“Die junge Generation hat aus unserer Niederlage gelernt”

Interview

Frau Sadr, wie würden Sie den aktuellen Stand der Frauenrevolution im Iran beschreiben?

Das hängt davon ab, wie wir die Revolution fassen. Der Regierung ist es gelungen, die Proteste auf der Straße sowie Streiks oder andere Protestaktionen an öffentlichen Orten wie Universitäten und Schulen zur Ruhe zu bringen. Aber die revolutionäre Stimmung ist immer noch vorhanden und wird weitergetragen von den Frauen, die sich tagtäglich gegen den Hidschab-Zwang wehren, obwohl sie fortwährend schikaniert, verfolgt, aus öffentlichen Räumen verbannt und von öffentlichen Dienstleistungen ausgeschlossen werden. Ich denke, wir wurden Zeuge eines großen Schritts Richtung Menschenrechte und Demokratie im Iran. Das hatte niemand erwartet. Früher oder später werden wir eine weitere Phase oder eine weitere Welle von landesweiten Protesten erleben. Das ist unvermeidlich.

Der Internetzugang ist im Iran immer noch eingeschränkt. Wie kommunizieren Sie mit den Menschen dort?

Es gibt zwei Dinge, die in der Debatte über die Internetbeschränkungen im Iran meist vergessen werden. Soweit ich weiß, ist das Internet mit Ausnahme einiger Tage im November 2019 noch nie komplett abgeschaltet worden. Vor allem dort, wo die Proteste stattfanden, gab es Internetbeschränkungen oder sogar -abschaltungen, aber nicht für 24 Stunden oder mehrere Tage am Stück. Die Menschen konnten außerhalb dieser Zeiten oder Gebiete auf das Internet zugreifen. Zweitens glaube ich, dass vor allem die Jüngeren technologisch so versiert sind, dass sie immer Wege finden, all diese Einschränkungen zu umgehen. Für Menschen wie meine Eltern ist es schwieriger geworden. Die älteren Generationen sind mehr darauf angewiesen, dass ihre Kinder das Internet wiederherstellen oder ihnen beibringen, wie man VPNs benutzt.

Shadi Sadr ist eine iranische Juristin, Menschenrechtsaktivistin, Essayistin und Journalistin. Sie ist Mitbegründerin von Justice for Iran (JFI), einer NGO, die sich für die Rechenschaftspflicht iranischer Beamter für Menschenrechtsverletzungen einsetzt. Sie hat erfolgreich mehrere Frauen verteidigt, die zum Tode verurteilt wurden, und sich für das Verbot der Steinigung als Hinrichtungsmethode eingesetzt. Sadr wurde mehrfach für ihren Einsatz ausgezeichnet, unter anderem mit dem International Women of Courage Award 2010. Wegen ihrer Teilnahme an Protesten wurde sie zweimal im Iran inhaftiert. Seit 2009 lebt sie im Exil. Foto: Mirella Frangella
Shadi Sadr ist eine iranische Juristin Menschenrechtsaktivistin Essayistin und Journalistin Sie ist Mitbegründerin von Justice for Iran JFI einer NGO die sich für die Rechenschaftspflicht iranischer Beamter für Menschenrechtsverletzungen einsetzt Sie hat erfolgreich mehrere Frauen verteidigt die zum Tode verurteilt wurden und sich für das Verbot der Steinigung als Hinrichtungsmethode eingesetzt Sadr wurde mehrfach für ihren Einsatz ausgezeichnet unter anderem mit dem International Women of Courage Award 2010 Wegen ihrer Teilnahme an Protesten wurde sie zweimal im Iran inhaftiert Seit 2009 lebt sie im Exil Foto Mirella Frangella

 

Was hat sich im täglichen Leben der Bürger seit dem Beginn der Proteste verändert?

Wenn man die Revolution als einen Prozess betrachtet, haben sich einige wichtige Dinge verändert. Das wichtigste ist die Tatsache, dass Millionen von Menschen gemeinsam zu dem Schluss gekommen sind, dass sie die Islamische Republik loswerden müssen.

Sie sind seit über 20 Jahren Frauenrechtsaktivistin. Worin unterscheidet sich diese Generation iranischer Frauen von früheren Generationen?

Sie sind viel mutiger als wir. Wir waren bereit, für unseren Kampf für Rechte und Freiheit einen Preis zu zahlen, aber nicht in diesem Ausmaß. Ich glaube, die Idee der Reformen hat meine Generation so sehr vereinnahmt, dass wir hofften, wenn wir jedes Mal zu den Wahlen gehen, sei dieser oder jener reformorientierte Kandidat derjenige, der Veränderungen bringen kann. Aber diese neue Generation ist von der Idee der Reform völlig desillusioniert. Ich glaube, die Jüngeren haben weniger oder fast nichts zu verlieren. Sie haben eine sehr klare Vorstellung davon, was sie wollen. Aber es besteht eine große Kluft zwischen dem, was sie wollen, und dem, was sie in der Islamischen Republik erreichen können. Das ist es, was sie von uns als ihren Eltern gelernt haben. Sie haben aus unserer Niederlage gelernt.

