Die Parteijugend sucht einen neuen Platz im Machtgefüge

Jugendorganisationen

Am 24. November 2021 schlagen SPD, Grüne und FDP ein neues Kapitel in der deutschen Koalitionsgeschichte auf. Im Berliner Westhafen stellen die Protagonisten das erste Ampel-Bündnis auf Bundesebene vor. Der künftige Bundeskanzler Olaf Scholz verspricht eine „Politik der großen Wirkung“. Doch die Grüne Jugend stimmt in den Jubel über die „Fortschrittskoalition“ nicht ein. Den gesellschaftlichen Notwendigkeiten werde der Koalitionsvertrag nicht gerecht, teilt der Verband auf Twitter mit. Von Ampel-Euphorie keine Spur.

So fern sie sich auch ideologisch stehen: In ihrer Funktion ähneln sich die politischen Jugendorganisationen. Sie bilden den Nachwuchs ihrer Partei und sind gleichzeitig deren scharfe Kritiker. Sie denken weiter voraus und verweisen doch immer wieder auf die reine Lehre. Schließlich will man sich engagieren, um das Land zu verändern – und nicht, um zu hören, was alles nicht geht.
Die Ampelkoalition hat auch für die Jugendorganisationen neue Herausforderungen und neue Rollen mit sich gebracht. Veränderungs- und Gestaltungswille stoßen auf die Zwänge einer ungleichen Regierungskonstellation. Erst recht, seit der russische Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen Pläne und Gewissheiten ins Wanken gebracht haben.

Revolution oder Realpolitik?

Wohl nirgendwo zeigt sich das so deutlich wie bei den Grünen. Nirgends ist die Kluft zwischen Jugendorganisation und Partei derzeit so groß. Die Grüne Jugend versteht sich als linker Verband, während in der Bundesregierung die Realos den Ton angeben. Die Grüne Jugend stellte ihre Sommerakademie in diesem Jahr unter den Titel „Reform und Revolution“, während die grünen Minister knallharte Realpolitik betreiben müssen, Waffenlieferungen befürworten, Kohlekraftwerke aus der Reserve holen.

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„Das ­Problem ist, dass die Ampel zu wenig handelt.“

Sarah-Lee Heinrich, Co-Sprecherin Grüne Jugend (c) picture alliance/dpa/Kay Nietfeld

„Die Unterschiede zur Partei sind deutlicher geworden“, sagt Sarah-Lee Heinrich. Aber die Co-Sprecherin der Grünen Jugend will deshalb nicht von ihren Standpunkten abrücken. Die Jung-Grünen sehen sich vielmehr bestätigt in ihrer Kritik am Koalitionsvertrag, bei dem sie früh eine soziale Schieflage bemängelt hatten. „Utopie und praktisches politisches Handeln gehören für uns zusammen. Das Problem ist nicht, dass die Grüne Jugend zu große Ambitionen hat. Das Problem ist, dass die Ampel zu wenig handelt“, findet Heinrich. „Eine Regierung sollte den Anspruch haben, das Leben der Menschen zu verbessern – und sich nicht im Klein-Klein verlieren, wie wir es im Verkehrsbereich oder bei den Entlastungen erleben.“

Ähnlich hört sich das bei der Bundesvorsitzenden der Jusos an. „Wir geben uns nicht nur mit kleinen Schritten der Veränderung zufrieden. Wir messen Politik daran, ob sie auch große Veränderungen zustande bringt“, sagt Jessica Rosenthal. Die SPD-Jugend hat es unter Rosenthals Vorgänger Kevin Kühnert zu großem Selbstbewusstsein gebracht. Sie nimmt für sich in Anspruch, die Gesamtpartei nach links gezogen zu haben. „Die vergangenen Jahre haben den Jusos so viel Einfluss gebracht wie nie zuvor. Wir haben die Dynamik der Partei verändert und geprägt“, sagt Rosenthal.
In der SPD-Bundestagsfraktion waren nach der Wahl 49 der 206 Mitglieder unter 35 und damit im Juso-Alter. Theoretisch könnten sie damit Beschlüsse der Koalition verhindern – praktisch wird das kaum passieren. Denn die jungen Sozialdemokraten formen keinen einheitlichen Block, ihre inhaltliche Positionierung reicht wie in der Gesamtfraktion von der Parlamentarischen Linken bis zu den konservativen Seeheimern. Es gibt zwar eine 49er-WhatsApp-Gruppe, doch der Austausch dort stockt noch.

