Newsletter-Wald

Newsletter

Wie reagieren wir heute auf die Äußerungen des Abgeordneten im Briefing?“ „Kennt jemand das Papier, das bei Table zitiert wird?“ „Woher weiß dieser Newsletter schon von den Personalveränderungen?“ „Woher haben die die Infos aus unserer Sitzung?“ So oder so ähnlich klingen die Fragen und Diskussionen in den Morgenlagen der Abgeordnetenbüros, Partei- und Fraktionsführungen, Regierungszentralen, Ministerien und Pressestellen. Wo vor einigen Jahren noch über Aufmacher, Leitartikel und Interviews in Morgenmagazinen von Fernsehen und Radio gesprochen wurde, dominieren heute Politik-Newsletter, Podcasts und Social-Media-Beiträge die Konferenzen, Meetings und Pressebriefings. Der erste Blick geht heute nicht mehr in die Zeitung oder den Pressespiegel, sondern häufig ins Postfach und die Morning-Newsletter.

Born in the USA

Diese Entwicklung ist nicht neu. Bereits vor 13 Jahren erschien im „New York Times Magazine“ eine Reportage mit dem Titel „The Man the White House wakes up to“. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Mann: Mike Allen. Er gilt in Washington D. C. als Legende, der Mann, der den politischen Newsletter geprägt hat wie niemand zuvor. Allen hatte früh damit begonnen, sogenannte tip sheets an befreundete Journalisten und Politiker zu verschicken und darin beschrieben, was am kommenden Tag wichtig werden würde. Daraus entstand die Idee des Newsletters Politico Playbook, der am 25. Juni 2007 zum ersten Mal in den Mailpostfächern landete. Sein Ziel: „to win every news cycle by being first“. Seine Zielgruppe: politische Entscheidungsträger, Amts- und Mandatsträger sowie Journalisten.

Nach der US-Präsidentschaftswahl 2016 verließen Allen und seine Kollegen Jim VandeHei und Roy Schwartz Politico – nachdem ein Verkauf von Anteilen an die Axel Springer SE damals nicht zustande kam – und gründeten das News-Start-Up Axios. Laut Politico-Gründer VandeHei ein Mix aus „The Economist“ und Twitter, der sich der smart brevity (zu Deutsch: geschickte Kürze) verschrieben hat: snackable content, der in Stichpunkten die zentralen Informationen, Gerüchte und exklusiven Insider-Informationen aufbereitet. Dem „Handelsblatt“ sagte Allen 2018: „Die Menschen wollen Information rasch, klar, verständlich und auf elektronischem Weg. Unsere Geschichten sind so sauber, smart und schnell wie nur möglich. Sie sollen die Zeit, die Aufmerksamkeit und das Vertrauen des Lesers wert sein.“ Passend dazu steht an der Wand im Headquarter von Axios vor den Toren Washingtons in großen Lettern: „Brevity is confidence, length is fear.“

Allens Morgen- und Abend-Newsletter Axios AM und Axios PM landen heute Tag für Tag auf den Smartphones politischer Entscheidungsträger in den USA. Politiker stehen mit seinen Newslettern auf und gehen mit ihnen zu Bett. Allen gilt heute als einer der einflussreichsten und bestvernetzten Journalisten in den USA. Er steht exemplarisch für den sogenannten access journalist. Mit der starken Personenmarke „Mike Allen“ und weiteren Journalisten mit ihren jeweiligen Newslettern schafft Axios ein Gefühl von Nähe und Vertrautheit bei Abonnenten.

Der Kampagnenexperte Julius van de Laar beschreibt das so: „Wenn ich jeden Morgen um 5:30 Uhr eine Mail von Mike Allen in mein Postfach erhalte, wenig später seine Analysen auf CNN sehe und ihn anschließend noch im Podcast höre, baue ich eine ganz andere Beziehung dazu auf. Es wird zu einer Routine. Auch im Unterschied zu einer weniger persönlichen News-App, die ich erst öffnen muss, um scrollend dann nach den wichtigsten Artikeln zu suchen. Bis ich das mache, habe ich den Newsletter schon gelesen und bin informiert.“ Für van de Laar ist der Newsletter deshalb nach wie vor die Killer App schlechthin.

Der Erfolg gibt den Gründern recht. Heute betreibt Axios 46 zielgruppenspezifische Newsletter (20 thematische, 26 lokale). Hinzu kommen Angebote in den Bereichen Themen-Alerts, Podcasts, Events und Tutorials.

Hallo, Deutschland

Die deutsche Polit-Newsletter-Landschaft wurde in den letzten zwölf Jahren vor allem von zwei Journalisten geprägt: von Gabor Steingart und Sebastian Turner.
Am 7. April 2011 startete Steingart mit dem Handelsblatt Morning Briefing eines der ersten Polit-Newsletter-Formate in Deutschland. Von 2007 bis 2010 hatte Steingart das Büro des „Spiegel“ in Washington D. C. geleitet und dort die Anfänge des Politico Playbook beobachtet.

