Zwischen Verweigerung und Passion

An einem Sitzungstag Ende Juni tritt der CSU-Abgeordnete Wolfgang Götzer an das Rednerpult im Bundestag. Es geht um die EU-Beitrittsperspektiven von Staaten auf dem Westbalkan. Götzer sagt, er begrüße den Beitritt Kroatiens kommendes Jahr. Es gebe weitere Kandidaten, wie Albanien oder Bosnien und Herzegowina. Götzer plädiert für Offenheit, aber auch dafür, abzuwarten, bis die möglichen Kandidaten alle Kriterien erfüllen. Götzer zählt Mängel auf. Götzer erhält den Applaus seiner Fraktion. Götzer setzt sich wieder an seinen Platz.
Seine Wähler, sofern sie nicht gerade auf der Website des Bundestags den Live-Stream schauen, bekommen davon jedoch nichts mit. Auch die Menschen in Götzers Wahlkreis Landshut/Kelheim nicht – denn der 57-Jährige hält sich von sozialen Medien fern. Weder über Twitter noch über Facebook teilt er mit, was er politisch tut und denkt. Facebook und Twitter sind ihm bisher eher suspekt. „Bei Twitter sehe ich den tieferen Sinn nicht“, sagt er. Zumindest bei Facebook habe er schon überlegt, beizutreten, für den Kontakt zu den jungen Wählern. Doch ein Profil zu pflegen, koste viel Zeit und auch der Datenschutz finde zu wenig Beachtung. Götzer schließt nicht aus, dort in Zukunft aktiv zu werden.
Das Schwärmen, in das zum Beispiel der Grünen-Abgeordnete Volker Beck verfällt, sobald er über die sozialen Medien spricht und über die Möglichkeiten, die sie ihm eröffnen, ist Götzer eher fremd, dafür würden zu viele Belanglosigkeiten verbreitet. „Man kann die Menschen direkt erreichen“, sagt dagegen Beck, Parlamentarischer Geschäftsführer der Bündnis-grünen. Beck nutzt die sozialen Medien ständig und empfiehlt das auch jedem seiner Kollegen in der Politik. Er hat inzwischen mehr als 13.300 Mal gezwitschert, gut 24.200 Menschen folgen ihm dort, über 3000 gefällt sein Facebook-Profil.

Liebesbeweise vom Wähler

Betrachtet man den Bundestag und seine Abgeordneten, so gehört er damit inzwischen klar zur Mehrheit: 60 Prozent nutzten das Netzwerk Facebook im September 2011, ergab eine Erhebung des Magazins „Journalist“, und immerhin jeder Vierte bediente sich des Nachrichtendiensts Twitter. Die Grünen waren unter den im Bundestag vertretenen Parteien am aktivsten, die Politiker der Union am zurückhaltendsten. Männer waren häufiger vertreten als weibliche Abgeordnete. Der Trend scheint eindeutig. Nach einem Bericht der „Berliner Morgenpost“ vom 1. Juli zwitschert inzwischen fast jeder dritte Abgeordnete. Aber wo liegt der Mehrwert für Politiker – und für ihre Wähler? Und verpasst einer wie Wolfgang Götzer etwas, wenn er sich den sozialen Medien verweigert?
Um das herauszufinden, hilft ein Besuch auf der Facebook-Seite von Volker Beck. Zwei Tage vor der Urteilsverkündung im Prozess gegen die russische Musikgruppe Pussy Riot postet er einen Link zu einer geplanten Demonstration vor der Russischen Botschaft in Berlin. Sofort schreiben andere User Kommentare. Einige drücken den „Gefällt mir“-Button. Es melden sich nicht nur Unterstützer. Als er die FDP im Zusammenhang mit dem Mitgliederentscheid im Dezember auf Facebook als „europapolitisch gespaltene Partei“ bezeichnete, meldeten sich auch kritische Stimmen. „Da war sie wieder, die grüne Selbstgefälligkeit“, kommentierte ein User.  Auch solche Kritik kommt Beck zupass – wichtig ist für ihn vor allem, über die sozialen Medien Nähe zu Bürgern zu erzeugen. Wie sich zeigt, bringt das oft Resonanz. Er bekommt einen Mehrwert. Also verlinkt er ständig Artikel mit wichtigen Nachrichten, bewertet aktuelle Ereignisse, tut online seine Meinung kund. Über Kommentare und direkte Nachrichten kommt er auch direkt mit Bürgern ins Gespräch.
Das nutzt letztlich beiden Seiten. Beck schätzt die Online-Auseinandersetzung aber auch mit dem politischen Gegner. Er selbst schreibt viel zum Thema Homosexualität und Rechtsextremismus. So kritisierte er Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) im Zusammenhang mit der Debatte um den Rechtsterrorismus. „@schroeder_k ist heimlich Piratin. Sie trägt die Augenklappe rechts“, twitterte er – die sozialen Medien bieten auch Platz für politischen Spott. „Das ist nicht bösartig. Eher subtil und mit Witz“, sagt Beck.

