Wahrheit und Lüge im US-Wahlkampf

International

Diesen Angriff hatte John Kerry sorgfältig vorbereitet. In einem Fernsehduell des hart umkämpften US-Wahlkampfs 2004 warf er seinem Gegner George W. Bush vor, mit seinen Steuerplänen für kleine Unternehmen in die eigene Tasche zu wirtschaften. “Der Präsident hat 84 Dollar von einer Holzfirma bekommen, die ihm gehört”, so Kerry. “Mir gehört eine Holzfirma? Das ist mir neu”, sagte ein sichtlich überraschter Bush. Doch er spürte, dass er irgendwie in die Offensive kommen musste. So setzte er ein Verkäuferlächeln auf, öffnete die Arme und sprach Millionen von Zuschauer direkt an: “Brauchen Sie Holz?” 

Was folgte, war die große Stunde der Faktenchecker, jener Journalisten und Experten, die jede Aussage der Kandidaten auf ihren Wahrheitsgehalt überprüften. Was hatte es mit diesen ominösen 84 Dollar aus Bushs Steuererklärung auf sich? Am Ende erwies sich der Vorwurf als dünn und Bush landete mit seiner Holzverkäuferpose einen Punktsieg. Um später mit seiner Begründung für den Irakkrieg weit weniger Gnade bei den Wahrheitssuchern zu finden.   

Das fact checking war neu, aufregend und einfluss­reich. Es gab dem Beobachter aus Deutschland das wohlige Gefühl, dass selbst im an Tricks, Finten und Großspenden reichen US-Wahlkampf der Sieg nur über die Wahrheit führt. Noch heute drucken, senden und tweeten die zahlreichen Faktenchecker. Sie haben weit mehr zu beanstanden als 84 Dollar aus Holzverkäufen.

Pinocchios für Trump und Clinton

Donald Trump hat im Faktencheck der “Washington Post” für zwei Drittel seiner überprüften Aussagen die Höchstbewertung von vier Pinocchios bekommen. So will er am 11. September 2001 Tausende von Muslimen gesichtet haben, die den Angriff auf das World Trade Center bejubelten. Wo die offizielle Statistik fünf Prozent der Amerikaner ohne Job ausweist, siedelt Trump die Arbeitslosenquote bei 42 Prozent an. Dennoch gilt er seinen Anhängern als Kandidat, der unangenehme Wahrheiten ausspricht.

Im Wahlkampf 2016 spielen Tatsachen nur eine Statistenrolle. Hillary Clintons Aussagen erhalten deutlich seltener eine lange Nase. Aber nach Jahrzehnten in der Politik steht es auch um ihren Ruf nicht zum Besten. Ihre Aussage, sie habe als Außenministerin keine klassifizierten Informationen über ihren privaten E-Mail-Account verschickt, trug ihr ebenfalls vier Pinocchios ein. Für ihren Vornamen habe der berühmte Bergsteiger Sir Edmund Hillary Pate gestanden, so eine frühere Geschichte der Kandidatin. Jener bestieg den Mount Everest aber erst sechs Jahre nach Hillarys Geburt und war vorher weithin unbekannt.

Die Aussagen der Kandidaten sind nur die Spitze des Eisbergs. Auf tendenziösen Portalen und in sozialen Medien blühen Diffamierungen und Verschwörungstheorien, die von den politischen Kampagnen gerne genutzt werden. “Das fact checking der Mainstream-Medien hat keine Wirkung mehr”, sagt der Chefredakteur der “Washington Post”, Marty Baron. Es habe sich eine “virtuelle Realität” breit gemacht, beklagt er. Lügen würden als Tatsachen akzeptiert und Verschwörungstheorien “schlagen Wurzeln auf dem fruchtbaren Boden von Unwahrheiten”.   

Im angelsächsischen Raum hat sich für dieses neue Phänomen ein Begriff herausgebildet: post-truth politics. Die Brexit-Befürworter haben sich ausdrücklich auf diesen amerikanischen Wahlkampftrend berufen: “Facts don’t work”, sagte Arron Banks, größter Finanzier der EU-Gegner – und behielt recht. Der Post-Wahrheit-Politiker glaubt nicht, dass sich seine Wähler für Fakten interessieren und opfert diese zu gerne der Fiktion. Das erklärt, warum selbst auf frischer Tat erwischte Faktenverdreher sich uneinsichtig zeigen, zuweilen ihre Lüge umso beharrlicher weiterverbreiten.

In den USA rankt sich eine Vielzahl von Unwahrheiten um den amtierenden Präsidenten Barack Obama. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Amerikanern nimmt für bare Münze, dass er außerhalb der USA geboren, Muslim oder gar Gründer des IS sei. Ironie der Geschichte: Selten dürfte es einen so rational denkenden und an wissenschaftlicher Expertise interessierten Präsidenten gegeben haben wie den Harvard-Juristen Obama.

