Deutschland hat verlernt, was ein politischer Skandal ist

Politik

Diese Bayernumfrage dürfte das Weltbild einiger Politiker, Journalisten und Twitterinfluencer erschüttert haben. 17 Prozent für die Freien Wähler. Zwei Punkte vor den Grünen. Die CSU sackt um einen Prozentpunkt ab auf negativrekordverdächtige 36 Prozent. So zeigte es eine Infratest-Dimap-Umfrage, die Mitte September herauskam.

Am Anfang stand ein Artikel der “Süddeutschen Zeitung”. Darum ging es um ein Flugblatt, das im Schuljahr 1987/88 am Burkhart-Gymna­sium in Mallersdorf-Pfaffenberg kursierte, und im Schulranzen des 17-Jährigen Hubert Aiwanger gefunden wurde. Der sollte später Politiker werden und – Bayerns Wirtschaftsminister. Im Flugblatt ging es um ein Preisausschreiben für “Vaterlandsverräter”. Preise unter anderem: ein “Freiflug durch die Schornsteine von Auschwitz” oder ein Genickschuss. Geschmacklos und widerlich. Die “SZ” war sicher: Aiwanger war der Autor.

Der Artikel las sich wie eine Anklage, vielleicht sogar wie ein Urteil. Dafür, dass der Artikel ein Hitpiece war, stehen Sätze wie: “Nach Erding haben alle gefragt, ob sich da einer radikalisiert. Aber vielleicht ist das die falsche Frage. Vielleicht ist die Frage, ob dieser Hubert Aiwanger schon immer so getickt hat.” Eine rhetorische Frage. Die “SZ” trat an, sie mit “Ja” zu beantworten. Dabei verhehlte sie auch kaum ihr Ziel: Hubert Aiwanger zu Fall zu bringen, die “Welle” zu brechen, die er seit seiner Erding-Rede reite.

Eine Kampagne?

Wie Berichterstattung las sich der Artikel nicht. Dazu wäre es nötig gewesen, auch die Zweifel unterzubringen. Zum Beispiel den Zweifel daran, warum der Fehltritt eines 17-Jährigen die Karriere eines Berufspolitikers 35 Jahre später zerstören soll. Zum Beispiel den Zweifel, warum diese Geschichte kurz vor einer wichtigen Landtagswahl an die Zeitung herangetragen wurde. Oder den Zweifel daran, ob die Aussagen belastbar genug waren, um eine Urheberschaft am Flugblatt zweifelsfrei nachzuweisen. Das alles ist nicht geschehen. Angesprochen standen diese Zweifel höchstens, weil die Autoren des Artikels sich die Mühe machten, sie zu entkräften, bevor Sie von außerhalb erhoben würden.

Der “Süddeutschen Zeitung” eine Kampagne vorzuwerfen, lag einfach zu nahe. Das Flugblatt war auf Aiwangers Schreibmaschine geschrieben worden. Das Gutachten hob sich die “SZ” für einen späteren Tag auf, dazu noch Kommentare, Berichterstattung über die Berichterstattung. Zweifel an der Schuldhaftigkeit Aiwangers wurden nicht wirklich berücksichtigt. Aiwangers Bruder Helmut hat inzwischen behauptet, Autor des Flugblatts zu sein. Den “SZ”-Chefredakteur interessierte das nicht. Er legte nach und forderte in einem Leitartikel den sofortigen Rücktritt Aiwangers: “Auf die Urheberschaft kommt es nicht mehr an, der Rest ist schon schrecklich genug”, schrieb er. Was kümmert mich meine Zeitung von gestern?

Hubert Aiwanger präsentiert sich seither als Zielscheibe einer angeb­lichen Kampagne der Medien und seiner politischen Gegner. In einem Interview sagte er: “In meinen Augen wird hier die Schoa zu parteipolitischen Zwecken missbraucht.” Das riecht nach Strohmann. Aber der politische Gegner tat Aiwanger den Gefallen. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese erblickte in einem “Rheinische Post”-Interview “eine Geisteshaltung, die nur noch eine Konsequenz haben kann: Rücktritt”. Selbst der Bundeskanzler – selbst wegen Erinnerungslücken in der Cum-Ex-Affäre im Feuer – mahnte schonungslose Aufklärung an. Mittlerweile ist bekannt, dass die SPD vorab über die “SZ”-Geschichte Bescheid wusste.

Viele Medien stritten mit. “So einfach, wie er es sich dachte, kommt Hubert Aiwanger sicher nicht davon”, kommentierte der Südkurier. “Der Bruder meldet sich als Verfasser des unsäglichen Flugblatts, und der Fall ist erledigt? Antisemitismus ist ein schwerwiegender Vorwurf, der für jedes Regierungsamt disqualifiziert, auch wenn der Vorfall lange zurückliegt.” Neben anderen Medien war auch der “Bild” schnell das Maß voll: “Er ist seines Amtes nicht würdig.”

