Wie demokratisch sind die indischen Wahlen, Herr Wagner?

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p&k: Herr Wagner, die Parlamentswahlen in Indien ziehen sich über fünf Wochen. Warum dauert das so lange?

Christian Wagner: In einem so großen Land wie Indien kann man Wahlen nicht an einem Tag durchführen. Dass sich der Vorgang über so viele Wochen zieht, hängt aber vor allem mit den Sicherheitsproblemen in einigen Teilen des Landes zusammen. Die Sicherheitskräfte müssen verlegt werden, was in einem Land von der Größe Indiens seine Zeit dauert.

Worauf beziehen sich die Sicherheitsbedenken?

In einigen Regionen gibt es militante Gruppen, die die Wahl verhindern wollen. Zwischen den Kandidaten der Parteien und ihren Anhängern kann es zu Ausschreitungen kommen beziehungsweise sie versuchen, die Bürger einzuschüchtern und zu manipulieren. Besonders der ländliche Raum ist hiervon betroffen.

Wie schafft es der indische Staat unter diesen Bedingungen, demokratische Wahlen durchzuführen?

Man darf nicht vergessen, dass die demokratische Tradition des Landes bis ins Jahr 1951 zurückgeht. Der indische Staat hat also mittlerweile eine langjährige Erfahrung darin, Wahlen zu organisieren und die auftretenden Missstände zu reduzieren – auch in diesen Dimensionen.

Eine solche Wahl zu organisieren, muss ungeheure Summen kosten.

Das stimmt. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass für die gesamte Wahl etwa fünf Milliarden US-Dollar (etwa 3,6 Milliarden Euro, Anm. d. Red.) ausgegeben werden. Damit wären die indischen nach den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen die zweitteuersten Wahlen der Welt.

Und wie demokratisch sind die indischen Wahlen?

Im Einzelfall entspricht vielleicht nicht alles unseren westlichen Vorstellungen. Die Wahlen werden aber meist von allen beteiligten Parteien als demokratisch anerkannt. Bei allen Missständen, die es geben mag, empfinde ich das als ein sehr gutes Zeichen.

Wer kontrolliert, ob alles mit rechten Dingen zugeht?

Ausländische Wahlbeobachter sind in Indien nicht zugelassen. Es gibt aber­­­ eine Wahlkommission, die in den vergangenen Jahren immer unabhängiger auftritt. Die Kommission gibt zum Beispiel einen Verhaltenskodex für die Wahl heraus und kontrolliert auch, ob gegen diesen Kodex verstoßen wird. Zudem gibt es eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Gruppen, die die Wahl verfolgen.

Welche gesellschaftlichen Gruppen sind besonders wichtig für den Wahlausgang?

Das kann man gar nicht so einfach sagen. Die bundesdeutsche Wählerschaft lässt sich – je nach Sichtweise – mit etwa zehn soziokulturellen Milieus abbilden. Das funktioniert in Indien nicht. Man kann aber sagen, dass die Wahl auf dem Land entschieden wird. Dort leben 70 Prozent der Menschen. Dieser Punkt wird gerne übersehen.

Wie meinen Sie das?

Die Umfragen spiegeln sehr oft nur die Einstellungen der städtischen Mittelschichten wider. Das ist natürlich auch eine bedeutende und wachsende Gruppe, aber eben nicht die Mehrheit.

Was bedeutet das für den Wahlkampf?

Die Mandate werden in 543 Wahlkreisen nach dem einfachen Mehrheitswahlrecht vergeben. Und die den Wahlkampf bestimmenden Strukturen  sind in allen Wahlkreisen sehr unterschiedlich. Konkrete Wahlkampfstrategien gibt es deshalb vor allem auf Ebene der Bundesstaaten, während die nationale Ebene in den Hintergrund tritt. Der Wahlkampf liegt eher in den Händen der jeweiligen Kandidaten, die dadurch eine viel autonomere Rolle spielen können als in Deutschland.

Wie finanzieren die Kandidaten diesen Aufwand?

Eine Wahlkampfkostenerstattung wie in Deutschland gibt es nicht. Die Wahlkommission legt eine Ausgabengrenze für die Kandidaten fest, die in dieser Wahl bei sieben Millionen Rupien (etwa 83.000 Euro, Anm. d. Red.) liegt. Das reicht aber oftmals nicht aus, um einen Sitz im Parlament zu gewinnen. Bei den diesjährigen Wahlen überwacht die Wahlkommission erstmals Wahlkreise, in denen die Kandidaten besonders unter Verdacht stehen, illegal zusätzliches Geld für den Wahlkampf auszugeben.

In den Straßen wird der Spitzenkandidat der liberalen BJP, Narendra Modi, bereits als Sieger gefeiert. Ist das nicht ein bisschen früh?

Der Ausgang der Wahlen wird von einer Reihe von Faktoren bestimmt, die im Vorfeld kaum zu bestimmen sind, wie zum Beispiel das Abschneiden von einzelnen Regionalparteien. Der amtierenden Regierung wird von vielen Seiten ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, so dass die BJP gute Chancen hat, stärkste Partei zu werden. Sowohl die Wirtschaft als auch die städtischen Mittelschichten wollen Modi als Ministerpräsidenten.

Warum?

Weil er einen wirtschaftsliberalen Kurs vertritt und für eine effektive Regierungsführung steht. Ihm trauen sie zu, das Land wirtschaftlich wieder in die Spur zu bringen. Allerdings fürchten vor allem die Minderheiten die hindunationalistische Agenda der BJP. Belastbare Ergebnisse wird es erst am 16. Mai geben. Dann wird bekannt gegeben, was die Auszählung aller Stimmen ergeben hat. Und dann gehen die Diskussionen eigentlich erst richtig los.

Wie meinen Sie das?

Die Partei mit den meisten Stimmen bekommt von Präsident Pranab Mukherjee den Auftrag zur Regierungsbildung. Es wird aber keine Partei die 272 Sitze im Parlament erhalten, die nötig sind, um den Ministerpräsidenten zu wählen. Es muss also Koalitionsverhandlungen geben.

Kann Modi eine Mehrheit organisieren?

Das wird sehr stark davon abhängen, wie gut seine Partei abschneidet. Die BJP hat bereits eine Allianz mit zwei kleinen Parteien. Wenn das Dreierbündnis gemeinsam 200 Sitze gewinnt, wird es Modi leicht fallen, eine Koalition auszuhandeln. Mit jedem Sitz weniger benötigt er mehr regionale Allianzpartner, die aber nicht alle seiner hindunationalistischen Agenda folgen mögen. Entsprechend schwieriger wird es, eine solide Mehrheit zu bekommen.