Wie steht es derzeit um die Opposition außerhalb des Iran?

Das ist eine schwierige Frage, vor allem in der gegenwärtigen Situation. Tatsache ist, dass der wirkliche Wandel innerhalb des Landes stattfinden muss. Diejenigen, die sich in der Diaspora befinden, können nicht die Führungsposition über die Menschen einnehmen, die täglich im Land kämpfen. Wir können unsere Privilegien und Rechte nutzen, die wir haben, um die Bewegung zu unterstützen. Aber ich denke, sobald Menschen außerhalb des Landes ihre eigene Agenda haben, um die iranische Revolution anzuführen oder irgendeine Art von politischer Position zu erlangen, geht die wichtigste Botschaft verloren und die Hauptmission bleibt unerfüllt.

Wie gefestigt ist aktuell die Position der Regierung unter Khamenei?

Ich denke, dass er immer noch über ein großes Netzwerk von Leuten verfügt, die politisch und vor allem wirtschaftlich von der Existenz der Islamischen Republik profitieren. Sie sind keine wirklichen Anhänger. Das Hauptproblem ist nicht, dass Khamenei eine breite Unterstützung hat – die hat er nicht. Aber wie bei jeder Mafia-ähnlichen Regierung oder Institution gibt es viele Leute, die von ihr profitieren. Deshalb denke ich, dass es viel wichtiger ist, die wirtschaftlichen Wurzeln dieser Institution zu beseitigen.

Wie sind die Erfolgsaussichten für die Revolution und unter welchen Bedingungen kann sie gelingen?

Ich glaube, der Iran ist eines der unberechenbarsten Länder der Welt. Selbst für uns, die wir die Situation genau beobachten, und selbst für diejenigen, die im Land leben, ist es nicht einfach, die Zukunft vorherzusagen. Aber ich glaube, dass die Zeit der Islamischen Republik in ihrer jetzigen Form abläuft. Doch was wird an ihre Stelle treten? Anders als bei der Revolution von 1979, als die Menschen das Schah-Regime um jeden Preis loswerden wollten, machen wir uns darüber Gedanken. Deshalb ist der Prozess so wichtig. Wenn wir die Hauptbotschaft der Revolution, nämlich Frauen Leben Freiheit, in den Vordergrund stellen und uns dieser Botschaft verpflichtet fühlen, werden wir tatsächlich Demokratie und Menschenrechte für den Iran erreichen. Wenn uns aber irgendetwas von dieser Hauptbotschaft abbringt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das, was an die Stelle der Islamischen Republik tritt, keine demokratische Regierung sein wird.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat zu Beginn ihrer Amtszeit eine feministische Außenpolitik ausgerufen. Was halten Sie von der bisherigen Unterstützung Deutschlands für die Frauenrevolution?

Deutschland hatte allgemein einen sehr positiven Einfluss. Es gibt mindestens zwei europäische Richtlinien, bei denen Deutschland meines Wissens eine wichtige Funktion hatte. Die eine war die Einrichtung der UN Fact Finding Mission, die auf eine Initiative Deutschlands und der deutschen Außenministerin zurückgeht. Die zweite war eine massive Änderung der europäischen Politik in Bezug auf Menschenrechtssanktionen. Deutschland spielte eine wichtige Rolle bei der Reaktivierung des Sanktionsregimes gegen den Iran. Deutschland kann jedoch noch viel mehr tun, indem es beispielsweise die Islamische Republik als geschlechtsspezifisches Apartheidregime anerkennt und die internationale Gemeinschaft dazu drängt, dass sie Geschlechter-Apartheid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt.

Sie nehmen einen Preis im Namen der Demokratiebewegung entgegen. Was ist nötig, um die internationale Aufmerksamkeit für diese Sache zurückzugewinnen?

Diese Aktionen können das Thema in Ländern wie Deutschland wieder ins öffentliche Bewusstsein rücken. Denn wenn sich die Proteste gelegt haben, sieht man keine Nachrichten über den Iran und keine Schlagzeilen oder Titelseiten, während die Frauen immer noch mit dem Hidschab-Zwang kämpfen und weiterhin jene leiden, deren Leben von der Niederschlagung der Proteste betroffen sind. Aber wir müssen diese Sache am Leben erhalten. Dafür brauchen wir die Unterstützung von Ländern wie Deutschland, damit wir weitermachen können.

Wie sehen Sie die Zukunft der Frauenrevolution?

Ich sehe sie sehr positiv. Um ehrlich zu sein, ich hätte nicht erwartet, dass meine Gesellschaft so progressiv ist, wenn es um die Rechte der Frauen geht. Dass so viele mutige junge Frauen dabei mitmachen, ist ein großer Hoffnungsschimmer für eine wie auch immer geartete Zukunft im Iran.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 143 – Thema: 15 Young Thinkers. Das Heft können Sie hier bestellen.