Aiwanger spielt es anders

Hubert Aiwanger hatte viele Möglichkeiten, die Geschichte zu entschärfen. Er hätte sich gleich entschuldigen und erklären können, wie schädlich und abscheulich das Flugblatt war. Die Menschen mögen Geschichten über Reue und inneres Wachstum. Markus Söder hatte ihm mit 25 Fragen den Weg dazu geebnet. Aiwanger dachte gar nicht daran, ihn zu betreten.

Stattdessen: Widersprüche, Erinnerungslücken, Salamitaktik. Politikberater raten dringend davon ab, in Medienschelte zu verfallen. Sie empfehlen: Still leiden, entschuldigen, Augen zu und durch. Aiwanger ignorierte das und klagte: “Der Aiwanger soll verbrannt werden.”

Aiwanger erklärte sich zum Opfer der Medien, und viele Bürger glaubten ihm. “Auch ich habe in meiner Jugend Scheiß gemacht”, erklärte er lapidar im Bierzelt. Viele Bürger haben still genickt: Ja, ich auch. Und viele empfangen es wohl als ungerecht, einen Politiker an einem über 30 Jahre alten Flugblatt zu messen, von dem unklar ist, ob er es selbst geschrieben hat.

Da fiel es nicht mehr schwer ins Gewicht, wie unstimmig Aiwangers Reaktionen waren. Wie passt es zusammen, dass sich Aiwanger nicht an Details rund um das antisemitische Flugblatt aus seiner Schulzeit erinnert, zugleich aber von einem einschneidenden Erlebnis spricht? Das fragten sich einige. Da war es aber schon zu spät für eine unabhängige, neutrale Bewertung des Ganzen. Aiwanger und seine Gegner haben die Lautstärke aufgedreht, da war für Zwischentöne kein Platz mehr.

Genützt hat es am Ende vor allem Aiwanger. “Auf die übergroße Mehrheit wirkten die oppositionellen Ankläger offensichtlich nicht wie mutige Aufklärer, sondern wie übereifrige Wahlkämpfer, die in uralten Schultaschen wühlen, dort aber keine handfesten Beweise finden und trotzdem sofort nach Entlassung rufen”, schrieb die linke “Taz”. “Ein zielgenauer, überlegter und erfolgreicher Kampf gegen rechts sieht anders aus.”

Medien in der Krise

An der Affäre Aiwanger hat sich eines deutlich gezeigt. Der politische Journalismus muss in Deutschland um seine Glaubwürdigkeit kämpfen. Leider konnte sich kaum ein Journalist dem Mechanismus entziehen, sich auf eine von zwei Seiten zu schlagen. Das verlangt die Twitter-Logik. Eine Seite verdammte Hubert Aiwanger. Die andere verteidigte ihn mit einer Hingabe, die umso unangenehmer wurde, je mehr Details im Verlauf der Berichterstattung noch das Tageslicht erblicken. Der junge Aiwanger, der Judenwitze erzählte, Hitler imitierte und Hakenkreuze auf Schultoiletten schmierte. Ist das wirklich die Art von allzu menschlicher Jugendsünde, die gegen den “linksgrünen Mainstream” verteidigt werden muss?

Was schmerzlich fehlte, waren allgemein respektierte journalistische Autoritäten, die den Fall sine ira et studio einordnen. Es ist niemand mehr da, der über die politischen Grabenkämpfe derart erhaben ist, dass er nicht im Verdacht steht, für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen. Aufsehen erregen nur noch jene, die entgegen der vermuteten Blattlinie der eigenen Zeitung kommentieren, wie der stellvertretende Chefredakteur der Welt, Robin Alexander, als er Aiwangers Rücktritt forderte.

Laut dem Reuters Digital News Report aus dem Jahr 2023 ist das Vertrauen deutscher Internetnutzer in den Journalismus auf einem historischen Tiefpunkt angelangt; nur 43 Prozent glauben, man könne dem Großteil der Nachrichten vertrauen. Das sind sieben Prozentpunkte weniger als 2022 und so wenige wie nie, seit die Studienreihe 2015 gestartet wurde.

Leute haben die Grabenkämpfe satt

Die Begriffe, mit denen und über die wir streiten, hilft nicht. Das Schimpfwort Nazi ist schnell zur Hand. Der ist Nazi, jener Faschist. Solche Begriffe sind wissenschaftlich, aber auch im alltäglichen Gebrauch. Der Unterschied: Wissenschaftlich unterscheiden und beschreiben sie. In der Politik erklären sie andere zu Feinden. Auf Inhalte kommt es da nicht an. Wenn das Etikett klebt und das Meme gebaut sind, ist die Schlacht gewonnen.

