Die Energie, die Diktatoren antreibt

Politik

Die Medien und die Politik haben einen neuen politischen Typus entdeckt: den „Wutbürger“. Er wird durchgehend mit negativen Eigenschaften versehen: Er ist starrsinnig, guten Argumenten gegenüber nicht zugänglich, prinzipiell unvernünftig, von irrationalen Emotionen gesteuert und deshalb lästig.  Er stellt sich – im wahrsten Sinne des Wortes – der „vernünftigen“ Politik in den Weg und verhindert rationale Problemlösungen. Diese Karikatur des politischen Menschen lebt von der Unterstellung, dass dieser eigentlich unpolitisch, da emotional gesteuert ist. In der Neuzeit hat sich die eigentümliche Vorstellung festgesetzt, dass Politik dann gut ist, wenn sie der Vernunft gehorcht. Diese ist wie ein Leitstern, dem man folgt, um an sein Ziel gebracht zu werden. Ziel ist die vernunftgeleitete Politik. Man erwartet sie sowohl von der professionellen politischen Elite – dort besonders – als auch vom politischen Publikum. Letzteres soll rational beurteilen, welche Politiker oder Parteien die eigenen Interessen am besten realisiert haben, die dann wiederum bei den nächsten Wahlen unterstützt und dafür belohnt werden. Die Politik orientiert sich an den gegebenen Präferenzen der Wähler und befriedigt diese durch ihre politischen Entscheidungen. Unter diesen Prämissen handeln alle rational und maximieren ihren jeweiligen Nutzen.

Diese Lehrbuchvorstellung kollidiert jedoch mit der politischen Ideengeschichte ebenso wie mit der Wirklichkeit. Zwar hat der große Soziologe Max Weber in seiner Schrift „Politik als Beruf“ (1919) betont, dass Politik mit dem Kopf gemacht wird. Er hat aber zugleich gesehen, dass zu Politik unvermeidlich auch Macht und Gewaltsamkeit als Mittel gehören, wodurch man mit „diabolischen Mächten einen Pakt schließt“. Schon vor Weber haben sich die wichtigsten politischen Theoretiker mit einem grundlegenden Problem herumgeschlagen: Wie kann man bei politischer Ordnungsbildung mit den für Menschen konstitutiven Leidenschaften so umgehen, dass sie in Schach gehalten, produktiv umgelenkt oder auch durch Bremsen und Kontrolle eingedämmt werden? Die Antworten fielen unterschiedlich aus, aber der Ausgangspunkt war die Unhintergehbarkeit von Leidenschaften und Emotionen und deren produktive Nutzung oder Zähmung beim Aufbau und der Stabilisierung von politischen Ordnungen.

Die Leidenschaft des Mitleidens

Emotionen kann man nach Immanuel Kant in zwei Typen unterteilen: In Affekte und Leidenschaften. Erstere sind Erregungen von kurzer Dauer, die sich in bestimmten Situationen auf einen extrem kurzen Zeitpunkt konzentrieren und schließlich entladen. Die spontane Gewaltanwendung, die Tötung im Affekt, der Akt der Zerstörung, das Feuerlegen, der Ausbruch aus der Ruhe in die Bewegung – all  das spielt sich in einer Art Rausch ab, der die Fähigkeit zur vernünftigen Abschätzung von Situationen dramatisch mindert. Leidenschaften dagegen sind emotionale Dispositionen, die sich über einen längeren Zeitraum verfestigen. Die Leidenschaft ist nach Kant zwar eine „Krankheit der Seele“, die den Willen korrumpiert. Aber so heftig sie auch sein mag, sie lässt sich Zeit, ist überlegend und zielgerichtet. Nach Kant ist sie wegen dieser Eigenschaften gefährlicher als der reine Affekt – man findet sie auch und vor allem in der Politik.

Die Griechen hatten für Leidenschaft einen Begriff – den Thymós. Man kann dieses Wort lose mit Zorn, Stolz, Beherztheit oder Empörung übersetzen. Thymotische Energien regierten die antike Welt. Die Kontrolle der Affekte und Leidenschaften durch den Prozess der Zivilisation hat erst in der Neuzeit stattgefunden, ohne das Phänomen jedoch aus der Welt zu räumen. Aber es hat die Menschen mit der Fähigkeit ausgestattet, mit dem Thymós prinzipiell kontrollierter umzugehen. Er hat zwei Ausdrucksformen gefunden. Zum einen die Isothymia als die Bereitschaft, kämpfend und von Leidenschaften getrieben die Anerkennung als Gleicher zu erreichen. Sie richtet sich meist gegen unterdrückerische Regime, die Menschen keine individuelle, politische oder soziale Gleichheit zugestehen. Aber sie kann sich auch gegen den Abbau von Rechten – welcher Art auch immer – in liberalen Demokratien richten. Zum anderen die Megalothymia als die Energie, die sich gegen äußere Gruppierungen wendet, seien es vermeintliche Feinde, religiöse Gegner oder andere ethnische oder natio­nale Gruppen. Nach innen gerichtet wendet sie sich gegen die eigene Bevölkerung und verweigert ihr die fundamentalen individuellen, politischen und sozia­len Rechte. Sie ist die Energie, die Diktatoren antreibt.