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„Die vergangenen Jahre haben den Jusos so viel Einfluss ­gebracht wie nie zuvor.“

Jessica ­Rosenthal, Bundes­vorsitzende Jusos (c) picture alliance/SZ Photo/Rainer Unkel

Eine Revolution haben sowohl die Jusos im Bundestag als auch die jungen Grünen-Abgeordneten bisher nicht angezettelt. Sie suchen eher eine Balance zwischen Widerspruch und Disziplin. Als der Bundestag das 100 Milliarden Euro teure Sondervermögen für die Bundeswehr beschloss, gab es aus der Grünen-Fraktion nur vier und aus der SPD-Fraktion neun Nein-Stimmen. Auch Jessica Rosenthal stimmte dagegen. Sie erklärte ihre Position zwar in der Öffentlichkeit – warb aber nicht offensiv dafür.

Karrieresprungbrett

Mit Rosenthal ist erstmals eine Juso-Vorsitzende wiedergewählt worden, nachdem sie in den Bundestag eingezogen ist. Grüne Jugend und Junge Liberale lassen die Kombination von Mandat und Vorsitz nicht zu. Auch die Jusos diskutierten darüber, doch aus Rosenthals Sicht zahlt sich die Doppelbelastung aus: „Es fällt uns so leichter, unsere Positionen in die Fraktion einzubringen.“ Das nimmt jedoch auch die Grüne Jugend für sich in Anspruch: Deren Sprecher können auch ohne Mandat an jeder Fraktionssitzung teilnehmen.

Alle Jugendorganisationen legen Wert auf Eigenständigkeit. Sie wollen nicht als Anhängsel oder Kaderschmiede der Partei verstanden werden – auch wenn sie Letzteres faktisch sind. Der Bundesvorsitz der Jungen Union war in den vergangenen Jahren oft das Sprungbrett für eine politische Karriere. Gerhard Schröder und Andrea Nahles haben als Juso-Chefs, Guido Westerwelle und Johannes Vogel als Bundesvorsitzende der Julis erstmals von sich reden gemacht. Die Grüne Jugend war da bisher eher eine Ausnahme – mehrere Bundessprecher entschieden sich gegen eine politische Karriere. „Wir bilden Menschen dafür aus, in der Partei, aber auch an anderen Orten zu wirken“, sagt Sarah-Lee Heinrich. „Wir schicken sie auch in die sozialen Bewegungen und die Zivilgesellschaft.“ Trotzdem ist auch die Grüne Jugend zunehmend eine Talentschmiede für die Partei. Die jetzige Co-Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang hat früher die Jugendorganisation geführt, viele junge Abgeordnete haben zuvor auf Landesebene in der Grünen Jugend gewirkt.

Besonders kurz sind die Wege zwischen Jugendorganisation und Fraktion bei den Liberalen. Die Julis betonen zwar ebenfalls, von der FDP finanziell, organisatorisch und strukturell unabhängig zu sein. Allerdings seien sie durchaus das „perfekte Becken für junge Talente“, sagt die Vorsitzende Franziska Brandmann. Praktisch alle jungen FDP-Bundestagsabgeordneten hatten zuvor führende Posten bei den Julis auf Bundes- oder Landesebene inne.

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„Die Schulden­bremse ist kein Selbstzweck.“

Franziska ­Brandmann Bundes­vorsitzende Junge Liberale (c) picture alliance/dpa/Michael Kappeler

Im Vergleich zu SPD und Grünen ist die ideologische Distanz zwischen Julis und FDP geringer. In der Ampel fällt die Partei vor allem mit dem Festhalten an liberalen Prinzipien auf. Das bremst mögliche Konflikte mit den Julis. Trotzdem ist die Koalition auch für die FDP kein Selbstläufer – das zeigten nicht zuletzt die Landtagswahlen in diesem Jahr. Sie nehme wahr, „dass der eine oder andere in der Partei nervös wird“, sagt Franziska Brandmann. Die Jungen Liberalen seien aber von Anfang an gelassen an die Koalition herangegangen: „Für uns ist die Ampel eine Möglichkeit, nach 16 Jahren Unionsregierung endlich jahrelang blockierte gesellschaftspolitische Reformen anzugehen. Marktwirtschaftliche Reformen und gesellschaftliche Progressivität – wir stehen weiter für beides.“

