Zu Besuch beim Bundespräsidenten a. D. Christian Wulff

Politik

Christian Wulff hat den Kaffeetisch gedeckt, das Geschirr nennt sich “Emperor’s Garden”. “Man freut sich ja richtig über Besuch”, sagt er, als er mich ins Wohnzimmer bittet. Ich darf mir einen Platz aussuchen. “Tee?”, fragt er. “Kaffee?” Auf dem Tisch stehen vier Kuchenstücke, verteilt auf zwei Teller. “Die hab ich extra beim Bäcker Gaues geholt”, sagt Christian Wulff, “der hat das Hotel Adlon in Berlin mit Brot beliefert und eine gewisse Zeit auch das Schloss Bellevue.” Wir setzen uns. 

“Hab ich Ihnen die Geschichte von Bäcker Gaues erzählt? Das war mein erster Skandal.” Die Bäckerei Gaues ist ein Familienbetrieb mit Filialen in Hamburg, Braunschweig, Hannover und Großburgwedel. “Bäcker Gaues ist so ein Marketingbäcker”, sagt Wulff, ein Mann, der sich bestens zu vermarkten verstehe, und das Brot von ihm sei “wirklich gut”: “Mehrkorn. Ganzkorn. Ich hab gerade Quark mit Kürbiskern da. Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen davon gern nachher eine Scheibe mitgeben. Das Brot schmeckt einfach genial. Und vielleicht merken Sie das auch gleich beim Kuchen.” 

Landidylle: Wulff posiert in Großburgwedel mit einer Katze vor einem ortstypischen Klinkerbau. (c) Sonja Och

Also, erzählt Wulff, kurz nachdem er 2010 Bundespräsident geworden sei, habe Bäcker Gaues dem Regionalbüro der Deutschen Presse-Agentur in Hannover ein Interview gegeben, in dem er gesagt habe: “Es gibt nur einen Bundespräsidenten, und der hat einen Bäcker aus Hannover.” Das wäre vielleicht gar nicht so schlimm gewesen, wenn Gaues das Interview nicht mitten im Sommerloch gegeben hätte, aber so habe irgendjemand bei der dpa in Berlin die Abschrift des Interviews auf den Tisch bekommen und sich gesagt, Moment mal, der Wulff kriegt Brot vom Bäcker Gaues aus Großburgwedel? Daraus könnte eine Riesengeschichte werden. 

Der “Brötchen-Skandal”

Das wurde es auch, gemessen daran, um was es in der Sache eigentlich ging. Wie sich herausstellte, belieferte Bäcker Gaues tatsächlich das Bellevue mit Brot, allerdings nur viermal im Jahr zu größeren Anlässen wie einem Staatsbankett, und so wie Wulff die Sache erinnert, handelte es sich um einen Auftragswert von rund 600 Euro. Aber, was noch viel wichtiger war: Bäcker Gaues belieferte das Bellevue seit vielen Jahren, schon unter seinen Vorgängern Johannes Rau und Horst Köhler, ohne dass sich jemand daran störte. Doch bis er das wusste, verging zu viel Zeit. 

Das Problem sei gewesen, sagt Wulff, dass der Koch im Sommerurlaub gewesen sei und das Bellevue die Sache ein, zwei Tage lang nicht aufklären konnte. Während das Bellevue den Koch zu erreichen versuchte, holte die dpa Stimmen zu Wulffs vermeintlichen Lieblingsbrötchen aus Großburgwedel ein. Ein Vertreter der Berliner Handelskammer erklärte: “An der Qualität der Berliner Brötchen kann es nicht liegen”, und die Grünen monierten eine katastrophale CO2-Bilanz. 

Und so wurde, wie später bei seinem Hauskredit, aus einer Geschichte, die eigentlich harmlos schien, ein Skandal, in diesem Fall der “Brötchen- Skandal”. “Der Eindruck war entstanden, dass jeden Morgen ein Wagen von Burgwedel ins Bellevue fährt”, sagt Wulff, “weil ich nur diese Brötchen essen und alle anderen verpönen würde.” Schon nach ein paar Monaten im Amt war so das Bild eines Mannes entstanden, der die Bodenhaftung verloren hat. 

Selten Frühstück im Bellevue

“Ich habe überhaupt nur ganz selten im Bellevue gefrühstückt”, sagt Christian Wulff am Kaffeetisch in Großburgwedel, und das auch nur, weil die Dienstvilla “Wurmbach” in der Pücklerstraße, in der Bundespräsidenten seit 2004 üblicherweise wohnen, gerade renoviert wurde. Im Dachstuhl waren Holzwürmer entdeckt worden. 

