Von "Nerd-Land" sind wir noch weit ­entfernt

Politik

Die Digitalisierung hat die Bundes­regierung erreicht. Alles, was digitalisiert werden kann, soll auch digitalisiert werden: Mobilität, Bildung, Gesundheit, Arbeit, Sicherheit und sogar Europa. Gleich drei Akteure koordinieren im Kanzleramt das Megathema: die Staatsministerin für Digitalisierung bei der Bundeskanzlerin, Dorothee Bär (CSU), Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) und Eva Christiansen als Leiterin der neu geschaffenen Abteilung “Politische Planung, Innovation, Digitalpolitik und strategische IT-Steuerung”. Diese “digitalen drei” müssen das bislang Unmögliche möglich machen, nämlich alle Beteiligten unter einen Hut bringen. Das wird nicht einfach: Das Querschnittsthema Digital­politik bearbeiten aktuell 244 Teams aus 76 Abteilungen in 14 Bundesministerien.  

Die Zeit drängt. Deutschland ist zuletzt mit Blick auf die Digitalisierung zurückgefallen. Im jüngsten “Digital Economy and Society Index 2018” der Europäischen Kommission ist Deutschland im europäischen Vergleich seit 2016 von Platz 9 auf 14 ins Mittelfeld abgerutscht. Bei schnellem Breitband, E-Government, E-Health und der Nutzung moderner digitaler Technologien hinkt der Exportweltmeister hinterher. Dabei ist Europa nicht der Maßstab für internationale Vergleiche. 

Der digitale Rückstand Europas zeigt sich vor allem im Vergleich mit den USA und China. Europas Anteil am Wert der 60 wertvollsten digitalen Plattform­unternehmen beträgt nur noch drei Prozent. Europa verliert jährlich an Wertschöpfung Richtung USA, wo die großen Anbieter wie Google, Amazon, Facebook und Apple beheimatet sind. Bei der “Digital Readiness” ist Deutschland ein Entwicklungsland. In ihrem aktuellen Gutachten warnt die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) davor, dass Deutschland den digitalen Anschluss zu verlieren droht. 

Das Mantra der Querschnittsaufgabe 

In der vergangenen Legislaturperiode oblag die Umsetzung der Digitalen Agenda drei Bundesministerien: dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), dem Bundesministerium des Innern (BMI) und dem Bundes­ministerium für Verkehr und digitale Infra­struktur (BMVI). Aber auch in den anderen Ministerien wurden digitalpolitische Themen und Expertise aufgebaut. Die neue Bundesregierung belässt es beim Mantra der Digital­politik als Querschnittsaufgabe und hat auf ein Digitalministerium verzichtet. 

Die gute Nachricht: Die Bundesregierung geht das Mega­thema Digitalisierung endlich an. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD listet auf zwölf Seiten die digitalen Aufgaben der neuen Großen Koalition auf. Fast hundertmal taucht der Begriff im 177-­seitigen Papier auf. Die schlechte Nachricht: Viele Zuständigkeiten bleiben auch in dieser Großen Koalition beim Bundes­wirtschaftsministerium (Digitalwirtschaft), beim Innenministerium (digitale Verwaltung, IT-Sicherheit) und beim Verkehrs­ministerium (Netze). Digitalkompetenz wird zudem von jedem Ministerium erwartet. 

Die Digital­politik wird in dieser Legislaturperiode allerdings im Bundeskanzleramt gebündelt. Letzteres ist damit für die stärkere Koordinierung und Umsetzung der Digitalen Agenda verantwortlich. Die Grundlagen dafür wurden in den vergangenen vier Jahren unter anderem mit dem E-Government-­Gesetz gelegt. Die Digitalpolitik wurde im Bundeskanzleramt auch personell neu strukturiert: Während Helge Braun als Chef des Bundeskanzleramts und Eva Christiansen als Leiterin der neuen Digitalabteilung über zahlreiche Mitarbeiter und Einheiten verfügen, schwebt Staatsministerin Dorothee Bär im Organisationsplan des Bundeskanzleramts wie ein Lufttaxi durchs All. Ihr wird, das haben auch ihre ersten Medien­beiträge und öffentlichen Auftritte gezeigt, die Kommunikation der Digitalpolitik obliegen. 

