Was Polit-Shows aus der Pandemie mitnehmen sollten

Medien

“What a difference a day makes!” Diesen Klassiker von Dinah Washington soll am 23 Mai 2005 eine berühmte Talkshow-Moderatorin in ihrer Redaktion angestimmt haben. Kurz zuvor hatten Gerhard Schröder und Franz Müntefering vorgezogene Neuwahlen im Bund angekündigt. Es war ein Gesang voller Vorfreude auf politisch spannende Wochen und Monate – und damit gute Vorzeichen für politische Talkshows.

Das Datum, das zuletzt die Lage für Will, Illner, Plasberg, Lanz und Co. auf einen Schlag veränderte, war der 27. Januar 2020, als der erste Corona-Fall in Deutschland registriert wurde. Seitdem hält die Pandemie Deutschland und den öffentlichen Diskurs in Atem und sorgte bei den Talkshows für einen zusätzlichen Relevanzschub.

Interessanterweise legten viele Talks – ähnlich wie die Sondersendungen der Nachrichtenformate – zunächst hauptsächlich in ihren Live-­Zahlen zu –, weniger bei den Zugriffen in Media­theken oder auf Youtube-Kanälen. Bisweilen schien es, als würde die gemeinsame Sorge vor der Pandemie zu einer temporären Renaissance des alten Live-Fernsehens führen – wie ein Lagerfeuer, an dem sich die Zielgruppen gemeinsam wärmen, statt sich in die Nischen ihrer unterschiedlichen Filterblasen und Endgeräte zurückzuziehen.

Dabei widerlegten viele Sendungen gerade am Anfang der Pandemie die Talkshow-Klischees, wonach es dort mehr um Krawall und ritualhaften Streit gehe als um den konstruktiven Diskurs. “Im Angesicht der allgemeinen Angst”, notierte der “taz”-Reporter Peter Unfried, “wurden alle politischen Talks zu im Ton heruntergedimmten Servicesendungen”. Unfrieds Text erschien im Sommer 2020 und drehte sich vor allem um Markus Lanz und dessen Erfolg in den “Corona-Erklärungswochen” (Unfried). Doch nicht nur der Ton der Talks hatte sich geändert, auch einige grundlegende Faktoren hatten es: Es fehlte das Publikum. Die Gäste saßen weiter auseinander. Videoschalten wurden zur Regel und Virologen zu Dauergästen.

Natürlich hat sich die Welt seit dieser ersten Zeit der Pandemie weitergedreht. Auf das Verstehen des Virus folgte der Streit um politische Maßnahmen. Zudem übertrug sich die erhitzte gesellschaftliche Diskussion auch immer wieder auf die Sendungen. Der Vorwurf der sogenannten false balance wurde erhoben – ganz konkret von Jan Böhmermann gegenüber Markus Lanz – rund um die Frage: Bieten Talkshows auch Corona- und Impf-Skeptikern eine Bühne, nur damit alle Seiten zu Wort kommen?

Die gesellschaftliche Kontroverse wird weitergehen – zumal mit Blick auf die aktuell dramatische Entwicklung in der vierten Welle. Umso mehr lohnt es sich, bereits jetzt darüber nachzudenken, wie mögliche Lehren aus der großen Zäsur Corona für die Talkshows aussehen könnten. Hier sind fünf Vorschläge für die Zukunft:

Mehr Mut bei den Gästen

Natürlich gab es in der Besetzung der Talkshows zu Beginn von Corona einen Ausnahmezustand. Alleine 17 Mal im Jahr 2020 saß SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach bei Markus Lanz und insgesamt 31 Mal bei den fünf großen Talkshows in ARD und ZDF. In einer Pandemie war das sicher verständlich und nachvollziehbar, es sollte aber keine Schule machen.

Die mangelnde Vielfalt gehört zu den Standardvorwürfen an Talkshows. Ob es immer stimmt, ist sicher für die einzelne Sendung oder die jeweilige Redaktion zu beurteilen. Aber es steht fest, dass fast alle Parteien und großen Institutionen in den vergangenen Jahren diverser geworden sind. Sie haben kluge und spannende Persönlichkeiten in ihren Reihen, die weder in Schubladen passen noch in solchen denken. Viele davon wären eine Bereicherung für die Debatten und eine gute Alternative zu den Stammgästen.

Mehr Mut bei den Gästen heißt auch mehr unbequeme Gäste. Wer etwa über Politikverdrossenheit in den neuen Bundesländern reden will, sollte das auch mit den entsprechenden Protagonisten tun – und zwar nicht nur als Stichwortgeber für die übrigen Gäste aus der Berliner Blase. Dass mit etwas mehr Mut und kreativen Ideen auch innovative Runden und Formate möglich sind, zeigen Sendungen von Markus Lanz oder etwa die von der “Zeit” gegründete Aktion “Deutschland spricht”.

Mehr Fachleute, aber nicht nur

Es hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt, welche Bereicherung Expertinnen und Experten für Talkshows sein können. Zugegeben gilt das nicht für alle Fachleute und nicht für alle Sendungen. Aber Persönlichkeiten wie die Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx oder die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim konnten die Debatten immer wieder versachlichen und komplexe Themen verständlich erklären. Dies wird auch in Zukunft wichtig bleiben. Themen wie die Digitalisierung oder die Klimakrise sind zu komplex und zu wichtig für Schlagwortschlachten. Hier können Fachleute eine kluge Ergänzung sein. Die Redaktionen sollten deshalb die Chance nutzen und das Reservoir an Spezialisten in Deutschland regelmäßig für ihre Shows ausschöpfen.

