Zeichner der Macht

An der Tafel des Speisesaals im Schloss Bellevue sitzen 40 Karikaturisten, der Bundespräsident und seine Frau. Einige der älteren Zeichner haben ihr Bundesverdienstkreuz am Revers heften. Ein Dutzend Kellner mit weißen Handschuhen serviert gefüllte Ochsenbacke und Bier auf Tabletts. Nach dem Essen werden im Raucherzimmer Zigarren und Schnaps gereicht. Die Stimmung ist gelöst: Während der Präsident in einer Ecke Skat spielt, zündet sich ein Zeichner sogar seelenruhig einen Joint an.
Das feuchtfröhliche Bankett liegt fünf Jahre zurück. Der Bundespräsident hieß damals noch Johannes Rau. Es war das letzte Mal, dass sich Politik und Karikaturisten so nahe kamen. Einmal pro Amtsperiode luden die Staatsoberhäupter die Zeichner bis dahin traditionell zu sich ein. Von Horst Köhler ist keine derartige Initiative bekannt. Das ist symptomatisch: Die politische Karikatur hat bei Politik und Medien an Bedeutung eingebüßt. Die Nähe zur Politik ist verschwunden, die Abdrucke in Zeitungen und Zeitschriften gehen zurück, der Nachwuchs fehlt. Eines der ältesten journalistischen Genres kämpft um seine Zukunft.

Verschiedene Anfänge

Die Probleme der Zeichner beginnen schon bei der Ausbildung: Karikaturist zu werden, kann man nicht lernen. „An vielen deutschen Universitäten herrscht noch immer ein Libidokomplex gegenüber Humor und Satire vor“, sagt der Politologe Walther Keim von der Universität Münster. Die meisten Zeichner sind Autodidakten, die einen künstlerischen oder journalistischen Hintergrund haben und in den Job irgendwie reinrutschen. Wie Barbara Henniger, deren Weg zur politischen Karikaturistin „reiner Zufall“ war, begünstigt durch einen Umzug von Dresden nach Strausberg. Die studierte Architektin und gelernte Journalistin hat 1967 „einfach mit Stift und einem Stück Papier losgelegt“ und ihre Zeichnungen beim ostdeutschen Satiremagazin „Eulenspiegel“ vorgestellt. Gleich eines der ersten Blätter wurde genommen.
Bis heute herrscht ein historisch bedingter Ost-West-Gegensatz in der deutschen Szene vor. Die Karikaturen der ostdeutschen Zeichner sind handwerklich oft höherwertiger und fantasievoller in der Umsetzung als die der Westkollegen. Der Grund: Porträtzeichnungen der herrschenden Politiker waren in der DDR streng verboten. Um die Zensur zu umgehen, mussten die Karikaturisten ihre Werke in Märchenwelten verfrachten oder Metaphern aus der Geschichte ausleihen. „Die Leser haben unsere Codes sofort geknackt“, sagt Henniger, die sich stets als „eine Art Seelsorgerin und Stellvertreterin“ derer empfand, „die sich nicht äußern konnten oder durften.“
In der Bundesrepublik war die Karikatur dagegen mehr „amüsante Konzentration des Tagesgeschehens“, wie Ernst Maria Lang, Pionier-Karikaturist der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“), es einmal nannte. Eher vergnüglich als subversiv. Kennen gelernt haben die westdeutschen Zeitungsmacher die im angelsächsischen Raum längst etablierte tagespolitische Karikatur erst nach 1945: durch die britischen und US-amerikanischen Lizenzgeber. Da es kaum von der NS-Zeit unbelastete Künstler gab, kamen junge Talente wie Lang bei der „SZ“ oder Fritz Mussil bei der „Frankfurter Rundschau“ („FR“) schnell zum Zug.
Die Beziehung zwischen Karikierten und Karikaturisten war von Beginn an eng. Konrad Adenauer lud die Zeichenkünstler zur Teestunde ein. Da es noch kein Fernsehen gab, hatten Karikaturen als visuelle Kommunikationsmittel in den Anfangsjahren der Republik einen hohen Stellenwert. Zeichner wie Lang waren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Adenauer nahm dessen Werke sogar so wichtig, dass er Lang 1961 verklagte, weil er den Kanzler in der Frage der Wiederbewaffnung einen Lügner genannt hatte.

