Warum Parteien ihre Wunschkoalition benennen sollten

Superwahljahr 2021

Für das Superwahljahr 2021 stellt sich eine wichtige Frage: Wer koaliert mit wem? Das spielt nicht nur für die Wahl im Bund eine Rolle, sondern auch für die sechs Landtagswahlen. Die vier Länder Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Thüringen und Sachsen-Anhalt wählen bereits im Frühjahr. In jedem der Länder stellt eine jeweils andere Partei den Regierungschef. Je unterschiedlicher die Bündnisse dort angesichts der höchst individuellen Mehrheitsverhältnisse notgedrungen ausfallen, desto größer wird die Verunsicherung der Wähler im Bund. Der einzige Weg, die regional besonderen Länderkonstellationen von den Optionen im Bundestag zu trennen, wären klare Koalitionsansagen im Bundestagswahlkampf. Und doch zieren sich die Parteien. Das war nicht immer so.

Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Parteiendemokratie. Parteien bestimmen die politische Willensbildung. Ohne ihre entscheidende Rolle ist regieren unmöglich. In der Weimarer Republik, der ersten deutschen Demokratie, hatte sich der “Parteienstaat” noch nicht voll durchgesetzt. Der Konstitutionalismus des Kaiserreiches wirkte nach. Die zweite deutsche Demokratie ist auch eine Kanzlerdemokratie. Das Kanzlerprinzip – der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik – überlagert das Kollegial- und das Ressortprinzip innerhalb der Regierung. In der Weimarer Republik schürte der Dualismus zwischen dem vom Volk gewählten mächtigen Reichspräsidenten und dem vom Reichstag gewählten Reichskanzler Konflikte. 

Die jetzige deutsche Demokratie ist ebenso eine Koalitionsdemokratie. Nur 1960/61 regierte mit der CDU/CSU im Bund kurzfristig eine politische Kraft allein. Die Weimarer Republik war die Koalitionsdemokratie schlechthin. Die in der Regel drei bis vier Regierungsparteien konnten – meist alles andere als gut – miteinander kooperieren. Die Konsequenz: Jeder Reichstag wurde vorzeitig aufgelöst. Am Ende der Weimarer Republik gab es gar Präsidialkabinette, die sich nicht auf das Parlament stützten.

Früher waren die Verhältnisse klar

Parteiendemokratie, Kanzlerdemokratie und Koalitionsdemokratie: drei Konstanten der deutschen Politik. Allerdings zeichnet sich in den letzten Jahren ein Wandel ab, zumal mit Blick auf die Koalitionsdemokratie: In den ersten fünf Jahrzehnten seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bekundeten die Parteien bei Bundestagswahlen ihre Koalitionspräferenz, in der Regel auch die Liberalen. Die FDP war das viel beschworene “Zünglein an der Waage” – und sie war es nicht. Der Terminus trifft zu mit Blick auf die mehrheitsbildende Rolle der Liberalen, keineswegs jedoch mit Blick auf die Haltung der Partei nach der Wahl. Der Wähler im Dreiparteiensystem der “alten” Bundesrepublik Deutschland wusste, ob die FDP der Union (meistens) oder der SPD im Bündnis zur Mehrheit verhelfen würde, wenn diese eine absolute Mandatsmehrheit verfehlten.

Selbst unter den Bedingungen eines Vierparteiensystems in den 1980er Jahren blieb das Koalitionsmuster unverändert: Schwarz-Gelb stand Rot-Grün gegenüber. Mit der deutschen Einheit kam die aus der SED hervorgegangene Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) als fünfte Kraft ins Spiel. Die seinerzeit als koalitionsunfähig geltende Partei konnte zunächst weder eine schwarz-gelbe (1990 und 1994) noch eine rot-grüne Koalition (1998 und 2002) verhindern. 

Das änderte sich 2005. Weder für das eine noch für das andere Bündnis stellte sich eine regierungsfähige Mehrheit ein. Da die Liberalen nicht mit der SPD und Bündnis 90/Grüne zusammengehen wollten, die Grünen hingegen nicht mit der Union und der FDP, war die aus der Not geborene Folge eine Große Koalition. Gelang 2009 wieder die Bildung einer schwarz-gelben Koalition, ließ sich diese vier Jahre später wegen des Scheiterns der Liberalen an der Fünfprozenthürde nicht fortsetzen. Abermals entstand eine Große Koalition. SPD, Bündnis 90/Grüne und Die Linke (vormals PDS) verfügten zwar über eine arithmetische Mehrheit, doch die SPD hatte ein Bündnis mit der Partei Die Linke zuvor ausgeschlossen. 

