlkampf das eine oder andere Mal Spitzen gegen Laschet setzte; Merkel, weil sie Laschet kaum unterstützte. Das war unprofessionell.

Deutsche Bruchlinien

Ins Auge springt das krass unterschiedliche Wahlverhalten in den neuen und den alten Ländern (vgl. die Tabelle) – und das mehr als 30 Jahre nach der deutschen Einheit. Die weitaus höhere Volatilität im Osten fußt auf der dort deutlich geringeren Parteiidentifikation. Es gibt neben der Ost-West-Diskrepanz auch ein Nord-Süd-Gefälle. Nur in den südlichen Ländern des Westens (Baden-Württemberg, Bayern – Siege für CDU und CSU) und des Ostens (Sachsen, Thüringen – Siege für die AfD) avancierte die SPD nicht zur stärksten Kraft.

Union und SPD sind im Osten weiterhin unterrepräsentiert. Bei der SPD hat sich das Wahlverhalten etwas angeglichen, bei der Union auseinanderentwickelt. Die Unterrepräsentation der Grünen und der Liberalen in den neuen Bundesländern ist wesentlich strukturell begründet. Die sozioökonomische Dimension äußert sich in einem schwächer ausgeprägten Mittelstand. Die soziokulturelle Dimension liegt in einem schwächer ausgeprägten Postmaterialismus. Auch die moderate Kritik an der Corona-Politik der Bundesregierung mag zum Erfolg der FDP im stärker impfskeptischen Osten beigetragen haben. Kurz: Das Bürgertum ist in den neuen Ländern weniger stark vertreten, bedingt durch die Zeit vor 1990 wie danach.

Hingegen schneiden Die Linke und die AfD in den neuen Bundesländern deutlich besser als in den alten ab. Bei der AfD kommen auf einen Wähler im Westen 2,5 im Osten; bei der Partei Die Linke ist die Diskrepanz noch höher: 1:2,8! Die Ursache hierfür liegt zum einen in der Zeit vor 1990, zum anderen in der Zeit nach der deutschen Einheit. Bei beiden Parteien vertiefte sich die Kluft in der Wählergunst zwischen dem Osten und dem Westen. Aus der einstigen linken Protestpartei ist im Osten eine vielfach akzeptierte “Mitmach”-Partei geworden, aus der AfD eine “Dagegen”-Partei.

Wie geht es weiter?

Die Perspektiven der Parteien fallen nach der Bundestagswahl höchst unterschiedlich aus. Was nicht verwundert: Die Gewinner stehen besser da als die Verlierer. Allerdings ist es nicht ganz einfach, die Interessen der drei Regierungsparteien unter einen Hut zu bringen. Es geht schließlich nicht um ein lagerinternes Bündnis. Die Fraktionen von SPD und Grünen sind stark gewachsen. Die meisten Neuen sind dem linken Flügel zuzurechnen, was für die Parteispitzen noch zum Problem werden könnte. Wie die vergleichsweise knappe Zeitdauer der Koalitionsverhandlungen etwa im Vergleich zum Drama 2017/18 erhellt, wissen die Koalitionspartner: Sie sind zum Erfolg verdammt, auch angesichts gravierender innen- und außenpolitischer Probleme. Die FDP verfügt gegenüber der SPD und den Grünen über ein gewisses Drohpotenzial, denn diese benötigen eine dritte Kraft aus dem “bürgerlichen” Lager.

Die beiden Randparteien stehen schlechter denn je da: AfD und Die Linke sind zerstritten. Es gibt Misshelligkeiten zwischen Hardlinern und Gemäßigten ebenso wie solche zwischen Ost und West. Politische und personelle Konflikte vermischen sich. Die beiden bekanntesten Gesichter sind in ihren Parteien nicht wohlgelitten: Sahra Wagenknecht ist isoliert in der Partei Die Linke, weil sie in vielen Fällen (Migration, Corona, Europa) Positionen verficht, die der größte Teil ihrer Partei nicht teilt. Jörg Meuthen gab kürzlich bekannt, nicht wieder für das Amt des AfD-Parteivorsitzenden zu kandidieren. Ein Gemäßigter wie er ist in der sich radikalisierenden Partei offenkundig nicht mehr mehrheitsfähig. Beiden Parteien fehlen überzeugende Spitzenkandidaten, die Brücken zwischen den Lagern bauen können.

Die Union ist in keiner beneidenswerten Lage. Sie muss mit diesen Parteien in der Opposition agieren – und dabei opponieren gegen die Regierung, aber erst recht auch gegen die übrige Opposition von den Flügeln. Mit 24,1 Prozent erlitt sie ein katastrophales Wahlergebnis. Das nahezu Unvermeidliche: Danach brachen Flügelkämpfe aus, zumal Angela Merkel die Politik verlässt.

Selbst schuld

Zum einen muss die CDU ihren inneren Kompass bestimmen. Im Rennen um den Parteivorsitz spricht vieles für einen Sieg von Friedrich Merz im dritten Anlauf gegen Helge Braun und Norbert Röttgen, schon deshalb,weil diesmal die Mitglieder abstimmen und nicht die Delegierten wie 2018 und 2021. Für viele, die in Merz einen Anti-Merkel sehen, ist er eine Art Projektionsfläche für klare Worte und stärkeren Konservatismus. Innerparteiliche Gegner sehen in ihm keinen integrationsfähigen Mannschaftsspieler. Fraglich ist auch, ob er mit 66 Jahren ein Mann der Zukunft oder einer des
Übergangs ist. Wie auch immer: Ein “Weiter so” darf und wird es nicht geben. Besser als die CDU steht die CSU da, kann diese doch bei der bayerischen Landtagswahl 2023 einen Wahlkampf gegen die drei Parteien der Bundesregierung führen.

Zum andern ist die Union im Parteiensystem des Bundes nun isoliert. Eine Art Koalition in der Opposition mit den anderen beiden Oppositionskräften verbietet sich. Und was der Union mit den Grünen nicht gelungen ist (diese Partei aus dem linken Lager auf die eigene Seite zu ziehen), hat die SPD mit den Liberalen geschafft. Die Situation erinnert an 1969. Für die Union, nicht für die parlamentarische Demokratie, wäre ein rot-grün-rotes Bündnis besser gewesen. Aber sie hat sich ihr Debakel selbst zuzuschreiben.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 137 – Thema: Die neue Mitte?. Das Heft können Sie hier bestellen.