Zwiespältige Beziehung

Die Aufregung der Mächtigen legte sich bald, nicht jedoch das narzisstische Interesse an der eigenen Zeichnung. „Nach wie vor gilt: Wer in der Zeitung steht, ist in. Wer karikiert wird, ist inner“, sagt Walther Keim. Von 1974 bis 1999 leitete Keim die Pressedokumentation des Deutschen Bundestags, die die mit rund 400.000 Zeichnungen wohl größte Karikaturensammlung Europas beherbergt. Am Ende jedes Jahres erstellte er Hitlisten der meistkarikierten Politiker. Kurz darauf standen deren Mitarbeiter vor seinem Schreibtisch und wollten die gesammelten Porträts ihrer Chefs als Kopien mitnehmen.
Die Mitarbeiter von Jürgen Möllemann waren meist die ersten, erinnert sich Keim. Aber auch Willy Brandt, Richard von Weizsäcker oder Norbert Blüm hätten Karikaturen geliebt. Noch in einem Arbeitszimmer von Ex-Kanzler Gerhard Schröder hing eine Zeichnung des „Zeit“-Karikaturisten Luis Murschetz. „Karikatur hat etwas mit Caritas zu tun“, sagt Norbert Blüm. „Die Wahrheit mit Humor zu sagen ist allemal verträglicher, als sie mit der Klinge des Fanatismus zu vertreten. Da können Politiker von Karikaturisten lernen.“
Für die Politikvermittlung sind Karikaturen essenziell. „Eine Karikatur fordert viel stärker eine kommunikative Bringschuld von Politikern ein als das Texte tun“, sagt Thomas Knieper, Medienwissenschaftler an der TU Braunschweig und Autor des Buchs „Die politische Karikatur“. Die Auseinandersetzung mit einer Karikatur sei wesentlich tiefer als mit einem Text und könne deshalb viel stärker dazu beitragen, dass politische Prozesse kritisch hinterfragt werden.
Der oft zitierte Spruch „Sie trifft, ohne zu verletzen“ sei jedoch „das Schlimmste, was man über eine Karikatur sagen kann“, meint Knieper. Ein Kommentar müsse schließlich Missstände reflektieren – und dabei auch wehtun. Lob von Seiten der Politik hören die Zeichner deshalb nicht so gern. „Das ist immer zwiespältig“, sagt der Berliner Karikaturist Klaus Stuttmann. Als Jörg Schönbohm ihm einen freundlichen Brief auf eine harte Karikatur schrieb, habe er sich provoziert gefühlt: „Ich habe gedacht, da musst Du etwas falsch gemacht haben. Oder das war eine ganz perfide Art, mir einen reinzuwürgen.“
Zu Politikern wahrt Stuttmann lieber Distanz, um beim Zeichnen nicht in Gewissensnöte zu geraten. Alte Hasen wie Dieter Hanitzsch haben dagegen kein Problem damit, mit den Mächtigen befreundet zu sein. „Gerade weil jemand wie Christian Ude mein Freund ist, muss ich doch die Wahrheit über ihn zeichnen“, sagt der „SZ“-Karikaturist. „Selbst, wenn ihm das nicht gefällt.“ Wie Hanitzsch, der bereits seit 50 Jahren im Geschäft ist, sind viele noch aktive Künstler längst im Rentenalter und arbeiten seit Jahrzehnten für ihre Zeitungen. Ein kleiner, abgeschlossener Kreis. „Die Claims unter politischen Karikaturisten sind weitgehend abgesteckt“, sagt Stuttmann.
Unter dem begrenzten Markt leidet der Nachwuchs. Heiko Sakurai, mit 37 Jahren einer der jüngsten in der Szene, fand es bei seinem Einstieg 1998 „unheimlich schwer“, überhaupt Zeitungen als Abnehmer zu finden. Die Mehrzahl junger Zeichner bleibt deshalb lieber bei Comics. Schließlich müssen politische Karikaturisten den Stress aushalten, täglich von der Nachrichtenlage und der Deadline der Redaktion abhängig zu sein. Der „wirklich knallharte Job“, wie Barbara Henniger ihn nennt, verlangt zudem politisches Verständnis und journalistische Recherche. „Das politische Wissen ist für unseren Beruf mindestens genauso wichtig wie das Zeichnen“, sagt Sakurai.

