Hartes Pflaster

Politische Beratung aus dem Exil

Der russische Angriff auf die Ukraine und die gegen Russland verhängten Sanktionen haben zu einer massiven Flucht internationaler Investoren aus Russland geführt. In einem Dominoeffekt kündigte ein Großteil der in Russland tätigen multinationalen Unternehmen verschiedene Formen des Rückzugs an – von der vorübergehenden Aussetzung der Aktivitäten bis hin zur vollständigen Beendigung ihrer Geschäftstätigkeit in Russland.

Auch viele deutsche Investoren folgen diesem Weg, obwohl sie sich seit vielen Jahren auf dem russischen Markt engagieren und viel Geld in Schlüsselsektoren der russischen Wirtschaft investiert haben.

In Russland wurden die politischen Entscheidungsträger und die Regulierungsbehörden von der massiven Flucht ausländischer Unternehmen (einschließlich derjenigen, die in den letzten 20 Jahren die meisten Direktinvestitionen im Land getätigt haben) völlig unvorbereitet getroffen. Mit einer Reihe von Sondermaßnahmen haben sie versucht, das zu verhindern.

Die russische Reaktion auf die Abwanderung ausländischer Investoren ist vornehmlich reaktiv und defensiv. Multinationale Unternehmen haben einen erheblichen Marktanteil in kritischen Segmenten der russischen Wirtschaft wie Energie, Lebensmittel und FMCG, Versorgungsunternehmen und städtische Infrastruktur, IKT und weiteren mehr. Ihr Ausstieg birgt daher große, teils existenzielle Risiken für große Teile der Wirtschaft mit sich. Das zwingt den Kreml zu schnellem und außergewöhnlichem Handeln.

Die von Regierung und Behörden ergriffenen Maßnahmen erschaffen aber neue, sich schnell verändernde und hochgradig politisierte Risiken für ausländische Investoren. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Unternehmen gewillt ist, in Russland zu bleiben, das Land endgültig zu verlassen oder einen Zwischenweg zu gehen. Die Risiken reichen vom Verlust von Vermögenswerten über die strafrechtliche Verfolgung der Unternehmensleitung bis hin zu Gerichtsverfahren gegen den Hauptsitz des Unternehmens.

Heute scheint klar, dass der Krieg in der Ukraine noch lange andauern wird und die Sanktionen zumindest bestehen bleiben – oder sogar weiter verschärft werden. Dadurch entwickeln sich auch die politischen Risiken weiter und bleiben für multinationale Unternehmen in Russland von großer Bedeutung.

Der Umgang der russischen Regierung mit multinationalen Unternehmen, die das Land verlassen

Die erste Reaktion auf den Abzug ausländischer Unternehmen war chaotisch. Die Regierung versuchte, Investoren an der Flucht hindern, indem sie Druck auf Unternehmen ausübte, die ihre Absicht bekundet hatten, das Land zu verlassen. Aktuell ist die Regierung umgeschwenkt auf einen Ansatz der Schadensbegrenzung.

Da sie in den meisten Fällen keinen direkten Einfluss nehmen kann auf die Entscheidungen in den Zentralen der multinationalen Unternehmen, versucht es die russische Politik nun mit Zuckerbrot und Peitsche.

Unternehmen, die sich für einen Verbleib in Russland entschieden haben, werden rhetorisch unterstützt. Die russische Politik verspricht Garantien für ihre Investitionen. Bei Abwanderungswilligen kommt es auf die Art des Abgangs an: Ein „geordneter“ Ausstieg in Form des Verkaufs des Unternehmens an strategische lokale Partner oder Drittinvestoren, inklusive einer Garantie für den Erhalt von Produktionsanlagen und Arbeitsplätzen, wird als kleineres Übel toleriert oder sogar unterstützt.

Unternehmen, die den Behörden keine ausreichende Klarheit über die Zukunft ihres Geschäfts, ihrer Produktionsanlagen und ihrer Arbeitsplätze in Russland vermittelt haben, sind erheblichen Risiken ausgesetzt und werden unmittelbar bedroht von repressiven Maßnahmen.

Bei der Reaktion Russlands auf den Rückzug ausländischer Unternehmen reden zahlreiche Akteure mit oft gegensätzlichen Interessen mit. Auch deshalb mangelt es den politischen Maßnahmen an Kohärenz. Während die Regierung als wirtschaftspolitische Entscheidungsträgerin Signale der Sicherheit an Investoren sendet, die sich zum Bleiben oder zum geordneten Ausstieg entschlossen haben, arbeiten die Strafverfolgungs- und Aufsichtsbehörden auf eigene Rechnung. Sie üben Druck auf Unternehmen aus. Das sorgt für zusätzliche Verunsicherung und de facto zu weiteren Ausstiegen.

Wichtige Risiko- und Druckbereiche

Das sind allgemeine politische Tendenzen. Daneben hat sich in den vergangenen Wochen eine Reihe spezifischer Risikobereichen für multinationale Unternehmen herausgebildet. Sie drohen sowohl diejenigen Unternehmen, die Russland verlassen wollen, als auch jenen, die sich zum Bleiben entschieden haben. Einige dieser Risiken gehen von Akteuren aus, die zuvor nicht auf dem Radar der Unternehmen waren.