Ein Kabinettsausschuss Digitales unter Leitung der Kanzlerin und der IT-Rat der Staatssekretäre sollen die Digital­politik zwischen und innerhalb der Ministerien vorantreiben. Externes Know-how soll über den Digitalrat organisiert werden, in dem nationale wie internationale Experten über Netzpolitik beraten.   

Bürgerportal und -konto als zentrale Vorhaben

Akuter Handlungsbedarf besteht vor allem beim Thema “Digitale öffentliche Dienste / E-Government”, der Digitalisierung des öffentlichen Alltags. Hier schneidet Deutschland nach dem EU-Index besonders schlecht ab (Platz 21). Das Beispiel Estland zeigt, dass dem Staat bei der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft eine Vorbildwirkung zukommt. Die Umstellung auf eine vollständig digitale Verwaltung hat in Estland die gesamte Internet­wirtschaft nach vorne gebracht. 

Noch gehört Deutschland zu den EU-Ländern mit der niedrigsten Online-Interaktion zwischen Behörden und Bürgern. Ändern soll das unter anderem das neue Onlinezugangsgesetz (OZG), das 2017 in Kraft getreten ist, mit dem zentralen Vorhaben des Bürgerportals. Der Bund setzt dabei Standards und definiert Schnittstellen und überlässt die konkrete Ausgestaltung den Bundesländern. Die elektronischen Behördendienste für Bürger und Unternehmen sollen in Zukunft erheblich ausgeweitet, verbessert und in einem Portalverbund bis 2022 angeboten werden. Das Bürger­portal soll bereits 2019 starten. Das OZG verpflichtet Bund und Länder, innerhalb von fünf Jahren ihre Verwaltungs­dienstleistungen online anzubieten und ihre eigenen Portale in einem Netzwerk zu verlinken. Die IT-Normen und Komponenten, die dabei zu verwenden sind, bestimmt der Bund. In einem Bürgerkonto soll jeder über einen einzigen Zugang seine persönlichen Daten verwalten können und Einsicht haben, welche Behörde Zugriff darauf hat. Für die Umsetzung des OZG steht eine halbe Milliarde Euro bereit. Bis zum Ende der Legislaturperiode soll auch der flächendeckende Ausbau der Glasfaseranschlüsse umgesetzt werden. 

German Angst oder Aufbruch in die Gesellschaft 5.0

Neben der Koordination innerhalb der neuen Bundesregierung wird es auch auf die Kommunikation mit der Bevölkerung ankommen. Das enorme Potenzial von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz ist bei den Bürgern kaum bekannt und eher negativ besetzt. Es überwiegen Skepsis und Angst. Von vernetzten Häusern, persönlichen Robotern und Sprachassistenten wollen die Deutschen bislang wenig wissen. Eine klare digitale Vision besitzt nur jedes dritte Unternehmen. Zwei Drittel der Unternehmen haben keine digitale Weiterbildungsstrategie. Die öffentliche Debatte wird beherrscht von einer neuen “German Angst”. Statt über die Chancen zu sprechen, werden die Risiken diskutiert. 

Dabei ist das Versprechen der Digitalisierung ein positives: ein besseres, sinnvolleres und nachhaltigeres Leben. Instrumente wie Sensoren, Roboter, Big Data und Cloud Computing können Menschen dabei helfen, Probleme zu lösen wie die Bekämpfung des Klimawandels, des Terrorismus, bislang schwer heilbarer Krankheiten. Sie ermöglichen staufreie und sichere Mobilität, machen Verwaltungen effizienter und bürgernäher, reduzieren Bildungs­armut und führen zu einem effektiveren Sozialstaat. Bei der Digitalisierung geht es nicht nur um die Vernetzung der Wirtschaft (“Industrie 4.0”), sondern auch um die Vernetzung der Gesellschaft (“Gesellschaft 5.0”). Ziel sind die Stärkung der Individuen, mehr Sicherheit und Komfort und eine Innovationskultur, an der jeder teilhaben soll. 

Digitale Kompetenz und Souveränität werden in Zukunft zu Schlüsselfaktoren. Neue Technologien erfordern mündige Menschen, die sie souverän einsetzen können. Einen weiteren Schritt hat das Bundeskanzleramt jetzt unternommen: Gesucht werden Referenten für Grundsatzfragen der Digitalpolitik. Aus “Neuland” soll offenbar “Nerd-Land” werden. Es könnte funktionieren. 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 123 – Thema: Der neue Regierungsapparat. Das Heft können Sie hier bestellen.