Verschärfte Konkurrenz

Besonders Frauen haben es in dem Genre schwer. „Weil ihnen nicht zugetraut wird, scharf und pointiert politische Themen zu behandeln“, glaubt Henniger, die sich gerne scherzhaft als „Quotenfrau unter den deutschen Karikaturisten“ bezeichnet. Auch die Arbeitsbedingungen der Zeichner haben sich radikal verändert. Die Generation um Mussil und Lang erlebte noch die goldenen Jahre ihres Berufstands. Mussil, bis 2002 Hauszeichner bei der „FR“, hatte als Festangestellter sein Atelier in der – selbstgewählten – Abstellkammer auf dem Dach des Frankfurter Zeitungshauses.
Ein Karikaturist, der über den Kollegen von der schreibenden Zunft thront und sich täglich mit ihnen austauscht: Diese Zeiten sind vorbei. „Die Hauszeichner haben mit Erfindung der Faxgeräte aufgehört zu existieren“, sagt Klaus Stuttmann. Seit Karikaturen bequem per Fax oder E-Mail verschickt werden können, brauchen die Redaktionen keine Zeichner mehr vor Ort. Heute arbeiten neun von zehn Karikaturisten freiberuflich – quer über die Republik verstreut. Stuttmann hat sein Atelier im Dachgeschoss eines Altbaus in Berlin-Kreuzberg. Er beliefert vertraglich den „Tagesspiegel“ und die „Leipziger Volkszeitung“. Dazu verschickt er seine Karikaturen noch an beinahe 20 weitere Zeitungen im Bundesgebiet. Persönlich kennt er die Redakteure dort nicht mehr.
Als der Zeichner der „Welt“, Jan Tomaschoff, 2005 den Karikaturenpreis der deutschen Zeitungen erhielt, gratulierte ihm die Redaktion mit einem bemerkenswerten Artikel. Eine „wunderbare“ Beziehung habe sie zu ihrem Zeichner, stand da, „eine wunderbare, nämlich so stabile wie anonyme Fax-Beziehung“. Tomaschoff schicke fast täglich zwei oder drei Zeichnungen an die Redaktion, heißt es weiter: „Vieles bleibt ungedruckt, Streit darüber gab es noch nie – wir reden ja fast nie mit ihm.“
Nahezu alle politischen Karikaturisten bieten ihre Produktionen mehreren Zeitungen an. Ergebnis: Mit zunehmender Konkurrenz sinken die Honorare. Reich wird man in dem Job nicht. Es gibt sogar Karikaturisten, die in ihre Rundmails schreiben: „Sie können zahlen, was Sie wollen.“ Die Redakteure nehmen solche Angebote gerne an, „vielleicht weil sie bequem und billig sind“, wie Dieter Hanitzsch sagt. Viele Journalisten könnten ohnehin nicht mehr zwischen einer guten und einer schlechten Karikatur unterscheiden. Das beklagt auch Thomas Knieper. Textredakteure hätten kein Auge dafür, Zeichnungen zu beurteilen, weshalb es viele drittklassige Karikaturen in den Medien gebe. „Das ist, als ob man Drittklassaufsätze als Leitartikel abdrucken würde“, sagt der Kommunikationswissenschaftler.
Da ihnen feste Abnehmer fehlen, müssen die Karikaturisten aus der zweiten Reihe zudem immer marktkonformer produzieren. Und das heißt oft: zahmer, langweiliger. „Manche Zeichner haben eine Schere im Hinterkopf und gehen Kompromisse in der Darstellung ein. So geht Schärfe verloren“, sagt Politologe Keim. Dieter Hanitzsch vermisst bei einigen Kollegen schlicht die Fähigkeit, Aussagen in die Zeichnungen einzubauen. „Zustandsbeschreibungen“ nennt er deren Werke schlicht. Doch Karikaturen wandeln sich auch. Der Stil moderner Karikaturisten ist „comic-hafter, leichtfüßiger und humorbetonter“ als früher, sagt Heiko Sakurai. Der Witz verlagert sich – ähnlich wie beim Cartoon – in die Sprechblasen hinein.
Dass Karikaturen, wie lange Jahre in der „Zeit“, auf der ersten Seite gedruckt werden, kommt ohnehin nicht mehr vor. Einige Medien haben die gezeichneten Kommentare sogar komplett gestrichen. Der „Spiegel“ schaffte Karikaturen im Heftinneren bereits unter der Ägide von Stefan Aust ab. Weitere Printmedien könnten in der beginnenden Medienkrise folgen. Ein dpa-Bild ist allemal billiger als eine eigens angefertigte Illustration. „Wir haben eine Subprime-Krise im Journalismus“, sagt „Cicero“-Chefredakteur Wolfram Weimer. „Karikaturen werden weggespart, weil das Managerdenken zunehmend über die journalistische Kultur obsiegt.“ Ein Fehler, findet er: „Karikaturen sind die besten Leitartikel, die man sich überhaupt vorstellen kann. Weil sie Ästhetik, Intelligenz und Kritik auf den Punkt bringen.“