Politik versus Person

Für den Vorsitzenden der FDP in Nord-rhein-Westfalen, Christian Lindner, gehört die Präsenz bei Facebook und Twitter vor allem zum professionellen Auftreten. Lindner zählt zu der dritten Gruppe, zu denen also, die die sozialen Medien weder sehr aktiv nutzen noch aktiv verweigern. Er ist dort zwar präsent, aber nicht immer persönlich. Oft schreiben seine Mitarbeiter für ihn. „Meine Mitarbeiter machen mir beispielsweise Vorschläge für Terminhinweise, die ich jeweils freigebe“, sagt Lindner. Das werde inzwischen weniger, denn Terminvorschläge interessierten seine Follower nicht so sehr. Lindner ist Anhänger des rein politischen Twitterns. „Gerade Rückfahrt aus dem Kreis Grafschaft Bentheim (NOH) in Niedersachsen. Vortrag vor ca. 400 Leuten: ´Soziale Marktwirtschaft erneuern.´“, kann so eine Nachricht von ihm sein. Wer seine Profile verfolgt, lernt den Politiker Lindner kennen, den Menschen dagegen weniger. Interessant wird es vor allem, wenn er auf politische Gegner reagiert, denn dann schreibt er selbst. „Landesregierung NRW sucht Ideen für eine iPhone-App. Mein Vorschlag: eine Live-Schulden-Uhr! #ltnrw @HanneloreKraft @NRWpunktDE“, twitterte er jüngst.
Es ist auch eine Frage, wie intensiv Politiker die sozialen Medien nutzen. Denn rein repräsentative Accounts bringen wenig Nähe zum Wähler. Ihre Zahl ist jedoch groß. So kam der Social-Media-Activity-Index 2011 des 17. Deutschen Bundestags zu dem Ergebnis, dass neben 34 Prozent der Abgeordneten, die soziale Netzwerke gar nicht nutzen, die Mehrheit mit 57 Prozent nur „wenig aktiv“ ist. Die wirklich Aktiven sind eine Minderheit. Die Zahlen wurden vom Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen und der Forscherkooperation ISPRAT erhoben.
Es sind die Piraten, die die sozialen Medien am intensivsten nutzen. Für Stefan Körner, den Vorsitzenden der Partei in Bayern, beginnt jeder Morgen mit einem Blick aufs Handy. „Werfe mal ein freundliches ’Guten Morgen’ in die Timeline :-)“, kann dann ein Tweet lauten. Sofort kommen Antworten anderer User. Körner zwitschert persönlich und politisch: „Die #BILD fragt ’Können diese #Piraten überhaupt Politik?’ Ich frage: Konnte die Bild schon jemals Journalismus?“, heißt es in einem seiner beliebtesten Tweets. Körner hat inzwischen mehr als 20.400 Mal gezwitschert. Das Internet ist für die Piraten das Mittel zu einem neuen Politikstil.
Auf der Website der Partei kann sich jeder, auch jedes Nichtmitglied, an Debatten beteiligen und Anträge mit formulieren. Umgekehrt halten die Mitglieder alle Interessierten permanent auf dem Laufenden darüber, was sie gerade tun. Das macht den Reiz der Partei aus, vermittelt Nähe und Transparenz. Es verhindert aber auch klare Positionen und lässt Debatten oft zerfasern. Ein Problem, mit dem die Piraten nach der ersten Welle der Euphorie aktuell zu kämpfen haben. Betrachtet man die bisherigen Wahlergebnisse der Partei, so scheint ihnen der Erfolg ihrer Strategie zunächst Recht zu geben. Für Stefan Körner ist das der klare Beleg, dass sich die Präsenz in den sozialen Online-Netzwerken auszahlen kann: „Für Berufspolitiker ist das Internet Teil ihres Jobs. Für uns ist es Teil unseres Daseins.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Minilobbyisten – Kleinstverbände im Porträt. Das Heft können Sie hier bestellen.