Misstrauen gegenüber dem Establishment

Das Zeitalter der Post-Wahrheit-Politik geht einher mit dem Vertrauensverlust in jene, die so gerne mit Zahlen, Daten und Fakten operieren. Bei ihnen wird nicht Sachverstand, sondern Spin vermutet. Ein Brief von 50 republikanischen Sicherheitsberatern, die vor Donald Trump warnten, kehrte sich gegen sie selbst. Sie wollten doch nur ihr eigenes Versagen kaschieren, hieß es. Experten und Wissenschaftler werden als interessengeleitet, klassische Politiker als korrupt, Medien als parteiisch hingestellt. Die amerikanische Variante der “Lügenpresse”. Anti-Establish­ment-Kandidaten sind so erfolgreich, weil sie denen widersprechen, denen man ohnehin kein Wort mehr glaubt.

Die Ausläufer dieses US-Wahlkampftrends haben Deutschland längst erreicht. Kein Wunder, sind doch die Ursachen der Post-Wahrheit-Politik nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Die sozialen Medien, besser gesagt ihre Nutzer, umgehen journalistische Prüfkriterien. Anders als die traditionellen Faktenchecker in den Redaktionen belohnen die Algorithmen Popularität, nicht Wahrheit einer Aussage. Windige Geschichten werden, einmal in die Welt gesetzt, weitergeweht. Aus Angst, den Anschluss zu verpassen, springen klassische Medien auf halbgare Neuigkeiten auf.  

Suchmaschinen und soziale Netzwerke sind so perfekt auf uns Suchende abgestimmt, dass wir auf uns angenehme Ergebnisse stoßen. So lesen und hören wir überwiegend das, was unserer Meinung entspricht. Und wiegen uns zugleich in dem Gefühl, dass fast alle so denken. In den USA ist nach einer Untersuchung des Pew-Instituts die Entfremdung zwischen den politischen Lagern so schlimm wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Etwa die Hälfte aller Demokraten und Republikaner empfindet es als “stressig und frustrierend”, mit einem Anhänger der jeweils anderen Partei über Politik zu diskutieren. Dabei lebt Demokratie von genau diesem Austausch der Argumente.

Anfällig für Wahrheitsverdreher macht die USA auch – und hier ist die Parallele zu Deutschland augenfällig – ihr ausbalanciertes und damit schwerfälliges politisches System. Es bringt den Bundesstaat mit den Regionen in Konflikt, lässt den Präsidenten mit dem Kongress kämpfen – und alle zusammen wiederum mit dem Supreme Court. Das macht es Anti-Establishment-Kandidaten leicht, das System als schwach und ineffizient darzustellen. Dabei gehören gerade Interessenausgleich und unterschiedliche Instanzen zum Wesen der Demokratie.

Es wäre zu einfach, allein die Umstände zu beschuldigen. Auch in den USA versuchen tapfere Politiker und Kommentatoren aller Couleur, sich dem Abdriften in die Post-Wahrheit-Politik entgegenzustellen. Ob der Wahlkampftrend der Wahrheitsverdrehung nach Deutschland überschwappt, wird also auch vom Verantwortungsbewusstsein unserer politischen Eliten und Kommunikatoren abhängen. Denn klar ist: Mit Post-Wahrheit, besser gesagt Lüge, lässt sich möglicherweise eine Wahl gewinnen – aber eine Demokratie verlieren.

Wichtige Fact-Checking-Webseiten

1 PolitiFact
ist ein mit dem Pulitzer-Preis gekröntes Projekt, das von der „Tampa Bay Times“ betrieben wird. Höchststrafe ist das einem amerikanischen Kinderreim entlehnte „Liar, liar, pants on fire!“. Damit werden besonders dreiste Lügen bezeichnet.  
www.politifact.com

2 FactCheck.org
ist ein von privaten Spendern finanziertes Portal des Annenberg Public Policy Centers, das insbesondere politische Wahlwerbung unter die Lupe nimmt.  
www.factcheck.org

3 Sunlight Foundation
ist eine überparteiliche Non-Profit-Organisation, die sich für Transparenz und offenen Zugang zu Daten einsetzt.
www.sunlightfoundation.com

4 Snopes.com
ist ein Portal, das von einem kalifornischen Ehepaar betrieben wird. Überprüft werden vor allem politische Gerüchte und Legenden, die meist von Lesern gemeldet werden.
www.snopes.com

5 Fact Checker der “Washington Post”
Größere Medien haben ihre eigene fact-checking-Seite. Die der „Washington Post“ betreibt der Journalist Glenn Kessler. Wahrheitsverdrehungen bewertet er auf einer Skala von einem bis vier Pinocchios.
www.washingtonpost.com/news/fact-checker

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation III/2016 US-Wahl/International. Das Heft können Sie hier bestellen.