Wer fragt, gewinnt

zu moderner Wahlkampfführung gehört in zunehmendem Maße die Nutzung von Wahlforschungsergebnissen zur Unterstützung von Wahlkampfstrategie und -taktik. Während Meinungsforscher („Pollster“) im angelsächsischen Raum neben der reinen Erhebung des Status quo auch beratende Funktionen innehaben und damit integraler Bestandteil der  Wahlkampfkomitees der Parteizentralen sind, wird in Deutschland bei Wahlkämpfen von Wahlforschung bislang eher sparsam Gebrauch gemacht.
Die deutsche Wahlforschung hat sich viel zu lange auf das “Wie“ beschränkt und zu wenig nach dem “Warum“ gefragt. Dadurch hat sie den Parteien wenig strategisch nutzbare Erkenntnisse geliefert und entscheidende Implikationen der Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet vorenthalten. Dabei kann Wahlforschung für Parteien von enormem Nutzen sein, um Antworten auf zentrale Fragen zu erhalten, die von in den Medien veröffentlichten Umfragen kaum beantwortet werden. Dabei geht es nicht darum, das Parteiprogramm zur Disposition zu stellen und nach dem Stand der Wahlforschung neu auszurichten, sondern darum, die eigenen Stärken zu identifizieren und gegenüber der Zielgruppe besser zu kommunizieren.
Ein Blick ins Ausland zeigt, dass Wahlforschung erhebliche Vorteile gegenüber Konkurrenten verschafft, die für den Wahlausgang entscheidend sein können. Der amerikanischen Kampagnenforschung folgend, helfen qualitative und quantitative Methoden der strategischen Wahlforschung ab circa einem Jahr vor der Wahl, für Parteien wichtige Fragen zu beantworten.

Die Zielgruppe

Jede Partei hat – jenseits der für den Wahlkampf zweitrangigen Stammwähler – eine spezifische Zielgruppe, die sich, vereinfacht gesagt, aus drei Wählertypen zusammensetzt: eigene Wähler mit geringer Parteibindung, die gehalten werden müssen, Anhänger, die mobilisiert werden müssen, und noch unentschlossene Wähler anderer Parteien, die gewonnen werden müssen.
Strategische Wahlforschung hilft, die Größe dieser Zielgruppe zu ermitteln, soziodemografische Profile zu erstellen, deren gehäuftes Auftreten in bestimmten Bevölkerungsgruppen zu erkennen sowie ein besseres Verständnis für deren Motive und Verhaltensweisen zu gewinnen. Gerade Letzteres ist von enormer Wichtigkeit, um die Zielgruppe, die je nach Partei 15 bis 25 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung umfasst, überzeugen zu können.
Häufig kommen dabei spezielle Segmente ins Spiel, die sich aus der spezifischen Wahlkampfkonstellation ergeben. Im australischen Wahlkampf 2007 spielten für die Labor Party sogenannte Rudd-Konservative eine wichtige Rolle: Wähler, die der konservativen Liberal Party nahestanden, gleichzeitig aber eine positive Meinung vom Labor-Spitzenkandidaten Kevin Rudd hatten und damit eine attraktive Zielgruppe für den Labor-Wahlkampf darstellten. Durch eine geschickte Positionierung Kevin Rudds – „In der Wirtschaftspolitik bin ich konservativ“ – und das ständige Wiederholen dieses  Mantras konnte ein erheblicher Teil dieser „Rudd-Konservativen“ gewonnen werden.

Die Positionierung

Die Forschung hat gezeigt, dass die Wahlentscheidung durch komplexe Zusammenhänge gekennzeichnet ist, die auf den ersten Blick häufig übersehen werden. Im neuseeländischen Wahlkampf 2011 war Wirtschaft das  Thema, das  in veröffentlichten Umfragen am häufigsten als wichtig genannt wurde. Intensive Analyse von UMR Research & pollytix für die Labour Party zeigte jedoch, dass Wirtschaft als wahlentscheidendes Thema lediglich an sechster Stelle lag, hinter Themen wie Steuergerechtigkeit und Lebenshaltungskosten.
Labours  Fokus auf diese Themen lieferte einen strategischen Vorteil: Durch die Zielgruppenanalyse war bekannt, dass sich Wähler, für die die Höhe der Lebenshaltungskosten ein besonders wichtiges Thema ist, vor allem in Süd-Auckland konzentrieren. Durch eine gezielte Ansprache der Zielgruppe in diesen Bezirken konnte diese mobilisiert und Wahlanteile gesichert werden.
Für die Positionierung spielen neben den Themen die Spitzenkandidaten eine Schlüsselrolle. Um festzustellen, welche Themen die Wahlentscheidung am stärksten beeinflussen, bedarf es daher einer umfassenden Analyse der Wichtigkeit von Themen, der Zufriedenheit mit der Regierung bei diesen Themen und der Themenkompetenz der Parteien sowie eines geradezu forensischen Profils der Spitzenkandidaten. Mithilfe einer Reihe multivariater Analyseverfahren lässt sich dann ermitteln, welche Themen vermieden werden sollten und welche die größte Schlagkraft haben, um Zielgruppenwähler zu gewinnen.