Rund drei Jahre später, am 24. November 2014, startete der „Tagesspiegel“ Checkpoint – der in den Folgejahren immer stärker wuchs. Heute gibt es unter anderem zwölf lokale Newsletter für die Berliner Bezirke, den Morgen-Newsletter Morgenlage sowie einen eigenen Kosmos aus themenspezifischen Newslettern unter der Dachmarke Tagesspiegel Background. Vorangetrieben und etabliert wurde die Newsletter-Sparte zu dieser Zeit von Herausgeber Sebastian Turner, der die Chancen in der Vertikalisierung eines Mediums mithilfe von Expertenpublikationen und Newslettern sah.

2018 gründete Gabor Steingart das Unternehmen Media Pioneer, das vor allem durch sein Medienschiff und inhaltliche Zuspitzung schnell Aufmerksamkeit gewann. 2019 stieg die Axel Springer SE mit 36 Prozent bei Media Pioneer ein. Das Ziel: im Rahmen einer „journalistischen Partnerschaft“ auch gemeinsame Formate zu entwickeln sowie beim Ausbau von Technologie und Reichweite zu unterstützen. Das bekannteste Format ist The Pioneer Briefing als Newsletter und täglicher Podcast. 2020 folgte der Newsletter Hauptstadt – Das Briefing von Michael Bröcker (vormals „Rheinische Post“) und Gordon Repinski (vormals Redaktionsnetzwerk Deutschland). Inzwischen hat Media Pioneer eine Reihe an Themen-Newsletter- und Podcast-Formaten mit starken Personmarken gestartet (unter anderem das Tech-Briefing, der 8. Tag, Edle Federn oder das Ökonomie-Briefing).

Verantwortet wurde das Morning Briefing von 2019 bis 2021 von Johannes Altmeyer. Nach einer Station bei der Axel-Springer-Tochter Business Insider als Leitender Redakteur Newsletter (BI Daily Newsletter) wechselte Altmeyer im Februar 2023 als Verantwortlicher Redakteur Newsletter zum „Tagesspiegel“.Sebastian Turner verließ 2020 den „Tagesspiegel“, um sein eigenes Medien-Start-Up Table.Media zu gründen und startete unter anderem mit dem Fach-Briefing China.Table. 2023 folgte der Late-Night-Newsletter Berlin.Table, der sich unter der Leitung von Chefredakteur Stefan Braun (vormals „Süddeutsche Zeitung“) mit Bundespolitik und dem politischen Berlin beschäftigt. Er erscheint dreimal pro Woche um 22 Uhr. Inzwischen umfasst das Portfolio der themenspezifischen Table-Newsletter zehn Formate (unter anderem zu Afrika, Europa und Klima). Turner konnte eine Reihe von etablierten Journalisten anderer Medien für die Arbeit bei Table.Media gewinnen.

Viele Geschmacks­richtungen

Neben diesen inzwischen etablierten Marken gibt es zahllose weitere Newsletter, die das aktuelle politische Geschehen beobachten und kommentieren. Fast jedes größere Medienhaus hat mindestens ein eigenes Format. Die Newsletter können Presseschauen, Geburtstage, Veranstaltungen, Medienankündigungen oder auch Jobangebote enthalten. Der Politikberater Bendix Hügelmann stellt fest: „Das Angebot an politischen und medialen Inhalten ist in den letzten Jahren immer größer geworden. Daher sind politische Akteure immer mehr auf vorselektierte Inhalte angewiesen, allein schon aus Zeitgründen. Diese Anforderung können Newsletter übernehmen und entsprechende Schwerpunkte setzen. Dabei gibt es jedoch erhebliche Unterschiede in Form, Aufbereitung und Qualität.“
Grundsätzlich kann in vier verschiedene Newsletter-Formate unterschieden werden:

1. Der Hintergrund-Newsletter
Der Hintergrund-Newsletter ermöglicht dem Leser einen vertieften Blick hinter die Kulissen und vermittelt mithilfe von Hintergrundpapieren, unveröffentlichten Gesetzesentwürfen, Personalwechseln oder Gerüchten den Eindruck von Exklusivität. Zielgruppe dieser Newsletter sind vor allem politische Entscheidungsträger, Interessenvertreter und Journalisten. Hintergrund-Newsletter berichten mittels sogenanntem access journalism aus den „Hinterzimmern“ der Politik. In Deutschland sind das unter anderem Hauptstadt – Das Briefing und Berlin.Table.

