Ein Virus ­beschleunigt die Digita­li­sierung

Digitalisierung

Eines hat die Corona-Pandemie wohl allen gezeigt: Es gibt erhebliche Digitalisierungslücken in Deutschland. Das ist fatal. Denn so wie funktionierende, digitale und effiziente Prozesse für Industrieunternehmen als “Industrie 4.0” einen zentralen Standortfaktor darstellen, ist auch ein resilientes, digitales Verwaltungshandeln für die Gesellschaft, Ministerien, Behörden und staatliche Organisationen als “Staat 4.0” ein digitaler Wettbewerbsfaktor. Bis dahin liegen allerdings noch einige gemeinsame Anstrengungen vor uns.

Die Pandemie deckte beispielsweise auf, dass viele Gesundheitsämter noch mit Faxgeräten arbeiten, was eine korrekte und zeitgenaue Meldung von Daten an das RKI erschwerte. Die Probleme setzten sich fort bei der Kontaktnachverfolgung infizierter Personen: Die notwendigen Strukturen gerieten schnell an ihre Auslastungsgrenzen, zeitkritische Informationen wurden teilweise noch per Brief kommuniziert. Ebenso verhält es sich auch mit der Vergabe der Impftermine – statt einer nutzerorientierten bundeseinheitlichen Plattform war ein Wildwuchs aus Insellösungen mit zweifelhafter Anwenderfreundlichkeit zu beklagen.

In der öffentlichen Verwaltung waren häufig keine zeitgemäßen innerbehördlichen Kollaborationsmittel sowie eine IT-Ausstattung startklar, die vernetztes, ortsunabhängiges Arbeiten, insbesondere mit sensiblen Daten, ermöglichen. Das erschwerte die in einer Pandemie umso wichtigere enge Zusammenarbeit und den reibungslosen Austausch von Informationen und Daten. Und im Bereich der Schulen zeigte sich, dass wir hierzulande vielerorts noch in der “Kreidezeit” stecken: Die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer sowie der Schulen war und ist nicht auf Fernunterricht vorbereitet. Es fehlt an Konzepten für Onlineunterricht, geeigneter technischer Ausstattung und digitalem Lernmaterial.

Digitale Bundeswehr

Das Bundesministerium für Verteidigung und die Bundeswehr haben uns einen klaren Aktionsrahmen vorgegeben: An erster Stelle stand der Schutz der Belegschaft vor Infektionen. Parallel ging es darum, den Grundbetrieb für die Bundeswehr und deren Kernführungsfähigkeiten stabil zu halten und die Corona-bedingten Sofortmaßnahmen für die Bundeswehr ad hoc umzusetzen.

Wir haben den Umfang der IT-Ausstattung ausgebaut, die Zahl der gleichzeitig möglichen Onlinezugänge innerhalb weniger Wochen verdreifacht (und bis heute mehr als verzehnfacht), Mitte April 2020 insgesamt 2.000 Notebooks mit Remote Access Service an Covid-19-Einsatzführungsstellen der Bundeswehr ausgeliefert. Parallel wurden die Bandbreiten in den Rechenzentren Strausberg und Köln verzehnfacht. Wir haben erweiterte Messengerdienste aufgesetzt – hierbei konnten wir auf die Erfahrung mit unserem für die Bundeswehr entwickelten Bw-Messenger aufbauen und mit modernen Online-Tools dafür sorgen, dass Mitarbeiter leichter zusammenarbeiten konnten. Im April haben Bundeswehr und BWI den Betrieb solcher Tools für derzeit bis zu 80.000 Mobilfunkgeräte (dienstlich wie privat) kurzfristig ausgebaut. Aktuell arbeiten wir daran, 5.000 zusätzliche mobile Endgeräte auszuliefern, mit denen geheim und abhörsicher kommuniziert werden kann.

Alle Bundeswehrkrankenhäuser erhielten priorisiert teilweise zusätzliche Videokonferenzanlagen, die Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie des Bundeswehrkrankenhauses Berlin bietet seit Mitte März Online-Videosprechstunden an.