Die Sprache

Sind die entscheidenden Themen identifiziert, müssen entsprechende Botschaften entwickelt, getestet sowie das Kampagnenmaterial evaluiert und optimiert werden. Die Diskrepanz zwischen dem, was Parteien für sprachlich akzeptabel und wirksam halten, und dem, was den Zielgruppenwähler anspricht, ist manchmal erheblich. Vordergründig geht es nur um sprachliche Nuancen, diese können jedoch eine enorme Wirkung entfalten.
Ein Beispiel: Die Labor-Ministerpräsidentin  des australischen Bundesstaates Queensland, Anna Bligh, sagte im Wahlkampf 2009 in einem Werbespot, der ansonsten gut funktionierte: „Das Schaffen von Arbeitsplätzen liegt in der  DNA von Labor.“ Die Echtzeitreaktionsanalyse des Spots zeigte: Für ihre Stammklientel ein akzeptables Statement, für die zu gewinnenden Zielgruppenwähler ein stark übertriebenes. Durch das Weglassen des Satzes wurde aus einem schlechten Wahlwerbespot ein wirksamer.

Die heiße Phase

In der heißen Wahlkampfphase, also in den letzten sechs bis acht Wochen vor der Wahl, steigt die Forschungsintensität in der Regel stark an. In sogenannten Trackingstudien werden täglich bis zu 800 Wahlberechtigte repräsentativ befragt und die Daten der letzten drei Tage zu einem täglichen Bericht zusammengefasst. Da die Wahrnehmung der teils nur mäßig an Politik interessierten Zielgruppenwähler oft stark von der Wahrnehmung der Wahlkampfstrategen abweicht, liefern diese Trackingstudien essentielles Wahlkampf-Feedback für die Parteizentralen: Wie nimmt die Zielgruppe den Wahlkampf wahr? Was funktioniert im Wahlkampf und was läuft ins Leere? Wo macht die Konkurrenz Fehler? Welche neuen Themen kommen auf und wie ändert sich die Wahrnehmung der Kompetenz der Parteien im Wahlkampf?
Im australischen Wahlkampf 2010 führte die Liberal Party unter Tony Abbott einen Wahlkampf, der ausschließlich auf Angriffe auf die regierende Labor Party und Premierministerin Julia Gillard ausgerichtet und ansonsten inhaltsleer war. Im Verlauf der heißen Wahlkampfphase  zeigte sich in Analysen von UMR Research, dass für die Zielgruppe  eine Art Vision für die Zukunft Australiens zum wichtigsten Thema wurde und dass sie der Labor Party zunehmend Kompetenz bei diesem Thema zusprach. Labor – selbst massiv unter Druck – nutzte diese letzte Chance und setzte in den letzten zwei Wochen des Wahlkampfs kommunikativ alles auf eine Karte. Ein Strategiewechsel, der zwei bis drei  Prozentpunkte brachte und Labor schließlich die Regierungsverantwortung in einer Minderheitsregierung sicherte.

Konsequenzen für Deutschland

Parteien sollten bei der Auswahl ihres Meinungsforschungsanbieters darauf achten, dass dieser strategisch nutzbare Ergebnisse liefert und im Bereich strategischer Wahlforschung auf dem international aktuellen Stand ist.
Mit Blick auf  die Zielgruppe reicht es in einem Mehrparteiensystem wie dem deutschen nicht zu wissen, welche Wähler generell unentschlossen sind oder welchen soziologischen Milieus sie angehören. Vielmehr bedarf es einer für die jeweilige Partei spezifischen Definition und Analyse der Zielgruppe, auf die der Wahlkampf zugeschnitten wird und die auch für das zunehmend wichtiger werdende Targeting von Wählersegmenten von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.
Bei der Analyse von „Gewinnerthemen“ ist es notwendig, genauer hinzuschauen und sich der Analyseinstrumente, die sich im Ausland in der Wahlforschung etabliert haben – wie zum Beispiel Korres-pondenzanalysen und  Regressionsmodelle – zu bedienen, um die Themensetzung im Wahlkampf zielgruppengerechter auszurichten.
Darauf aufbauend ist die richtige Sprache der Schlüssel zum Erfolg. Konzepte und Botschaften sollten minutiös getestet werden, um knappe Ressourcen sinnvoll einzusetzen: Was bringt eine millionenschwere Großplakatkampagne, wenn sie an der Zielgruppe vorbeikommuniziert? Teure Fehltritte dieser Art lassen sich durch Forschung vermeiden.
Auch in Deutschland werden Wahlkämpfe in der heißen Phase schneller und hektischer. Parteien, die durch Trackingstudien auf dem Laufenden darüber sind, was in den Köpfen der Zielgruppe vorgeht, werden in ihrer Taktik flexibler und können offensiver und zielgerichteter agieren, statt nur auf Ereignisse zu reagieren. Das versetzt sie in die Lage, im Wahlkampf den Takt vorzugeben, und sie werden im Resultat erfolgreicher sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Wer wird wichtig? – Rising Stars 2012. Das Heft können Sie hier bestellen.