Gleichzeitig ist mehr Wissenschaft alleine noch nicht die Lösung. Ein reines Kabinett von Fachexperten würde weder dem Anspruch noch dem Auftrag einer öffentlich-rechtlichen Talkshow gerecht werden – zumindest nicht zur Primetime in ARD und ZDF. Viele Kritiker übersehen, dass der Begriff Talkshow sich aus zwei Wörtern zusammensetzt – und im zweiten Teil steckt ein demokratischer Auftrag. Er lautet: gesellschaftlich relevante Inhalte so zu vermitteln, dass man sie auch ohne Studium und “FAZ”-Abo versteht. So kann man auf eine ansprechende Art mehr Menschen erreichen, als sich sonst aus eigenem Antrieb für ein Thema interessiert hätten. Getreu dem alten Satz von Adolph Freiherr von Knigge: “Man sollte nie vergessen, dass die Gesellschaft lieber unterhalten als unterrichtet sein will.”

Das soll in keinem Fall den Informationsauftrag schmälern, zumal nicht in einer Pandemie oder in Bezug auf andere Themen von hoher Relevanz. Aber die Vermittlung von Informationen darf eben auch manchmal über einen leichteren Einstieg, einen unterhaltsamen Kommentar oder einen überraschenden Gast erfolgen. Das dient der Sache, gerade weil es den Diskurs weitet, Zugangshürden abschafft und mehr Menschen mit einschließt.

Videoschalten als festes Element etablieren

Gerade die Mischung aus virtuellen und wirklichen Gästen in der Pandemie hat die Talkshows verändert – manchmal auf ungewöhnliche Art und Weise. Zunächst einmal sind die Anforderungen deutlich höher, wenn Gäste per Video zugeschaltet sind. Nur die wenigsten schaffen es, per Video das Wort zu ergreifen und aktiv eine Debatte zu prägen. Auch die Interaktion mit der Moderation und anderen Gästen fällt so deutlich schwerer. Andererseits pausieren während der Schalte das Stimmengewirr und das Ins-Wort-Fallen – ein Gewinn fürs Publikum.

Grundsätzlich können gerade Schalten mit hoher Relevanz einen echten Mehrwert darstellen und vielleicht als bleibende Innovation der Talkshow-Welt erhalten bleiben. Einen Ministerpräsidenten am Abend vor einer wichtigen Sitzung zu hören, wie das mehrfach bei Markus Lanz der Fall war, ist aus Zuschauersicht spannend. Aus Sicht eines Politikers kann es helfen, mit dem überschaubaren Aufwand einer Schalte die Debatte vorab zu prägen. Früher hätte man dann wohl eher die Anreise gescheut und abgesagt.

Mehr Hoffnung wagen

Polittalks sind nicht das mediale Bundespräsidialamt, wo wertvolle Beiträge für unsere Gesellschaft gewürdigt werden. Dennoch würde es den Shows guttun, wenn in ihnen noch mehr von den Tausenden Macherinnen und Machern in Deutschland auftreten würden. Persönlichkeiten, die sich nicht mit Schuldzuweisungen, Problembeschreibungen und Ausreden aufhalten, sondern anpacken. Gerade bei vielen Zukunftsthemen haben wir in Deutschland überzeugende Pionierinnen und Pioniere, die nach vorne denken und Mut machen können. In einer Krise, in der von realem oder gefühltem “Staatsversagen” die Rede ist, ist das ein nicht zu unterschätzender psychologischer Faktor.

Den Diskussionen das richtige Maß an Zucker geben

Vor zehn Jahren warf der Spiegel-Journalist Dirk Kurbjuweit Angela Merkel eine „Unterzuckerung“ des Landes vor, weil sie sich den vermeintlich großen gesellschaftlichen Debatten entzog. Mit der Flüchtlingskrise 2015 und mit der Pandemie ist der Diskurs ins andere Extrem übergegangen, quasi in eine chronische Überzuckerung. Seitdem laufen die Debatten oft überdreht, destruktiv, rau, auch menschenfeindlich. Gerade Twitter ist zum Hauptkampfplatz einer zerstörerischen Diskussionskultur geworden.

Die Talkshows können dazu beizutragen, die öffentlichen Debatten wieder ins richtige Maß zu bringen. Dazu braucht es das Selbstverständnis, dass Talkshows weder das Kolosseum für Gladiatorenkämpfe sind noch das Forum Romanum für schöngeistige Konversationen. Für lebendige und spannende Sendungen mit kontroversen Diskussionen zu relevanten Themen braucht es bereichernde Gäste und innovative Runden. Gerade der zweite Punkt ist wichtig. Es wäre ein starkes Zeichen an die Zuschauerinnen und Zuschauer – und damit an die Gesellschaft – wenn Sendungen immer mal wieder aus ihren Routinen ausbrechen und den Blickwinkel ändern.

Fazit: Schon seit der Flüchtlingskrise scheint sich “Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit”, wie das Buch von Mai Thi Nguyen-Kim heißt, immer weiter zu reduzieren. Die Pandemie hat einerseits eine völlig neuartige Herausforderung für alle geschaffen. Gleichzeitig droht der fortwährende Streit um den richtigen Umgang – im Kleinen wie im Großen – die Spaltung der Gesellschaft weiter zu beschleunigen. Umso wichtiger ist es, dass sich alle ihrer Rolle und ihrer Relevanz im demokratischen Diskurs bewusst sind. Das gilt für die Redaktionen der großen Talkshows, aber ehrlich gesagt auch für jeden Einzelnen von uns in den sozialen Medien. “What a difference a day makes!” Das Lied von Dinah Washington endet übrigens mit der Zeile: “And the difference is you.”

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 137 – Thema: Die neue Mitte?. Das Heft können Sie hier bestellen.