Die BWI profitierte dabei von ihrer Erfahrung. Bereits seit 2006 fungiert sie als Digitalisierungs- und Innovationspartner der Bundeswehr. Sie führt IT-Modernisierungs- und Konsolidierungsprojekte wie HERKULES durch und stellt Innovationshubs bereit, aus denen laufend Softwarelösungen in den Praxisbetrieb eingehen. Das war nur möglich, weil das BMVg und die Bundeswehr bereits vor 15 Jahren in die Qualität und Sicherheit, aber auch in Standardisierung und Skalierbarkeit technischer Lösungen investiert haben. Jetzt in der Krise zeigte sich: Das war gut angelegtes Geld.

Deutschland ist Mittelfeld

Mit Blick auf die eingangs erwähnten Digitalisierungslücken haben viele Leitmedien die Ansicht verfestigt, Deutschland sei “digital abgehängt”. Tatsächlich stehen wir unter wachsendem Handlungsdruck: Zwar liegt Deutschland im E-Government Development Index der UN-Mitgliedsstaaten für 2020 auf dem 25. Platz von insgesamt 193 Ländern. Ein Jahr zuvor jedoch war Deutschland noch auf dem 12. Platz. Wir werden also zunehmend von anderen Ländern überholt. Ein weiterer relevanter Index, nämlich der Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI), 2020 von der Europäischen Kommission veröffentlicht, verortet Deutschland mit dem 12. Platz im europäischen Mittelfeld.

Hier lohnt ein genauerer Blick auf die Einzeldisziplinen: So steht Deutschland überdurchschnittlich gut im Themenfeld Konnektivität (5G-Bereitschaft mit einem hohen Anteil an Festnetz-Breitbandanschlüssen) da. Hinsichtlich der Abdeckung der Netze mit sehr hoher Kapazität (Very High Capacity Networks) liegt Deutschland hingegen nur auf Rang 21 und damit unter dem EU-Durchschnitt. Ebenso erreicht es bei den digitalen öffentlichen Diensten nur den 21. Platz – eine Platzierung, die uns als Unternehmen des öffentlichen Sektors nicht zufriedenstellen kann.

Zum Gesamtbild gehört aber auch, dass es hierzulande durchaus positive Beispiele von Behörden und Bundesressorts mit erfolgreichen Transformationserfahrungen gibt. Interessanterweise handelt es sich dabei ausnahmslos um Behörden, die bereits vor der Pandemie ihre Hausaufgaben in der Digitalisierung und technischen Konsolidierung gemacht haben. Umso wichtiger ist es deshalb, hier konzertiert und groß­flächig zu digitalisieren und Lücken zu schließen.

Andere machen es besser

Zwei zentrale Learnings gibt es aus unserer Sicht: Zum einen sind Krisen mächtige Fortschrittsbeschleuniger. Zum anderen zeigt sich deutlich, dass nur ein digitaler Staat heute krisenfest und handlungsfähig ist. Der Staat muss bei der Beschleunigung der Digitalisierung eine aktivere Rolle spielen, Initiativen ergreifen, gegebenenfalls Standards setzen und selbst Innovationen in Gang bringen. Staatlich vorgegebene Ziele wie die Verwaltungsdigitalisierung müssen mit Innovationen und einem veränderten Politikmanagement bundesweit umgesetzt werden. Auf der anderen Seite benötigen wir ein gründungsfreundliches Umfeld, gerade auch in Bereichen der für Deutschland relevanten Schlüsseltechnologien, und höhere Investitionen in die digitale Zukunftsfähigkeit unseres Landes.