Durch die Annäherung der Union an die SPD in zentralen Fragen – mehr soziokulturellen als sozioökonomischen – etablierte sich mit der 2013 gegründeten AfD auch in Deutschland eine rechtspopulistische politische Kraft. Scheiterte sie 2013 mit 4,7 Prozent der Stimmen noch knapp an der Fünfprozenthürde, avancierte sie 2017 zur drittstärksten Kraft mit 12,6 Prozent. Die SPD hatte nach der Bundestagswahl 2013 beschlossen, künftig kein Bündnis mit der Partei Die Linke mehr auszuschließen. Vor der Wahl hatten alle politischen Kräfte eine Koalition mit der AfD kategorisch abgelehnt. Union und FDP schlossen dazu auch eine Koalition mit der Partei Die Linke aus. Nach der Wahl reichte es arithmetisch weder zu einer schwarz-gelben, noch zu einer rot-rot-grünen Koalition. War ein schwarz-grünes Bündnis 2013 zwar arithmetisch, aber nicht politisch möglich, war es 2017 gerade umgekehrt. Eine Minderheitsregierung gilt im Bund nicht als sinnvoll. Für die Regierungsbildung kamen damit nur zwei Varianten in Frage: entweder eine “Jamaika”-Koalition oder – wieder – eine Große Koalition. Da nach monatelangen Verhandlungen ein schwarz-gelb-grünes Bündnis an der FDP scheiterte, musste erneut eine Große ­Koalition ­gebildet werden.

Es ist nicht wie früher

Jahrzehntelang kam – entsprechend den Parteipräferenzen – eine Wunschkoalition und ein Bündnis innerhalb politischer Lager zustande. Der Wählerwille wurde ebenso gewahrt wie das konkurrenzdemokratische Element. Selbst die Verhältniswahl mit Fünfprozentklausel brachte eine homogene Regierungsmehrheit hervor, wie das in Staaten mit einem Mehrheitswahlsystem meistens der Fall ist. Der Wähler wusste direkt nach der Wahl, ob er seine Stimme einer künftigen Regierungs- oder einer künftigen Oppositionspartei gegeben hatte.

Das ist heute anders. Mittlerweile erklären die politischen Kräfte vor der Wahl nicht mehr ihre Koalitionspräferenzen. Grund ist das aufgefächerte, fragmentierte und polarisierte Parteiensystem. Eine derartige Offenheit räumt den Parteien nach der Wahl zwar eine größere Flexibilität ein. Die Wähler laufen dabei aber Gefahr, ihre Stimme unter Umständen einer ungewünschten Koalition gegeben zu haben.

Angesichts der abnehmenden Integrationskraft der großen Parteien – der SPD mehr noch als der Union – und der Auflösung der Wählermilieus schwindet die Aussicht auf eine Mehrheit für eine lagerinterne schwarz-gelbe oder rot-grüne Koalition. Zudem haben sich die Blöcke weithin aufgelöst. Die Existenz von Flügelparteien (AfD, Die Linke) erschwert die Regierungsbildung. Das führt zu anderen Konstellationen wie einer Großen Koalition oder Dreierbündnissen. Solche lagerexternen Bündnisse verfestigen den ohnehin (zu) stark konsensdemokratisch ausgerichteten Charakter des politischen Systems in Deutschland. Das konkurrenzdemokratische Element ist beträchtlich ins Hintertreffen geraten – unter anderem durch den starken Föderalismus mit dem Bundesrat, in dem sich dank der Abstimmungsprozeduren (Enthaltung zählt wie eine Nein-Stimme) meistens andere Mehrheitsverhältnisse ergeben, und durch eine Debattenkultur, der es an Offenheit gebricht.

Kritik am Pokerspiel

Wähler sollten auch in einer Koalitionsdemokratie wissen, wer mit wem ein Bündnis eingehen will. Der Vorwurf, das gegebene Versprechen werde bei anderen Mehrheitsverhältnissen gebrochen, sticht nicht: Die Parteien sind nur so lange daran gebunden, wie es die politische Arithmetik erlaubt. Was nützt eine Mehrheit für Parteien, wenn ein politischer Konsens zwischen ihnen fehlt? Was nützt ein politischer Konsens, wenn eine arithmetische Mehrheit für sie fehlt? Rot-Rot-Grün erwies sich 2013 als arithmetisch möglich, aber nicht als politisch. Und 2017 war das Bündnis politisch möglich, nicht jedoch arithmetisch.

Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten ist der folgende Befund betrüblich: Der Bürger kann “nur” für eine Partei votieren, nicht aber für eine Regierung. Schließlich will er in der Regel wissen, was mit seiner Stimme nach der Wahl geschieht. Der Einwand, die Parteien könnten ihre Mitglieder befragen, ob sie mit einem solchen Bündnis einverstanden seien, zielt ins Leere. Die SPD hatte das 2013 und 2018 praktiziert. Zum einen dürfen lediglich Mitglieder, nicht aber Wähler abstimmen. Zum anderen wollen Mitglieder ihre Führung meist nicht mit einem Nein brüskieren, denn vollendete Tatsachen sind ja faktisch bereits geschaffen worden. Insofern läuft ein derartiges Verfahren auf eine Scheinpartizipation hinaus. Eine angekündigte Koalitionsbildung vor der Wahl dagegen erhöht die Transparenz und Legitimität der Regierungsbildung.

Möglichkeiten der Abhilfe

Wie kann der Einfluss des Wählers gesteigert werden? Die Frage zu stellen ist einfacher, als sie zu beantworten. Die Bürger müssen von den Parteien vor der Wahl ein Bekenntnis darüber verlangen, mit wem sie nach der Wahl regieren wollen. Das setzt voraus, dass die gewünschte Mehrheit nach der Wahl auch arithmetisch zustande kommt. Wer sich alle Wege offenhalten möchte, führt seine Anhänger in ein Labyrinth. Die Wählerschaft sollte hartnäckig fragen: Was passiert nach der Wahl? Einer Antwort dürfen Parteien nicht ausweichen. Und wenn sie es tun, müssten sie das begründen.

Nehmen wir die Grünen. Nach der Bundestagswahl 2021 könnte folgendes Szenario eintreten: Drei Koalitionsvarianten mit grüner Beteiligung verfügen über eine Mehrheit: (1) Schwarz-Grün; (2) Rot-Grün-Rot; (3) Rot-Grün-Gelb. Ist es nicht nachvollziehbar, dass die Wähler sich Klarheit über die Koalitionspräferenzen der Öko-Partei wünschen? Es mag Stimmbürger geben, die für die Partei auch dann votieren, wenn sie mit ihren Präferenzen hinterm Berg hält – aber ebenso solche, die sie gerade wegen ihrer Präferenzen wählen. Es wäre kein Widerspruch, erklärten die Grünen vor der Wahl: Die bevorzugte Variante ist ein Bündnis mit der SPD und der Partei Die Linke, sofern ihr dann die Kanzlerschaft zufällt; die zweite Präferenz ist ein Bündnis als Juniorpartner mit der Union. In diesem Fall wüssten die Wähler immerhin, dass die Grünen als Juniorpartner keine Koalition mit der SPD und der Partei Die Linke eingingen.

Eine andere Möglichkeit, um den Einfluss des Wählers zu steigern und das Notbündnis der ungeliebten Großen Koalition zu vermeiden, bestünde darin: Das kleinere politische Lager toleriert eine Regierungsbildung durch das größere, selbst wenn dieses insgesamt eine Mehrheit verfehlt. Das könnte so aussehen, dass der Juniorpartner des kleinen politischen Lagers sich bereitfände, die Beschlüsse des größeren Lagers im Parlament “durchzuwinken” – egal ob er mit dem Votum einverstanden ist oder nicht. Zwar wäre auf diese Weise Stabilität ohne Große Koalition gewährleistet, aber es taucht unvermeidlich die Frage auf, ob Wähler des tolerierenden Juniorpartners der unterlegenen Koalition, der sich in gewisser Weise selbstkasteit, dies akzeptieren würden.

Damit Beliebigkeit nicht um sich greift, ließe sich das Dilemma durch folgende Strategie mildern: Parteien erklären Schlüsselaussagen für unverhandelbar. So wüsste der Bürger, was ihn bei der Wahl dieser oder jener politischen Kraft erwartet. Zwar hielten die Parteien ihre Koalitionsoptionen weithin offen, aber sie hätten auf der einen Seite eine klare rote Linie gezogen, hinter der sie nicht zurückkönnen, wollen sie ihre Glaubwürdigkeit bewahren. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, die politisch Verantwortlichen verbauten sich durch Unnachgiebigkeit schon vorher ein mögliches Bündnis.

Worüber Konsens bestehen müsste: Deutschland benötigt auf der Bundesebene keine Fortsetzung der schwarz-roten Koalition. Diese schadet dem Wechselspiel von Regierung und Opposition. Deutschland benötigt wieder Koalitionsaussagen der Parteien, damit der Wahlakt nicht weiter entwertet wird.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 133 – Thema: Seuchenjahr – Sprache, Bilder, Inszenierung hinter der Maske. Das Heft können Sie hier bestellen.