2. Der kuratierte Newsletter
Der kuratierte Newsletter stellt dem Leser alle Informationen möglichst übersichtlich und selektiert zur Verfügung. Der kuratierte Newsletter nimmt Arbeit ab, indem er für den Leser die Selektion übernimmt und so Zeit spart. Ein Beispiel ist der wöchentliche Newsletter politnews von Polisphere, der jeden Montag erscheint. Er bereitet die wichtigsten Themen der Woche sortiert kurz auf, gibt dem Leser einen schnellen Überblick, bietet Service- und Termintipps und enthält eine Jobbörse. Ähnlich funktioniert auch der wöchentlich erscheinende Berlin Bubble. Das tägliche Politbriefing von Capital Beat ist hingegen sachlicher gehalten und kuratiert die zentralen politischen Nachrichten. „Politico Berlin Bulletin“-Newsletter liefert wöchentlich eine kuratierte Übersicht über die wichtigsten Themen und Personalien in der deutschen Politiklandschaft.

3. Der ergänzende Newsletter
Viele traditionelle Medien- und Nachrichtenhäuser bieten neben ihren klassischen Angeboten auch Newsletter an. Häufig ergänzen diese Newsletter das sonstige Nachrichtenangebot. Sie fassen meist die zentralen Nachrichten des Tages zusammen und heben Artikel der eigenen Medienmarke hervor. Sie wollen den Leser wieder auf die Nachrichten-Seite oder -App führen, damit er dort weiterliest und weitere Angebote nutzt. Ergänzt werden die Newsletter teilweise um kommentierende und einordnende Editorials. Beispielhaft zu nennen sind hier Die Lage von Spiegel.de, der Tagesanbruch von T-Online oder der Hauptstadt-Radar des RND.

4. Der Fach-Newsletter
Eine Sonderrolle nehmen die fachspezifischen Newsletter ein, die sogenannten Verticals. Sie sind für eine sehr spitze Zielgruppe, die sich über einen bestimmten Fachbereich informieren möchte. Sie gehen in die Tiefe und bieten ihrer Leserschaft umfassende fachliche Hintergründe. Vor allem Tagesspiegel Background und Table.Media bieten eine Vielzahl fachspezifischer Newsletter.

Wie es weitergeht

Politische Newsletter sind zu einem wichtigen Instrument der Informationsbeschaffung und Meinungsbildung in der politischen Berichterstattung geworden. Politik-Newsletter werden zitiert, als Quelle genutzt und ihre Autoren als Experten in Radio, Fernsehen, Podcasts und Onlineshows eingeladen. Bei der schieren Zahl an Newslettern kann man jedoch nur herausstechen, wenn man konstant exklusive Einblicke liefert und dabei auf einen innovativen Ansatz und starke Personenmarken bauen kann.

Mit Blick auf die Vertikalisierung sowie die fachliche und regionale Ausdifferenzierung von Newslettern ist davon auszugehen, dass die Zahl nachrichtlicher Newsletter weiter steigt. Offen ist, wie sich der Newsletter-Boom auf das Aussterben der Regionalzeitungen auswirkt. Die Beispiele von Axios in den USA und dem „Tagesspiegel“ in Berlin zeigen, dass auch eine Chance darin liegen kann, das eigene Geschäftsmodell auf lokale Newsletter umzustellen.

Es wird interessant sein, zu beobachten, wie US-amerikanische Medienunternehmen die Entwicklung im deutschen Newsletter- und Medienmarkt in Zukunft beeinflussen. Bisher hatten sie meist eine Vorbildfunktion für deutsche Medienmacher. 2018 kündigte Mike Allen im Gespräch mit dem „Handelsblatt“ noch an, dass man mit Axios auch Deutschland als potenziellen Markt im Blick habe. Die Entwicklung von Politico hängt wiederum maßgeblich von den Plänen des Axel-Springer-Verlags ab, der Politico 2021 für mehr als eine halbe Milliarde Euro übernommen hat. Mitte Januar 2023 kündigte Springer-CEO Mathias Döpfner zudem die weitere Expansion von Politico in Europa und Deutschland an. Es ist die Fortsetzung einer alten Strategie. 2014 hatte Axel Springer SE gemeinsam mit (dem damals noch eigenständigen) Politico das Joint Venture Politico Europe gegründet, 2021 ging das Unternehmen im Zuge der Übernahme des Gesamtkonzerns auch vollständig an die Axel Springer SE über.

Die Nachfrage nach politischen Newsletter-Formaten ist hoch und steigt. Der Markt ist in Bewegung. Aber für wie viele ist dauerhaft Platz? Wird es einen Verdrängungswettbewerb geben? Es bleibt abzuwarten, mit welchen Newslettern das politische Berlin in den kommenden Jahren aufwacht.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 142 – Thema: Künstliche Intelligenz. Das Heft können Sie hier bestellen.