Dass das möglich ist, zeigt der Blick insbesondere auf die führenden Nationen im E-Government Development Index und im DESI. Was läuft in Finnland, Schweden, Estland und Dänemark anders als hier?
Wir beobachten zunächst einmal, dass in Estland und den skandinavischen Ländern viel früher als hierzulande ein breiter, politischer Wille vorhanden war, die Digitalisierung auf allen Ebenen und flächendeckend einzuziehen. Digitalisierung wird hier nicht als Politikum betrachtet. Stattdessen ist klar, dass sie ganz konkret in der Alltagsrealität der Bürgerinnen und Bürger ankommen muss. Das macht man nicht mal eben nebenher. Es handelt sich dabei vielmehr um ein anspruchsvolles Programm für sicherlich eine Dekade, bei dem Digitalisierung überall mitgedacht werden muss. Folgende Erfolgsfaktoren kristallisieren sich dabei heraus, von denen wir lernen können:

Zum einen werden in den genannten Ländern Digitalisierungsvorhaben als “Chefsache” in eigenen Ministerien organisiert. Alternativ befinden sie sich in der Verantwortung des Finanzministeriums. Der Gedanke dahinter: Ein digital funktionierender Staat ist nicht zuletzt ein wichtiger Standortfaktor zur Ansiedlung innovativer Unternehmen, Forscher und Talente. Zum anderen werden zentrale Anwendungen der Verwaltung künftig nur noch digital angeboten. Darauf haben sich alle Beteiligten im Rahmen gewisser Übergangsfristen vorzubereiten. Dazu zeigt sich, dass die Bevölkerung deutlich weniger Berührungsängste für den Einsatz innovativer Technologien wie KI (künstlicher Intelligenz) hat als angenommen – und dass der Fokus auf Praxis und Umsetzung liegt, getreu dem Motto “done is better than perfect”. Zu guter Letzt hängt gelungene Verwaltungsdigitalisierung von der Bereitschaft ab, Erkenntnisse zu teilen und aus Fehlern wie Erfolgen zu lernen.

Blick in die Zukunft: Was müssen wir tun?

Deutschland braucht vor allem ein klares Digitalisierungsziel. Ein Aktionsplan mit politischen Rahmenbedingungen und einem Ökosystem aus Politik, Wissenschaft und Industrie hilft uns, dieses Ziel zu erreichen. Ein solcher Plan besteht aus vielen einzelnen Aktivitäten:

Was wir schon morgen brauchen: IT-Projekte müssen schneller und besser beschafft werden. Im Vergaberecht müssen auch Fragen der Resilienz und digitalen Souveränität eine Rolle spielen. Gerade das Thema der digitalen Souveränität wird zunehmend relevanter und gerinnt zur Frage der strategischen Autonomie: Wer sich vor allem in Notsituationen in Bezug auf IT-Lösungen nicht frei entscheiden kann, ist und bleibt abhängig.

Ebenfalls kurzfristig ist eine offene, cloudbasierte Architektur von essenzieller Bedeutung, um Daten und Anwendungen flexibel bereitstellen zu können. Parallel bedarf es eines zügigen und konsequenten Ausbaus digitaler Bildungssysteme – nur so bekommen wir künftig die dringend benötigten IT-Experten.

Als wichtige, in die Zukunft gerichtete Option muss der Staat Experimentierräume eröffnen und in der Lage sein, Ideen, die sich bewähren, in der Fläche und schneller einzusetzen.

Eines ist dabei, so denke ich, besonders wichtig: Mit Technologie allein ist es nicht getan. Auch das Mindset muss sich ändern. Die wichtigste “Software” ist in unseren Köpfen, sie besteht aus Handlungsweisen und Denkmustern. In einem Interview mit der “Zeit” sagte Dorothee Bär den Satz “Wenn wir müssen, können wir auch”. Ich würde diesen Satz gerne ergänzen durch “Wenn wir wollen, können wir”. Das braucht Pragmatismus, den Mut zum Fehler, Neugier und die Lust am Experiment. Wenn uns das gelingt, sind wir für kommende Krisen gut gewappnet und kommen auch im Alltag zwischen zwei Krisen besser voran.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 136 – Thema: Die drei Fragezeichen – Wer wird die neue Merkel?. Das Heft können Sie hier bestellen.