Warum ist Big Data gut für die Demokratie, Mister Issenberg?

Campaigning

p&k: Mister Issenberg, in Ihrem Buch „The Victory Lab: The Secret Science of Winning Campaigns“ beschreiben Sie, wie sehr moderne Technologien und Erkenntnisse der Verhaltensforschung das politische Campaigning in den vergangenen Jahren verändert haben. Wann genau hat diese rasante Entwicklung begonnen?

Sasha Issenberg: Los ging es um die Jahrtausendwende. Die ersten wissenschaftlichen Feldversuche zum Verhalten von Wählern fanden 1998 statt, ihre Ergebnisse wurden 2000 veröffentlicht und allmählich von der Politik zur Kenntnis genommen. 2002 begann dann das, was wir Micro-Targeting nennen.

Kaum zu glauben, dass politisches Campaigning den Nutzen wissenschaftlicher Forschung derart spät für sich erkannt hat.

Nun, Politikprofis hatten schon immer eine gewisse Abneigung gegenüber Politikwissenschaftlern. Das meiste, was sie tun, finden sie zu abstrakt – und das ist ja auch so. Über politisches Verhalten zu theoretisieren, ist nicht sehr hilfreich, wenn man eine Kampagne plant. Schlaue Leute in der Politik haben aber inzwischen erkannt, dass es wissenschaftliche Methoden gibt, die ungemein hilfreich sind, um den Effekt dessen, was sie tun, zu messen.

Dennoch hat man den Eindruck, dass politisches Campaigning anderen Disziplinen hinterherhinkt.

Ich würde sogar sagen, dass Campaigning gar keine Disziplin ist, da es keinerlei intellektuelles Gerüst hat. Es ist ein Sektor, ein sehr zyklisches Geschäft. Und zyklische Branchen neigen dazu, nicht übermäßig in Forschung und Entwicklung zu investieren. Politischen Beratern reicht es in der Regel, damit Geld zu verdienen, dass sie Jahr für Jahr dasselbe wiederholen.

Wann ist Ihnen zum ersten Mal bewusst geworden, dass beim Campaigning eine „analytische Revolution“, wie Sie es nennen, im Gange ist?

2004/2005 habe ich zum ersten Mal davon gehört, dass sich Wissenschaftler seit einigen Jahren mit der Frage beschäftigen, wie das Verhalten von Wählern beeinflusst werden kann. Aber ich wusste nicht, dass es Leute in der Politik gibt, die diesen Feldversuchen Beachtung schenken und auch selbst entsprechende Studien in Auftrag geben. Gehört habe ich davon zum ersten Mal bei einem Briefing nach den Präsidentschaftswahlen 2008. Das war völlig neu für mich und ich fand die Idee, wissenschaftliche Methoden ins Campaigning einzuführen, sehr aufregend.

 

„In den USA sind politische Einstellungen längst nicht so privat wie in Europa“

 

Viele Ihrer Kollegen hingegen haben Ihrem Buch zufolge die tiefgreifenden Veränderungen im Campaigning lange Zeit nicht bemerkt. Wie konnte das passieren?

Journalisten waren nie besonders gut darin, Kampagnen auf einem taktischen Level zu verstehen – einfach weil sie sich so stark auf die großen Bilder im Wahlkampf konzentrieren. Das Problem ist, dass die Taktik inzwischen so viel ausgeklügelter ist als früher. Heute nutzt eine gute Kampagne Instrumente, die weit über das technische Verständnis von Journalisten, die ja Generalisten sind, hinausgehen. Für Kampagnenmacher ist es daher sehr einfach, ihre Methoden geheim zu halten. Und viele von ihnen haben naturgemäß kein Interesse daran, sie publik zu machen.

Wie haben Sie sie dazu gebracht, mit Ihnen zu reden?