Während die Isothymia die treibende Kraft für sozia­len und politischen Fortschritt sein kann, ist die Megalothymia von der Energie getrieben, zu unterdrücken, dominieren, grenzenlos zu herrschen. Die Assads dieser Welt, die den Kampf ihrer Bevölkerung um Anerkennung mit Bomben, Giftgas und Gewehren der Militärs unterdrücken, sind von megalothymischen Energien ebenso getrieben wie die totalitären Machthaber des 20. Jahrhunderts.
Am deutlichsten kommen Leidenschaften bei Revolutionen oder anderen Aufständen zum Ausdruck. Hannah Arendt hat als die stärkste und vielleicht gefährlichste aller revolutionären Leidenschaften die „Leidenschaft des Mitleidens“ genannt. Am Beispiel der französischen Revolution verdeutlicht sie die destruktive und verheerende Gewalt, die dadurch ausgelöst wurde.

Die politischen Käpfe der Neuzeit

In der Moderne taucht eine weitere politische, durch Emotionen angetriebene Kraft auf: die Masse. Alle Theo­retiker der Masse haben sie als ein eigenständiges politisches Subjekt betrachtet, das nicht von der Vernunft, sondern von Emotionen geleitet ist. Sie agiert nicht rational, sondern instinktiv, unkontrolliert, aggressiv, unmoralisch und gewalttätig. Tritt ein Führer hinzu, so verwandelt sich die vielköpfige Masse in ein einziges Wesen und die Kunst, die Masse aufzupeitschen – so ein Theoretiker – ist die Politik, eine auf die Füße gestellte Religion. Die Massenparteien waren die Organisationsform, die die Masse in die großen und blutigen politischen Kämpfe der Neuzeit geführt hat. Auch wenn wir es heute mit einem anderen Parteientypus, den professionalisierten Wählerparteien zu tun haben, sind sie immer noch Speicher des Zorns, der bei gegebenem Anlass aus dem Parteien-Container ausbricht und sich austobt. Man kann an der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Flüchtlingspolitik gut beobachten, wie alle Beteiligten mit eben diesen Emotionspolitiken arbeiten, um ihre jeweiligen Unterstützer motivational aufzuheizen. „Wir schaffen das“ ist ein isothymischer Appell, der die Affekte und Leidenschaften der Bevölkerung mobilisieren soll, während die Gegner eher auf megalothymische Energien setzen.

Platon hat in seinen Überlegungen über den Staat die menschliche Seele dreigeteilt und damit möglicherweise drei Grundmotive des politischen Handelns thematisiert: die Vernunft, die Interessen und die Leidenschaften. Die Vernunft steht für einen Prozess des Argumentierens, Abwägens, Diskutierens, bei dem sich die Beteiligten dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments beugen. Beim Kampf der Interessen dagegen spielen Drohungen, Ressourcen, Mobilisierung und Motivierung von Unterstützern und das Spiel mit Leidenschaften eine zentrale Rolle. Gleichwohl sind Interessen teilbar, man kann durch gegenseitige Tauschgeschäfte zu Kompromissen kommen. Leidenschaften dagegen sind nicht teilbar, die politischen Gegner gehen aufs Ganze und es kommt unvermeidlich zur Konfrontation, weil Identitäten ins Feld geführt werden. Nationale Identität versus ethnische Pluralität beziehungsweise forcierte Einwanderung, Pluralität versus Herrschaft einer Religion, säkulare und pluralistische Gesellschaften versus einheitliche Werteorientierung, Nationalstaat versus Europäisierung, Recht auf Abtreibung versus striktes Verbot – die Liste ließe sich unschwer ausweiten.

Man kann mit guten Gründen vermuten, dass die politischen und gesellschaftlichen Konflikte der heutigen Zeit nicht emotionsloser und dadurch rationaler bearbeitbar werden. Man muss im Gegenteil eher davon ausgehen, dass wir es mit der Zunahme von Emotionen und Leidenschaften zu tun haben, was Politik konflikthafter und womöglich gewalttätiger macht. Der Wutbürger wird die Politik weiterhin wie ein Schatten begleiten und durch ein Pendant ergänzt werden: den „Wutpolitiker“.