Jeremy Corbyn und die Macht des Basis-Netzwerks

Politik

Es sollte eine Wahl werden, die man nicht verlieren kann. Als Premierministerin May im April vorgezogene Neuwahlen ausrief, hatte sie einen Vorsprung von 20 Prozentpunkten auf ihren Herausforderer Jeremy Corbyn. Sechs Wochen später rettete sie einen Vorsprung von zwei Prozentpunkten ins Ziel. Die absolute Mehrheit futsch, die Parteifreunde verärgert, die eigene Zukunft ungewiss.

Die Kampagne der Konservativen war ganz auf May zugeschnitten, doch die Premierministerin ist keine geborene Wahlkämpferin. Für ihre handwerklichen Fehler bekam sie vom Wähler die Quittung. Ihr Handeln und ihre Aussagen passten nicht zusammen. Den Wählern war nicht zu vermitteln, wie ihre mantrahaft vorgetragene Botschaft “strong and stable leadership” zu einigen Schlüsselaktionen passten. So weiß nur sie und ihr enger Kreis an Beratern, weshalb sie die Fernsehdebatte mit Jeremy Corbyn scheute, im Wahlkampf meistens abgeschirmt vor eigenen Mitgliedern und Anhängern auftrat und bei dem Thema Pflegeversicherung im Alter eine 180-Grad-Kehrtwende machte. Ein Bild von Stärke und Stabilität hat sie so jedenfalls nicht vermittelt. Noch am Wochenende übernahmen ihre zwei Stabschefs, Nick Timothy und Fiona Hill, Verantwortung und traten zurück.

Unterstützung aus den USA

Jeremy Corbyn, von weiten Teilen der politischen, medialen und wirtschaftlichen Elite verlacht, machte im Wahlkampf eine bessere Figur. Er gab sich offen, sprach vor hunderten von Bürgern auf Marktplätzen, vermied persönliche Angriffe und überzeugte in der Fernsehdebatte. Zudem hat er mit “Momentum” ein Unterstützernetzwerk, das europaweit seinesgleichen sucht, eine enthusiastische und schlagkräftige Vereinigung im Schatten der Partei. Bereits zweimal hat ihn diese linke Gruppierung zum Sieg gegen das Partei-Establishment getragen. Jetzt hat sich gezeigt, dass die im Oktober 2015 gegründete, 24.000 Mitglieder starke Gruppe auch in der Parlamentswahl ein echtes Ass ist, das sticht.

Seine wahre Stärke zeigte Momentum in zweierlei Hinsicht: im Häuser- beziehungsweise Straßenwahlkampf sowie im Einsatz der sozialen Medien. So wurde eigens ein Tool entwickelt, mit dem Interessierte im Internet den jeweils nächstgelegenen heftig umkämpften Wahlkreis finden konnten. Nach eigenen Aussagen machten mehr als 100.000 Nutzer Gebrauch von dem Angebot.

Unterstützt wurde Momentum von Mitgliedern des Wahlkampfteams von Bernie Sanders, dem US Senator, der Hillary Clinton im vergangenen Jahr einen erbitterten Kampf um die Nominierung der US-Demokraten lieferte. Gemeinsam wurden nach Aussage eines Momentum-Sprechers mehr als 3.000 Wahlkampfhelfer speziell ausgebildet, die gezielt in umkämpften Wahlkreisen zum Einsatz kamen.

Bedeutung der Aktivisten wächst

Eine weitere herausragende Rolle spielten parteiübergreifende Lobbyverbände. Open Britain ist eine dieser Gruppen. Die pro-europäische Graswurzelbewegung, in der Labour Grandseigneur Lord Mandelson eine führende Rolle spielt, wurde erst im vergangenen Jahr gegründet. Sie fokussierte sämtliche Aktivitäten – Geld und Manpower – auf 40 Wahlkreise. In 20 der ausgewählten Stimmbezirke ging es um die Absicherung eines pro-europäischen Abgeordneten, in den anderen 20 Wahlkreisen wurden Bewerber gegen europakritische, meist konservative Amtsinhaber unterstützt.

