Wenn etwas komplex ist, sollte die Politik das aussprechen

Kommunikation

Viel liest man von der Krise des demokratischen Parlamentarismus. Wichtigstes Indiz für dessen Niedergang, so ein verbreitetes Narrativ, ist das Erstarken des linken und rechten Populismus. Dieser gibt simple Antworten auf immer schwierigere Fragen und entspricht damit dem Wunsch vieler Wähler und Wählerinnen nach Einfachheit und Klarheit.
Und in der Tat: Politikerinnen und Politiker in parlamentarischen Demokratien sind zunehmend überfordert, einer demokratischen Pflicht nachzukommen, die für Autokraten oder Gotteskrieger bequemerweise seit jeher nicht gilt: politische Zusammenhänge in einer zunehmend komplexen Welt nachvollziehbar und glaubhaft zu erläutern. Anders ausgedrückt: Was in Ministerien und Behörden entschieden wird, ist für Bürgerinnen und Bürger meist unverständlich. Und jene, die das Volk in Parlamenten und Regierungen vertreten, sind kaum mehr in der Lage, dieses Verständnis wieder ­herzustellen.
Daher überrascht es nicht, dass die zunehmende Komplexität der Welt und die generell abnehmende Aufmerksamkeitsspanne in starkem Kontrast zueinander stehen. Die Krankenhausreform in einem 15-Sekunden-­Statement und ein wichtiges Raketenabwehrsystem für Deutschland in einer 280-Zeichen-Nachricht zu erklären, ist kaum ­möglich.
Der Münchner Soziologe Armin Nassehi, Autor des 2015 erschienenen Buches „Die letzte Stunde der Wahrheit“, beschreibt zwei einfache Muster, mit denen Politik auf Komplexität reagiert. Sie verhindert einen aufgeklärten Diskurs durch eindimensionales Denken und Kommunizieren. Das geschieht entweder durch einfache Lösungen oder durch moralische Appelle. Nassehi stellt fest, dass politische Botschaften, unabhängig davon, ob sie links oder konservativ sind, der Komplexität der Gesellschaft immer weniger gerecht werden. Keine Lösung für ein Problem ist so einfach, wie es die politische Debatte nahelegt.
Für beide Muster der unterkomplexen politischen Kommunikation – einfache Lösung oder Appell – gibt es zahlreiche Beispiele.

Die einfache Lösung

CDU-Chef Friedrich Merz weiß, dass Migration und Integration komplexe Themen mit vielen Facetten sind, die vor allem Zeit erfordern. Ihm ist klar, dass die Forderung, Israel als Voraussetzung für die Einbürgerung anzuerkennen, weder die Integration fördert noch den Antisemitismus eindämmt. Doch die Idee ist einfach, leicht verständlich und wird morgen vermutlich schon vergessen sein.

Der Appell

Besonders beliebt ist der politische Appell im Gewand emotionaler Anteilnahme. Ein Beispiel hierfür ist die deutsche Außenministerin in Nahost. Trotz der komplizierten Gemengelage lenkt sie den kommunikativen Fokus wiederholt auf die „ganz normalen Menschen in der Region, die alle der Wunsch eint, in Frieden zu leben“. Das klingt schön, bleibt aber nur das: ein Wunsch. Das komplexere Thema bleibt unbeantwortet: Warum ist der ersehnte Frieden seit Jahrzehnten unerreichbar, und wie könnte man ihn zukünftig herstellen? Annalena Baerbock gibt darauf keine Antwort, vermutlich weil sie keine hat. Da kommt der Appell gelegen.
Der Kardinal von Wien appelliert in einer Videobotschaft, in der sein erhobener Zeigefinger nicht sicht-, aber hörbar ist, an die Menschen, den Opfern von Missbrauch zuzuhören und ihnen zu glauben. Das erkennt weder die Schuld der Kirche an, noch wird es der Komplexität der erforderlichen Entschädigung gerecht. Eine echte Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld ist schwierig, daher erscheint der Appell als bequemer Ausweg.
Zu ergänzen wäre ein drittes Muster, das vor allem dem jetzigen Kanzler zu Beginn seiner Amtszeit zum Verhängnis wurde.

Schweigen

Angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine fand man schnell das Wort „Zeitenwende“. Aber was bedeutet es? Welche administrativen und politischen Hindernisse sind zu überwinden, welche Gefahren abzuwägen und welche Voraussetzungen zu schaffen, um Solidarität zu zeigen und nationale wie auch europäische Interessen zu wahren? Angesichts dieser komplexen Fragen handelte Bundeskanzler Olaf Scholz sicherlich klug, indem er sich beriet, wartete und nachdachte. Keine gute Idee war es, diesen Prozess mit weitgehendem Schweigen zu begleiten. Politik in Demokratien muss erklärt werden, sonst füllen Gegner das Vakuum – mit Appellen und einfachen Lösungen. Cem Özdemir zeigt, dass es für den kommunikativen Umgang mit komplexen Themen auch eine vierte Variante gibt.