Zusammengefasst lassen sich folgende grundlegende Risikobereiche definieren:

1) Gesetzesinitiativen, die von der Regierung und der Präsidialverwaltung vorangetrieben werden. Dazu gehört ein Gesetzentwurf, der staatliche Organe ermächtigt, Unternehmen, die ihre Geschäftstätigkeit in Russland eingestellt haben, unter externe Verwaltung zu stellen. Außerdem stehen Änderungen des Strafrechts an, mit denen die Einhaltung von Sanktionen in Russland bestraft werden. Diese Gesetzesinitiativen sind noch nicht verabschiedet. Einige wurden gezielt verzögert, um ausländische Unternehmen, die sich zum Bleiben entschieden haben, nicht zusätzlich zu verunsichern.

2) Druck der Strafverfolgungsbehörden und der für den Verbraucherschutz, den Arbeitsschutz und andere Bereiche zuständigen Kontrollbehörden. Diese könnten Audits und andere Formen der Kontrolle sowie in einigen Fällen auch die strafrechtliche Verfolgung des russischen Top-Managements einleiten.

3) Druck durch die regionalen Verwaltungen. Das ist vor allem für Unternehmen von Bedeutung, die Produktionsstätten und eine große Anzahl von Arbeitsplätzen in den verschiedenen russischen Regionen haben. Die regionalen Gouverneure wurden de facto für die Bewältigung der Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf regionaler Ebene politisch verantwortlich gemacht. Das hat sie zu wichtigen Akteuren für multinationale Unternehmen gemacht. Mit ihnen muss künftig geredet werden.

4) Missbrauch von geistigem Eigentum und Marken. Als Reaktion auf die Sanktionen wurde eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die den Schutz des geistigen Eigentums für Unternehmen einschränken, die den russischen Markt verlassen haben. Das betrifft insbesondere die „Parallelimporte“, die es lokalen Importeuren erlauben, Produkte eines Herstellers in Konkurrenz zum Hersteller selbst anzubieten. Die „Kannibalisierung“ von Warenzeichen und Marken ist ebenfalls auf dem Vormarsch, obwohl es bisher noch keine Fälle gibt, in denen Unternehmensmarken direkt für die Verwendung durch Dritte zugelassen wurden.

5) Öffentliche Kampagnen. Einige dem Kreml nahestehende Nichtregierungsorganisationen üben öffentlichen Druck auf multinationale Unternehmen aus, die den russischen Markt verlassen haben. Teils beziehen sie dazu Strafverfolgungs- und Aufsichtsorgane ein.

6) Eigene Fehler des Unternehmens in der externen und internen Kommunikation stellen darüber hinaus oftmals politische Risiken dar. Öffentliche Unternehmenserklärungen können von externen Stakeholdern missverstanden werden und Bedenken über die Zukunft des Unternehmens hervorrufen. Intern könnte eine intransparente Kommunikation mit der lokalen Belegschaft zu einer Verunsicherung der Mitarbeiter in den Produktionsstätten führen und sie zu kontraproduktiven Maßnahmen motivieren, wie zum Beispiel negative Aufmerksamkeit auf ihren Arbeitgeber zu lenken oder sich sogar an staatliche Kontrollorgane zu wenden.

Was sollten Unternehmen tun, um politische Risiken zu minimieren?

Um politische Risiken zu minimieren, lassen sich einige Leitlinien für in Russland tätige ausländische Unternehmen formulieren:

  1. Unternehmen sollten für transparente Kommunikation zwischen den lokalen Niederlassungen und der Firmenzentrale sorgen – Ankündigungen der Zentrale zur Zukunft des Russlandgeschäfts sollten das lokale Team nicht unerwartet treffen. Das lokale Management muss die Abfolge der zu ergreifenden Maßnahmen verstehen, sobald ausreichend Klarheit herrscht.
  2. Es ist von entscheidender Bedeutung, eine klare Kommunikation mit den Mitarbeitern des russischen Büros und der Produktionsstätten aufzubauen und die Belegschaft während des gesamten Prozesses auf dem Laufenden zu halten. So kann Transparenz über die Zukunft von Arbeitsplätzen geschaffen werden.
  3. Die Neuausrichtung von Stakeholder-Mappings und Risikoüberwachungsprozessen ist wichtig, um die Aktivitäten der Stakeholder im Auge zu behalten, die beim „Management“ der Exits ausländischer Unternehmen eine Schlüsselrolle spielen. Dazu gehört etwa eine stärkere Berücksichtigung der Strafverfolgungsbehörden, der regionalen Verwaltung, der Arbeits- und Verbraucherschutzbehörden.
  4. Standpunkte und Positionen zu Fragen, die für Stakeholder von entscheidender Bedeutung sind (zum Beispiel Beschäftigung, Geschäftskontinuität, Verträge mit Lieferanten und Käufern) müssen erarbeitet und in eine öffentliche Erklärung integriert werden.
  5. Unternehmensentscheidungen sollten mit wirtschaftlichen und nicht mit politischen Argumenten begründet werden – die Bedeutung wirtschaftlicher Motive sollte vorrangig gegenüber politischen Beweggründen kommuniziert werden.
  6. Ein enger Kontakt zu den zuständigen Regierungsstellen soll sicherstellen, dass politische Entscheidungsträger ihre Entscheidungen nicht nur auf Grund von medialen Informationen treffen. So kann Missverständnissen vorgebeugt und die beiderseitige Erwartungshaltung von Stakeholdern besser gemanagt werden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 139 – Thema: Politische Events. Das Heft können Sie hier bestellen.