Auch Themen sollen mit Begriffen erledigt werden. Harmlos ist noch der Vorwurf, Wasser auf die Mühlen der AfD zu geben oder ihr Spiel zu spielen. Mit dem “AfD-Sprech” oder “AfD-Sound” ist spätestens das Signal gesetzt: Darüber reden wir nicht. Diese Grenze ist bei Migration, Klima, Außenpolitik immer schneller erreicht.

Dazu passt auch, dass für das Aiwanger-Flugblatt sofort das Attribut “antisemitisch” fiel. Die Vorzeichen waren klar: Hier kann es nur einen Ausgang geben, den von Aiwanger aus dem Amt. Nur, dass sich vereinzelt Juden gegen diese einfache Gleichsetzung verwahrten. Der emeritierte Geschichtsprofessor Michael Wolffssohn grenzte das Pamphlet von Judenhass ab. “Nicht jeder Dreck ist zugleich antisemitisch”, sagte er der “Bild”. Auch Deborah Antmann wehrte sich. “Die Hetzschrift aus dem Aiwanger-Ranzen wird ‘antisemitisch’ genannt – dabei kommen Juden darin gar nicht vor”, schrieb die Mitarbeiterin des jüdischen Museums in Berlin im “Tagesspiegel”. Man müsse aufhören, die Juden auf den Holocaust zu reduzieren, der auch Roma, Homosexuelle und andere getroffen hat.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat sich immer besonders für die Juden in Deutschland eingesetzt. Die jüdische Vertreterin Charlotte Knobloch lobte ihn dafür als “Schutzpatron”. Am Ende hat Söder seinen Minister Aiwanger wegen des Flugblatts aber nicht entlassen, das sei nicht verhältnismäßig gewesen. In Wirklichkeit hat sich Söder den Freien Wählern ausgeliefert. Wie es aussieht, blieb ihm gar nichts anderes übrig.

Söders Dilemma

Söder fürchtete bei Entlassung Aiwangers Einbußen für CSU. Stimmen hat er aber auch jetzt verloren. “Wer die FW nicht will, kann nicht CSU wählen”, twitterte der Berliner Politikwissenschaftler Thorsten Faas. “Wer die FW will, wählt sie (und auch nicht CSU, die gibts umsonst dazu quasi.” Das Problem: Vermutlich hat Söder dieselbe Überlegung mit Blick auf die Grünen angestellt und gedacht, das würde ihn noch mehr kosten. “Kein Schwarz-Grün in Bayern, dafür stehe ich”, war sein Mantra für die Wahl.

Eine Mehrheit von 63 Prozent der Bayern hält es der ZDF-Umfrage zufolge für richtig, dass Söder seinen Stellvertreter Aiwanger ungeachtet der Vorwürfe rund um ein antisemitisches Flugblatt aus Schulzeiten im Amt belässt. 29 Prozent erklärten, die Entscheidung sei falsch. Dass die Affäre wie viele andere auch zu einer Blockfrage “Wir gegen die” stilisiert wurde, hat Aiwanger am Ende am meisten genützt. Selbst bei 50-50-Fragen ist für eine Elf-Prozent-Partei wie die Freien Wähler viel Luft nach oben. Das haben vor allem die politischen Wettbewerber übersehen. Den Ton geben bei Blockkämpfen die Radikalen an: egal ob in den USA, Frankreich, Großbritannien oder Deutschland. Schlecht für Söder, gut für Aiwanger.

In der Bundespolitik könnte einiges in Bewegung geraten. Hubert Aiwanger hat bereits vor der Affäre erkennen lassen, dass er beabsichtigt, seine Partei auch im Bund rechts zwischen der Union und AfD zu positionieren. Das könnte konservative Unionsanhänger, die nichts von Rechtsextremen wissen wollen, aber auch schwarz-grüne Koalitionen nicht goutieren, dazu verleiten, bei den Freien Wählern ihr Kreuz zu machen. Die AfD dagegen könnte in zwei Richtungen bluten. Ihren Anhängern könnten die FW als gemäßigte Alternative erscheinen. Am Horizont zeichnet sich dazu eine neue Konkurrenz ab. Regelmäßig sagen viele AfD-Wähler, sie könnten sich vorstellen, eine Sahra-Wagenknecht-Partei wählen. Zu möglichen Kernanliegen einer solchen Partei sagte Wagenknecht der “Bild”: “Menschen werden ausgegrenzt, wenn sie den Mainstream verlassen.” Das müsse aufhören. Derweil sprangen die Freien Wähler in einer Hessen-Umfrage auf vier Prozent.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 144 – Thema: Interview mit Can Dündar. Das Heft können Sie hier bestellen.