Gewerkschaften sind in Deutschland seit jeher wichtige Interessenvertretungen für Arbeitnehmer. Sie kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und soziale Gerechtigkeit. Doch in den letzten Jahrzehnten haben die Gewerkschaften mit einer sinkenden Mitgliederzahl zu kämpfen und sind alarmiert. Ihre Macht hängt maßgeblich von der Zahl ihrer Mitglieder ab.
Im Jahr 2021 waren 13 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland Mitglied in Gewerkschaften, die in Dachverbänden organisiert sind wie dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), dem Deutschen Beamtenbund und Tarifunion (DBB) oder dem Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB). Allein der DGB hatte im Jahr 2021 rund 5,7 Millionen Mitglieder. In den Blütezeiten des Dachverbandes war das noch anders. Im Jahr 1991 waren – auch aufgrund einer Eintrittswelle nach der Wiedervereinigung – rund 11,8 Millionen oder rund 30 Prozent aller Arbeitnehmer Mitglied im DGB. Jetzt stagnieren die Zahlen seit Jahren, auch die zweit- und drittgrößten Gewerkschaftsbünde DBB und CGB sind betroffen.
Zum Vergleich: In den skandinavischen Ländern Island, Dänemark und Schweden waren 2019 laut OECD 91, 67 und 65 Prozent der Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft. Machen die deutschen Gewerkschaften etwas falsch?
Gewerkschaften sehen alt aus
Nein, sagt Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena. Der Mitgliederzuwachs nach der Wende sei einfach schnell verpufft. „Infolge der Transformation in Richtung Marktwirtschaften sind viele Mitglieder wegen Arbeitslosigkeit wieder ausgetreten“, sagt Dörre. Nach diesem Aderlass konnten große Gewerkschaften wie beispielsweise die IG Metall und Verdi bis zur Coronapandemie aber wieder deutliche Zuwächse an Mitgliedern verzeichnen. Diese haben sich „wegen der Überalterung der Mitgliedschaft in den Zahlen nicht unbedingt nach außen ausdrückt“, wie es Dörre formuliert.
Dass Deutschlands Überalterung eines der größten Probleme der Gewerkschaften ist, sieht auch der DGB so. „Wir leiden wie alle großen Organisationen und der Arbeitsmarkt unter dem demografischen Wandel“, erklärt DGB-Sprecherin Nora Neye. „Zwar treten jeden Tag rund 900 neue Mitglieder in eine DGB-Gewerkschaft ein. Aber noch mehr verlassen uns, weil sie in Rente gehen oder versterben. Das ist eine Herausforderung.“ Obenauf kam noch die Coronapandemie. Durch Homeoffice, Kurzarbeit und Abstandsregelungen konnten potenzielle Neumitglieder nicht mehr direkt im Betrieb angesprochen werden. Damit fehlte eines der wichtigsten Tools für die Werbung, sagt Silke Ernst. Sie ist Leiterin des Funktionsbereichs Kommunikation, Presse und Medien der IG Metall. „Was wir brauchen, ist der unmittelbare Kontakt, also die klassische direkte Kommunikation mit unseren Kollegen und das emotionale Erlebnis von Gemeinschaft“, sagt Ernst. „In den Coronajahren 2020 und 2021, in denen genau das nicht möglich war, zeigte sich daher eine erkennbare Delle in der Mitgliederentwicklung.“.