Nach der Wahl übernachtete er einige Zeit im Grand Hotel Esplanade in Berlin, was ihm viel zu teuer gewesen sei. Als er fragte, ob er nicht ins Bellevue ziehen könne, wurde ihm gesagt, es gebe nur einen Raum mit einem Bad und einer Dusche nebenan, aber ohne Bett. Worauf er gesagt habe: “Dann kaufen Sie bitte ein Bett.” Es gebe genug Möbelhäuser, in denen man Betten kaufen könne, bei IKEA könne man die sich sogar sofort einpacken lassen. Danach habe er ein paar Tage lang im Bellevue gewohnt. 

“Ich habe der Republik, dem Steuerzahler Tausende Euro gespart, aber die Meldung in den Zeitungen war: Der frühstückt im Bellevue und kriegt die Brötchen vom Bäcker Gaues in Burgwedel.” Mag sein, dass er sich ein bisschen ungeschickt anstellte, seine Bescheidenheit hervorzuheben. Aber vielleicht hatte ein Mann, der selbst als Präsident freiwillig in einem IKEA-Bett geschlafen hätte, medial von Anfang an keine Chance, vor allem an der Seite einer Frau, die ständig die bunten Blätter anlockte. Vielleicht lässt sich mit diesem Eingeständnis Frieden schließen, mit allem, was passiert ist. 

Wenig Spielraum im Protokoll

Er sei immer gerne gereist, sagt Wulff, am liebsten mit der Bahn, “weil man da lesen kann, sich bewegen kann, sich versorgen kann”. Auch als Bundespräsident sei er viel unterwegs gewesen, allerdings nicht mehr mit der Bahn, aus Sicherheitsgründen. Nur einmal in seiner gesamten Zeit als Bundespräsident habe er auf eine Zugfahrt bestanden, von Berlin nach Wolfsburg, wo er das VW-Werk besuchen wollte. Er habe damals gesagt, von Berlin nach Wolfsburg fahre der Zug in 59 Minuten, man komme direkt am VW-Werk an. Daraufhin habe man tatsächlich den Zug genommen. 

Seit seinem Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, ist Wulff vor allem in der Türkei hoch angesehen. Hier erhält er 2019 die Ehrendoktorwürde der Istanbuler Okan-Universität. (c) Sonja Och

Aber er sei sich bis heute nicht sicher, ob das nicht ein Sonderzug gewesen sei. Erstens sei der Zug auf einem anderen Gleis abgefahren, zweitens seien nur wenige Leute im Zug gewesen, und drittens sei er fünf Minuten zu früh in Wolfsburg angekommen, was ihn am meisten geärgert habe, weil er die Stunde nutzen wollte, um sich auf den Termin vorzubereiten. “Ich war noch mittendrin und auf einmal sagen sie, Sie können aussteigen”, erzählt Wulff. “Ich sage: wieso? Das ist doch vor der Zeit.” 

Als Bundespräsident fühlte er sich oft fremdbestimmt. In einem Interview mit dem Magazin Galore sagte er 2019: “Bei Terminen bin ich vor meiner Zeit als Bundespräsident gerne früher gekommen und später gegangen, um die Stimmung aufzunehmen. Im Amt habe ich dann ein bisschen unter dem Protokoll gelitten, denn protokollarisch muss der Bundespräsident als Letzter ankommen und als Erster gehen. Da gab es wenig Spielraum.” Er reiste zwar viel herum, aber er hatte das Gefühl, nirgendwo mehr richtig anzukommen. 

Angekommen im Vorort

“Warum bin ich jetzt gerade so zufrieden?”, fragt sich Christian Wulff an seinem Wohnzimmertisch, jetzt, da er in der Corona-Krise nicht mehr unterwegs sein kann. “Man ist mal zurückgeworfen auf sich selbst”, sagt Wulff. Weil er sonst so viele Reden halte und so viele Themen abdecke, sei es schön, ein paar Wochen lang nur zu sortieren, zu ordnen, sich einen Überblick zu verschaffen. “Es ist jetzt das erste Mal, dass ich überhaupt angekommen bin”, sagt er. “Ich habe so viel gemacht. Ich habe einen Aufsatz geschrieben über Resilienz und Widerstandskraft in Krisen. Das Material habe ich all die Zeit auf dem Stapel liegen gehabt.” 