Ich habe 2010 für das „New York Times Magazine“ eine Reportage über das Analyst Institute geschrieben, das damals für Gruppen der politischen Linken Feldversuche zum Wählerverhalten durchführte. Anfangs war es sehr schwierig, genug Stoff für den Artikel zusammenzubekommen. Die Wissenschaftler selbst waren zwar daran interessiert, dass ihre Erkenntnisse veröffentlicht werden. Aber ihre Auftraggeber waren alles andere als erfreut über meine Recherchen. Leute aus der Politik sind ja immer getrieben von der Furcht, ihr Name könnte morgen auf Seite eins der „Washington Post“ stehen oder heute Nachmittag auf „Politico“. Glücklicherweise ließ diese Furcht nach, als ihnen klar wurde, dass ich an einer Langzeitreportage arbeitete.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass es beim Campaigning nicht länger darum gehe, die Meinung der Leute zu ändern, sondern ihr Verhalten. Was heißt das konkret?

Lassen Sie es mich an einem Beispiel erklären: Vielleicht zehn Prozent der Wähler in den USA waren bei der letzten Präsidentschaftswahl offen für beide Kandidaten. 90 Prozent waren von vornherein entschieden, wen sie wählen würden. Das heißt, dass es oft erfolgversprechender ist, einen Nichtwähler zu einem Wähler zu machen, als einen Obama-Wähler in einen Romney-Wähler zu verwandeln oder umgekehrt. Denn die Verhaltensforschung hat gezeigt, dass man einen Nichtwähler relativ leicht dauerhaft in den politischen Prozess hineinbringen kann, wenn es für ihn zur Gewohnheit, zu einem Ritual wird, seine Stimme abzugeben. Daher richtet sich der Fokus heutiger Kampagnen nicht länger auf die Leute, die ohnehin wählen gehen, sondern auf die, die in der Regel nicht oder nur gelegentlich an Wahlen teilnehmen. Und das hat positive Folgen für die Wahlbeteiligung.

Inwiefern?

Nun, die Wahlbeteiligung in den Vereinigten Staaten war 1998 auf einem historischen Tiefpunkt und ist in den vier Präsidentschaftswahlen seither nicht unwesentlich angestiegen. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das daran liegt, dass unsere Regierung die Menschen mehr anspricht als früher oder dass unsere Politiker inspirierender sind. Ich glaube, es liegt daran, dass Kampagnen mehr sinnvolle Interaktionen mit den Wählern haben, als es früher der Fall war. Und je besser die Daten und Analysen, die ihnen zur Verfügung stehen, desto eher sind sie in der Lage, solche Interaktionen zu planen.

Halten Sie dieses Sammeln von persönlichen Daten potenzieller Wähler durch die politischen Parteien nicht für problematisch für eine Demokratie?

Nein, denn sie tun das ja nur, um besser zu verstehen, wer sich möglicherweise engagieren wird. Je mehr Leute wählen gehen, desto besser für eine Gesellschaft, eine Demokratie. Die Frage ist daher: Wie schaffe ich es, dass die Teilnahme an Wahlen für für die Leute bedeutungsvoller wird. Das Ziel ist doch, die politische Beteiligung zu erhöhen, und nicht, die Leute zu demotivieren.

Dennoch ist es eine erschreckende Erkenntnis, dass politische Parteien mitunter früher wissen, was man wählt, als man selbst.

Das sehe ich nicht so. In den USA halten wir politische Neigungen oder Einstellungen längst nicht für so privat, wie es viele in Europa tun. Unsere politische Kultur basiert darauf, dass Leute an den Türen von Fremden klingeln und sie fragen, ob sie vorhaben, wählen zu gehen. Unser ganzes politisches Campaigning gründet darauf.

Ihr Buch ist im September 2012 erschienen, zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen. Wie waren die Reaktionen?

Es gab einige Leute auf der Linken, die überrascht und auch verärgert waren. Denn einiges von dem, worüber ich berichtet habe, hätten sie gern geheim gehalten, um den Republikanern gegenüber weiter im Vorteil zu sein. Viele Republikaner hingegen, die wissen wollten, wie sie den Abstand zu den Demokraten aufholen könnten, haben oft mit meinem Buch begonnen, ein Verständnis dafür zu entwickeln.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Wer das Sagen hat. Das Heft können Sie hier bestellen.