Komplexität benennen, nicht darstellen

Der Agrarminister weiß natürlich, dass es zahlreiche widerstreitende Interessen in der Landwirtschaft gibt: Konflikte zwischen herkömmlicher und biologischer Landwirtschaft, zwischen Hunger in Somalia und Adipositas in Solingen, zwischen teurem Tierwohl und billigen Frikadellen. Kurz gesagt: Es geht hauptsächlich um Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Biodiversität.
Die Komplexität der Situation führt zu ebenso komplexen Regeln. Der Wunsch, die Biodiversität zu erhalten, bewirkte beispielsweise, dass die GAP-Reform der EU Mitgliedsstaaten dazu verpflichtete, Regeln für den Fruchtwechsel auf Ackerland zu erlassen (GLÖZ 7).  Özdemir griff auf eine Regelung zurück, die die EU-Kommission nachträglich eingeführt hat. Die ermöglichte es, die Vorschriften zur verpflichtenden Stilllegung und Fruchtfolgen für 2023 nurmehr als Option für Landwirtinnen und Landwirte anzubieten. Alles klar?
Es ist realistisch anzunehmen, dass auch Bürgerinnen und Bürger, die sich für Landwirtschaft und Umweltpolitik interessieren, diesen wichtigen Vorgang für die Agrarpolitik nicht verstanden haben. Selbst wenn es der Fall sein sollte, hilft die Erkenntnis nicht wirklich weiter bei der Beurteilung der Ampel-Politik in diesem Ressort. Hat Özdemir dem Erhalt der Biodiversität nun geholfen oder geschadet? Schwer zu sagen.
Befragt man Özdemir zu Themen dieser Art, vermeidet er häufig alle drei der oben geschilderten Muster.
Stattdessen wählt er eine vierte Variante: Er verweist nur auf die Komplexität. Ein oder zwei Sätze, mehr nicht. Wann immer möglich, verzichtet er auf die Schilderung von Abwägungsprozessen oder Kompromissen. Er weiß: Das wird zu kompliziert. Spätestens bei der Erwähnung von GLÖZ 7 hätte er den Großteil seines Publikums verloren.
Stattdessen spricht er in Bildern: „Ich besuche viele, viele Höfe und wenn ich im Anschluss davon erzähle, sagt man mir immer, ich hätte den falschen besucht.“ Schöner kann man nicht sagen, dass es nicht die eine richtige Landwirtschaft gibt und dass alle Beteiligten durchaus stichhaltige Argumente vorbringen.
Die Botschaft ist klar: Glaubt nicht denen, die behaupten, alles wäre ganz einfach. Özdemir präsentiert sich als Kenner einer Materie, er positioniert nicht die Materie selbst. Wer in einer solchen Situation für eine Politikerin oder einen Politiker stimmt, tut dies nicht aufgrund eines tieferen Verständnisses. Entscheidend ist, dass er ihnen vertraut. Vertrauen entsteht nicht aus einem tieferen Verständnis. Vertrauen entsteht, wenn Komplexität anerkannt statt negiert oder ignoriert wird, begleitet von dem impliziten Hinweis: Ich kann das jetzt nicht in epischer Breite abhandeln. Das würde zu lange dauern und kein Mensch würde es verstehen.
Aber ich verstehe es, und diejenigen, die behaupten, es sei ganz einfach, die sagen wissentlich die Unwahrheit (heißt: sie lügen) oder wissen es nicht besser (heißt: sie sind schlecht informiert).

Das lange Format

Wer Komplexität bloß benennt, schafft eines freilich nicht: sie wirklich darzustellen. Robert Habeck bewies, dass das möglich ist. Mit seinem Video zum Angriff der Hamas auf Israel traf er den richtigen Ton und schaffte es – wichtiger noch –, dass in Deutschland daraufhin ein politischer und gesellschaftlicher Diskurs einsetzte. Habecks Rede in den sozialen Medien war nicht nur emotional und meinungsstark, sondern vor allem auch differenziert. Das ist notwendig, um komplexe Themen angemessen darzustellen, und geht beispielsweise über den oben genannten simplen Appell eines Friedrich Merz weit hinaus.
Der Preis für die Differenzierung bemisst sich in Zeit. Fast zehn Minuten benötigte Habeck, um überzeugend das politische Spektrum von ganz links bis ganz rechts zu beschreiben, die Themen Integration und Extremismus, deutsche Geschichte und Verantwortung sowie das Verhältnis der Bundesrepublik zu Israel einzuordnen. Habeck verweigerte sich damit jedoch einer der wohl wichtigsten Regeln der Kommunikation: dass der Köder vor allem dem Fisch schmecken muss und nicht dem Angler.
Der Vizekanzler verlangt, was viele Bürgerinnen und Bürger angeblich nicht mehr aufbringen: eine Aufmerksamkeitsspanne von mehr als 30 Sekunden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 145 – Thema: Halbzeit. Das Heft können Sie hier bestellen.