„Die Pandemie hat unsere Zahlen deutlich negativ beeinflusst“, sagt auch Harald Schaum. Er ist Vize-Bundesvorsitzender der IG Bau. „Wir konnten nicht mehr in die Betriebe, in die Objekte und in die Berufsschulen, um unsere Beschäftigten und Auszubildenden zu kontaktieren.“
Komm, mach mit
Wie alle anderen Akteure mussten auch die Gewerkschaften eine Schockdigitalisierung ihrer Kommunikation hinlegen. „Trotz der Tatsache, dass man beim Werben neuer Mitglieder den direkten Kontakt braucht, gab es durch die Coronapandemie einen Lernprozess auf Gewerkschaftsseite.“, konstatiert Professor Dörre – und fügt fast überrascht hinzu: „An den Arbeitskämpfen waren online teilweise mehr Menschen aktiv beteiligt als an den Streiks vor der Pandemie.“
Die IG-Metall kommuniziert mit ihren ehrenamtlich Aktiven in den Betrieben komplett digital. „Wir haben unsere Funktionärszeitschrift durch ein neues Portal und wöchentliche Newsletter ersetzt“, sagt Gewerkschaftssprecherin Ernst. „Social Media, Messenger und Zielgruppen-Mailings sind gar nicht mehr wegzudenken. Aber gerade hier gilt es, den medialen Overflow zu durchdringen: mit zielgenauer und aktivierender Kommunikation – sowohl mit Blick auf den Inhalt als auch auf die Empfänger.“
Inwieweit Gewerkschaften Arbeitnehmer durch Social Media oder andere digitale Tools erreichen können, hängt auch stark von der jeweiligen Arbeitswelt ab. Arbeitnehmer im Baugewerbe sind oft in kleinen Betrieben übers Land verstreut. Deshalb sei es leichter, sie digital zu erreichen, sagt IG-Bau-Vize Schaum. Das dürfte für ähnlich organisierte Gruppen wie Kitabetreuer oder Lehrerinnen ähnlich sein.
Trotzdem bleibt die direkte Ansprache der wichtigste Kommunikationskanal. Das ist Konsens. Claus Weselsky, Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) setzt auch weiterhin auf den aktiven Austausch im persönlichen Gespräch, „weil unsere Mitglieder so am besten reflektieren können, was für sie richtig oder falsch ist“, erklärt Weselsky. „Die Mitglieder müssen das Gefühl haben, dabei zu sein und mitwirken zu können. Das geht über Social Media nicht.“
Trittbrettfahrer
Wenn es um Lohnkämpfe geht, stehen Gewerkschaften und Arbeitgeber sich gegenüber. Weselsky ist einer, der dabei auch die harten Bandagen auspackt. Die Streiks seiner Lokführergewerkschaft haben das ganze Land lahmgelegt. „Bild“-Politik-Chef Jan-Wolf Schäfer schimpfte 2021, „Ego-Shooter“ Weselsky halte ein ganzes Land in Geiselhaft.
Jetzt warnt Weselsky, die Arbeitgeber würden den Gesellschaften systematisch das Wasser abgraben. „Arbeitgeber haben sich ein Instrument geschaffen, um Gewerkschaftslosigkeit zu schaffen“, sagt er zu p&k. Immer mehr tarifgebundene Arbeitgeber würden allen Arbeitnehmern den gleichen Lohn zahlen. „Dieser wird aber von den wenigen Gewerkschaftsmitgliedern im Betrieb erkämpft“, sagt Weselsky. „Das heißt, es gibt massenweise Trittbrettfahrer, die eine Lohnerhöhung mitnehmen, am Ende des Tages aber nichts dafür tun.“
Was zunächst wie ein Fortschritt für alle Arbeitnehmer aussieht, hat einen Pferdefuß. Mit abnehmendem Organisationsgrad der Arbeitnehmer würde auch der Organisationsanreiz auf Arbeitgeberseite nachlassen, sagt Professor Dörre. Insbesondere in den sogenannten „Ohne Tarif“-Mitgliedschaften (OT) in den Arbeitgeberverbänden zeige sich das. „Das heißt, Unternehmen können in vielen Arbeitgeberverbänden Mitglied sein, ohne sich an Tarifbestimmung halten zu müssen“, erklärt der Arbeitssoziologe.
Auch der DGB ist alarmiert. „Die Tarifbindung hat Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft, sie sichert den sozialen Frieden und gehört für uns untrennbar zum Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft.“, sagt Sprecherin Neye.
Viele Gewerkschafter sehen die Politik in der Pflicht. „Die Bundesregierung sollte Arbeitnehmerrechte stärker ausweiten und noch deutlich mehr für die Tarifbindung tun”, fordert IG-Bau-Vize Schaum. Er plädiert dafür, öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen mit Tarifbindung zu vergeben, um die Unterhöhlung des Gewerkschaftsmodells zu stoppen.