Die liberale Parteijugend ist also eher ein verbindendes Element in der Ampelkoalition – auch wenn sie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ebenso auf liberale Grund­überzeugungen pocht wie die FDP. Man müsse sie nur noch besser erklären, findet Brandmann: „Die Schuldenbremse ist kein Selbstzweck. Sie ist uns wichtig, weil sie sicherstellt, dass auch die nächsten Generationen finanzielle Spielräume für gute Sozialpolitik haben.“

Neusortieren in der Opposition

Die Regierungsarbeit der nahestehenden Partei zu kritisieren, kann für Jugendverbände mühsam und frustrierend sein. Jusos, Grüne Jugend und Junge Liberale sind in den vergangenen Jahren gewachsen, Grüne Jugend und Julis haben ihre Mitgliederzahl sogar verdoppelt. Da will man die Erwartungen der eigenen Basis nicht enttäuschen, weil die „großen Schwestern“ an den Hebeln der Macht zu wenig umsetzen.

Allerdings verspricht der Status als Jugendorganisation einer Regierungspartei auch verstärkte mediale Aufmerksamkeit. Wenn die Jusos das Sondervermögen des SPD-Kanzlers oder die Grüne Jugend die Gasumlage des grünen Wirtschaftsministers kritisieren, erzeugt das ein großes Echo. Dass die AfD-Jugend Junge Alternative und die Linksjugend Solid politisch eine geringere Rolle spielen, hängt auch mit der dauerhaften Oppositionsrolle ihrer Parteien auf Bundesebene zusammen. Die Linksjugend hat in diesem Jahr nur für Aufsehen gesorgt, als sie die konsequente Aufklärung von Vorwürfen sexueller Übergriffe in der Partei einforderte.

Gewöhnungsbedürftig ist die neue Lage für die Junge Union (JU). Solange sie die Arbeit der eigenen Bundesregierung kritisch begleitete, war ihr große Aufmerksamkeit gewiss. Jetzt muss sich auch die Jugend von CDU und CSU neu sortieren. „Als Jugendorganisation der Partei der Kanzlerin waren wir stark auf tagesaktuelle Fragen, auf gutes Regieren fokussiert“, sagt Tilman Kuban, der drei Jahre lang Bundesvorsitzender der JU war und am 18. November von Johannes Winkel abgelöst wurde. „Jetzt stehen wir vor langfristigen Fragen. Die Union muss ihre neue Rolle finden.“

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„Die Union muss ihre ­Rolle neu ­finden.“

Tilman Kuban, früherer Bundes­vorsitzender Junge Union (c) picture alliance/Flashpic/Jens Krick

Dass die Medien weniger Interesse zeigen, sei einerseits ein Problem. Andererseits biete das die Chance zu neuer Geschlossenheit. Schließlich sei die Union jetzt als Ganzes in der Opposition. Das schweiße zusammen, sagt Kuban. Die Junge Union wolle aber auch die Digitalisierung der Parteiarbeit vorantreiben und dem neuen Grundsatzprogramm einen Stempel aufdrücken. In jeder Arbeitsgruppe der Grundsatz- und Programmkommission sei die JU mit mindestens einem Mitglied vertreten. „Für uns ist es ganz wichtig, unsere Positionen früh einzubringen.“

In den Merkel-Jahren fiel der Jungen Union die Rolle der konservativen Kritikerin zu. Doch die Oppositionsrolle und der eher konservative Friedrich Merz an der CDU-Spitze eröffnen neue inhaltliche Baustellen. Die Jusos sind linker als die SPD, die JU konservativer als die CDU? Das ist aus Sicht von Tilman Kuban ein Klischee. Er pocht auf einigen Politikfeldern auch auf Modernität und Wandel. Die JU spricht sich zum Beispiel für eine Rentenreform und mehr Offenheit für die Einwanderung von Fachkräften aus. Und für eine stärkere Rolle Europas: „Meine Generation ist in Europa groß geworden. Es wird eine große Aufgabe sein, die Europäische Union als geopolitische Institution zu verstehen und sie in eine neue Zeit zu bringen“, sagt Kuban. „Das müssen wir pushen, da werden wir dranbleiben.“ Sich einfach hinter der großen Schwester einzureihen – das ist für eine Jugendorganisation eben keine Option. Auch nicht in der Opposition.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 140 – Thema: Anspruchsvoll. Das Heft können Sie hier bestellen.