Die Strategie ging auf. In Kingston and Surbiton holte beispielsweise der Kandidat der Liberalen das Mandat mit einem Zuwachs von 10,3 Prozentpunkten, im Wahlkreis Oxford West gewann der liberale Herausforderer sogar mit einem Zuwachs von nahezu 15 Prozentpunkten und das, obwohl die Liberalen landesweit sogar hinter ihrem Ergebnis von 2015 blieben. Doch auch Labour profitierte von der pro-europäischen Gruppierung. Im Wahlkreis Bristol North eroberte der Kandidat der Arbeiterpartei den Sitz mit einem Zuwachs von mehr als 16 Prozentpunkten. In sieben von 20 Wahlkreisen ging die Taktik von Open Britain auf. In zwei weiteren reduzierte sich der Vorsprung von 8.000 auf weniger als 400 Stimmen.

Rückkehr zum Zwei-Parteien-System

Stärker als bei den letzten Wahlen zeigte das Zwei-Parteiens-System seine ganze Härte gegenüber den kleinen Parteien. Im Wettstreit der Systeme wurden die kleinen Parteien zwischen Labour und Tories aufgerieben. Dies musste insbesondere die europaskeptische United Kingdom Independence Party (UKIP) erfahren, die vor zwei Jahren mit 13 Prozent noch auf Platz drei lag. Doch mit der Abstimmung über den Brexit ist der monothematischen Partei im vorigen Jahr das Thema abhanden gekommen. Nach einem Minus von elf Prozentpunkten und dem Abtritt des Vorsitzenden Paul Nutall befindet sich die Partei in Auflösung.

Die Liberalen stabilisierten sich zwar, konnten aber nur in einigen wenigen Wahlkreisen Achtungserfolge erzielen. Während der ehemalige Vizepremierminister Nick Clegg seinen Wahlkreis verlor, zogen mit Vince Cable, ehemaliger Wirtschaftsminister, und Ed Davey, ehemals Energieminister, bekannte Gesichter in das Parlament ein. Verluste gab es auch bei den Grünen, die jedoch aus taktischen Gründen nicht in jedem Wahlkreis Kandidaten aufgestellt hatten, sondern oftmals aussichtsreiche Bewerber der Arbeiterpartei unterstützen.

Mays Zukunft ist unsicher

Die Zukunft von May sieht düster aus. Mit der unnötigen und selbstverschuldeten Niederlage hat sie nicht nur den Rochus derjenigen konservativen Abgeordneten auf sich gezogen, die ihr Mandat verloren haben. Unzufriedenheit herrscht auch an der Basis und in den Parteiflügeln. Anders als ihr Vorgänger oder auch als Außenminister Boris Johnson verfügt May bei den Konservativen über keine Hausmacht, die sich themenunabhängig wie eine prätorianische Garde vor sie stellt. Dies wird sie in den kommenden Wochen und Monaten zu spüren bekommen. Mit Außenminister Boris Johnson und Innenministerin Amber Rudd stehen Alternativen an der Spitze von einflussreichen Ministerien für die Nachfolge bereit.

Während Mays Position geschwächt ist, hat sich der in den eigenen Reihen unbeliebte Jeremy Corbyn durch seinen unerwarteten Erfolg erst einmal Luft verschafft. Martin Schulz war einer der ersten europäischen Sozialdemokraten, der ihm nach Auszählung der Stimmen telefonisch zu seinem Sieg gratulierte und dabei gleich ein Treffen anregte, um von seinem Erfolgsmodell zu lernen. Zwar ist die Ausgangssituation in den Umfragen vergleichbar, doch Schulz sollte nicht vergessen, dass Angela Merkel etwas von Wahlkampf versteht.