Eine neue EU-Richtlinie für angemessene gesetzliche Mindestlöhne setzt die Politik ohnehin unter Zugzwang. Sie verpflichtet die EU-Mitgliedsstaaten dazu, darauf hinzuarbeiten, dass 80 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in ihrem Land tarifgebunden sind. Wenn die Tarifbindung in einem EU-Land unter 80 Prozent liegt, muss die jeweilige Regierung einen Aktionsplan vorlegen, der es schrittweise mehr Arbeitnehmern ermöglicht, von Tarifverträgen zu profitieren, und dabei konkrete Maßnahmen und Zeitpläne festlegt.
Wo Flagge zeigen?
Bei Lohnkämpfen setzen Gewerkschaften gezielt auf öffentlichkeitswirksame Aktionen. Insbesondere große Gewerkschaften zeigen auch Flagge bei großen gesellschaftspolitischen Demonstrationen. So ruft Verdi beispielsweise dazu auf, an der Demonstration zum Frauentag in Berlin teilzunehmen. Immer wieder organisieren Gewerkschaften auch Demonstrationen gegen Fremdenfeindlichkeit mit. Der DGB hat sich den Antifaschismus sogar in seine Gründungsurkunde geschrieben.
Für Lokführer-Gewerkschafter Weselsky hat dieses Engagement mit Gewerkschaftsarbeit nicht viel zu tun. Er sieht es sogar als Problem: „Wenn wir uns in der Gewerkschaftslandschaft wieder auf die Kernelemente konzentrieren würden, dann hätten wir dauerhaft auch insgesamt mehr Mitglieder“, sagt er. Jede politische Positionierung würde einen Teil der Mitgliedschaft ausgrenzen. „Wir konzentrieren uns auf die Interessen unserer Mitglieder, und die bestehen in erster Linie aus einer vernünftigen Bezahlung und einer guten Arbeitszeitregelung“, sagt Weselsky.
IG-Metall-Sprecherin Ernst sieht das anders. „Es ist oft auch wichtig, dass wir mit öffentlicher Sichtbarkeit für Solidarität aufstehen: ob beim Kampf für gute Tarifverträge, beim Kampf gegen rechts oder beim Streik vor dem Werkstor“, sagt sie. Auch dem DBB-Vorsitzenden Ulrich Silberbach ist es wichtig, „dass sich Gewerkschaften auch gesamtgesellschaftlich positionieren und klare Kante zeigen, insbesondere etwa gegen jede Art von Extremismus und für Klimaschutz und Nachhaltigkeit“. Im Zentrum müsse aber immer die berufspolitische Interessenvertretung stehen.
Professor Dörre hält es für problematisch, wenn Gewerkschaften ganz auf eine politische Stimme verzichten. „Gewerkschaften, aber auch Betriebsräte sind die einzigen demokratischen Organisationen, die zu bestimmten Beschäftigtengruppen überhaupt noch einen Zugang finden“, sagt er. Als aktuelles Beispiel nennt der Soziologe die Lausitzer Kohlearbeiter, deren Lebensentwurf in den vergangenen Jahren öffentlich zur Disposition gestellt wurde. Ein Vorzeigebeispiel sei die strategische Zusammenarbeit zwischen Verdi und Fridays for Future. „Wir haben festgestellt, dass die Zusammenarbeit intern durchaus umstritten ist. Es hat sogar vereinzelte Austritte deswegen gegeben“, sagt Dörre. „Aber die Gewerkschaftsmitglieder und Klimaaktivisten, die direkt an Aktionen beteiligt waren, äußern sich deutlich positiver als diejenigen, die nur davon gehört haben.“ Die gesellschaftliche Positionierung von Gewerkschaften funktioniere, wenn sie den Mitgliedern mit viel Fingerspitzengefühl vermittelt werde.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 142 – Thema: Künstliche Intelligenz. Das Heft können Sie hier bestellen.