Er habe vom Telefon aus versucht, Leuten zu helfen. Kurzarbeitergeld. KfW. Es gebe viel Not leidende Mittelständler, Selbstständige im “Kulturbereich”. “Ich habe 2974 Kontakte in meinem Handy”, sagt Wulff, “das weiß ich seit dem Ermittlungsverfahren.” [Eine Anklage wegen Bestechlichkeit endete mit Freispruch, d. Red.] Er macht es wieder wie früher, als er noch nicht Bundespräsident war, bringt Leute zusammen, kümmert sich. Zum Beispiel um Markus Söder und Armin Laschet, denen er gern mit Rat zur Seite steht. Er befürwortete Söders Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik, und Armin Laschet kann er sich gut als nächsten Bundeskanzler vorstellen. 

Er hat auch Briefe geschrieben. Wer ihm einen Brief schreibe, bekomme auch einen Brief zurück, sagt er. Nur in der Zeit seines Rücktritts habe er das nicht geschafft. “Briefe lesen, Briefe beantworten”, das sei sein “Elixier”, sagt Wulff. “Ich habe mir immer gesagt: Wenn dich alle niedermachen, dann sitzt am Kaffeetisch einer, der meldet sich und sagt, nee, nee, nee, so schlimm kann er nicht sein, er hat mir neulich geschrieben.” Er kann jetzt wieder so sein, wie er einmal war. 

Wulffs Sohn Linus betritt das Wohnzimmer, in der Hand einen schwarzen Helm. Er sagt, er wolle mit seinem Bruder eine Runde Motorrad fahren. Wulff erinnert ihn an die Geschwindigkeitsbeschränkungen. Hier, direkt vor seiner Haustür, sei Tempo 30, sagt er. “Ich sage der Polizei, dass sie mal auf zwei schwarze Helme aufpassen soll”, scherzt er, aber da ist sein Sohn schon so gut wie aus dem Haus. Sein Sohn mache gerade den Führerschein mit 17, sagt Wulff. Das war mal seine Erfindung, als er noch Ministerpräsident von Niedersachsen war. Heute, sagt er, sei der Führerschein mit 16 im Gespräch. Er lag mit seiner Idee offensichtlich im Trend. 

Der wichtigste Satz seiner Karriere

Er hofft das auch für den wichtigsten Satz seiner Karriere: “Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.” In der Festrede zu seinem 60. Geburtstag im Juni 2019 war er abermals darauf zurückgekommen: Deutschland werde sich am 4. September 2040 an einen “großen Moment seiner Geschichte” erinnern. Das Land werde sich an diesem Tag für 25 Jahre Flüchtlinge feiern und zurückblicken auf die schwierige Anfangszeit voller Sorgen und Irrtümer und auf die Bereicherung durch die Integration von 1,5 Millionen Menschen.

Die Chancen seien groß, dass der Flüchtlingsandrang, der Deutschland vollkommen unvorbereitet erreicht hatte, zu einem “Glücksfall der deutschen Geschichte” werde. In gewisser Weise sieht er darin auch das Vermächtnis seiner Rede vom 3. Oktober 2010, für die er damals viel Kritik hatte einstecken müssen. War er seiner Zeit voraus? “Meine Theorie ist ja, dass ich mit sechzig gerade Halbzeit habe”, sagt Wulff. “Ich meine das in dem Sinne, dass mein Leben bis zum 30. Lebensjahr fremdbestimmt war. Ich wurde dauernd bewertet, beurteilt, vom Ausbilder, von der Staatsanwältin, vom Jugendrichter, vom Zivilrichter, im Staatsexamen. Dreißig Jahre lang habe ich gedient, erst als Anwalt war ich mein eigener Herr, also ging für mich das Leben erst mit dreißig los.” 

In gewisser Weise führt er seine Präsidentschaft einfach weiter, ohne andauernd herumreisen zu müssen. Anders als früher kann er jetzt bleiben, wo er ist. “Ein Vorteil ist, dass ich ein Netz habe”, sagt Wulff. Er habe einen unglaublichen Eingang an YouTube-Videos, WhatsApp-Nachrichten, viele alte Freundschaften. “Ich bin hier in einem kommunikativen Zentrum.” Er nimmt noch einmal sein Handy zur Hand. “Ich muss gleich noch ein paar Leute anrufen.”

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 133 – Thema: Seuchenjahr – Sprache, Bilder, Inszenierung hinter der Maske. Das Heft können Sie hier bestellen.