Zukunftsaussichten

Die Zeichner stehen der Entwicklung weitgehend hilflos gegenüber. Versuche, eine eigene Interessenvertretung zu gründen, scheiterten bislang. „Karikaturisten sind Individualisten. Die verkaufen ihr Handwerk wenig solidarisch“, sagt Walther Keim. Vielleicht liegt das daran, dass sich die Mehrzahl der Zeichner hierzulande eher als Künstler denn als Journalist begreift. Heiko Sakurai fürchtet sogar schon um die gesamte Branche: „Manchmal frage ich mich, ob es nach mir überhaupt noch eine Karikaturistengeneration geben wird.“
Beim Publikum sind die Zeichnungen nach wie vor beliebt. „Journalisten unterschätzen, wie populär Karikaturen sind, wie wichtig sie auch für die Markenbindung von Medienmarken sind“, sagt Weimer. Karikaturen gehören zu den beliebtesten Elementen vieler Zeitungsleser, Ausstellungen und Preisverleihungen wie die jährliche „Rückblende“ sind gut besucht, im Internet sind Karikaturgalerien Klickmagneten.
Walther Keim glaubt deshalb auch an die Zukunft der Karikatur. Gerade weil in der visuellen Mediendemokratie viel über Emotionen und Personen kommuniziert werde. Dass Karikaturen immer noch das tagespolitische Geschehen mitbestimmen könnten, zeige die weltweite Diskussion um die Mohammed-Karikaturen. „Vorher haben wir gezeichnet, was wir wollten. Das hat niemanden mehr gejuckt“, sagt Klaus Stuttmann. „Mit dem Karikaturenstreit waren wir plötzlich wieder wer.“ Wenn vielleicht auch nicht die Wertschätzung, so ist doch immerhin die Beachtung der Karikaturen wieder gestiegen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Politiker des ­Jahres – Peer Steinbrück. Das Heft können Sie hier bestellen.