Vom Virus befallen

Politik

Gespräch mit Gabriele Groneberg im Februar dieses Jahres. Die SPD-Politikerin war gerade für Sebastian Edathy in den Bundestag nachgerückt und erzählte, wie es ihr damit gegangen sei, nach der gescheiterten Wiederwahl im September 2013 als erste Nachrückkandidatin auf der niedersächsischen Landesliste der SPD “auf Abruf” bereitzustehen.

Dabei kam auch ihr “Vorleben” als Mitarbeiterin des damaligen SPD-Bundestags­abgeordneten Günter Graf zur Sprache. Für Groneberg ein wichtiger Punkt für ihre Entscheidung, 2002 selbst zu kandidieren, denn: “Das ist schon eine Art Virus, der einen da befallen kann. Man kann Menschen mit Problemen ganz konkret helfen. Wenn man als Mitarbeiter erlebt, dass das funktioniert, möchte man das irgendwann selber machen.”

Vom Virus befallen – ein interessanter Gedanke. Umso mehr, als sich schnell herausstellte, dass Groneberg kein Einzelfall ist. Für p&k haben die Herausgeber des Datenhandbuchs zur Geschichte des Deutschen Bundestages herausgefunden, dass allein 37 Abgeordnete der 18. Wahlperiode zuvor einmal als Mitarbeiter bei einem Bundestagsabgeordneten tätig waren. Weitere 54 haben in ihrem früheren Leben für eine Fraktion oder Partei gearbeitet.

Wir haben uns vier von ihnen herausgepickt und stellen sie vor. Darunter einen Abgeordneten der Linksfraktion, der es im zweiten Anlauf in den Bundestag schaffte und nun eine Art “Authentizitätsloch” in seiner Fraktion füllt. Einen SPD-Sportpolitiker, der sieben Jahre persönlicher Referent eines CDU-Staatssekretärs war. Den Grünen-Politiker, der erst seine Berlin-Aversion überwinden musste, bevor er kandidierte, und die Unionsabgeordnete, die knapp 20 Jahre lang als Büroleiterin zweier MdBs tätig war, ehe sie selbst den Schritt in die erste Reihe wagte.

Hilfe statt Last

Büroleiter im Bundestag? Harald Petzold wäre Anfang 2005 nicht auf die Idee gekommen, diesen Job jemals auszuüben. “Ich hatte damals eine feste Stelle als Lehrer, war also alles andere als auf Arbeitssuche”, erzählt er. Doch dann kam es im September 2005 zu vorgezogenen Bundestagswahlen.

“Als wir damals wieder in Fraktionsstärke in den Bundestag gekommen sind, zogen auch viele ins Parlament ein, die gar nicht damit gerechnet hatten”, erzählt der Linken-Politiker. Dazu zählte auch die Agrarexpertin Kirsten Tackmann. Mit eigener parlamentarischer Erfahrung in Brandenburg ausgestattet – “Ich war zuvor zwei Wahlperioden als Landtagsabgeordneter aktiv” –, nahm Petzold das Angebot Tackmanns an, ihr Bundestagsbüro zu ­leiten.

Damals, so sagt Petzold, habe er keineswegs daran gedacht, einmal selbst zu kandidieren. “Zu dem Entschluss kam ich im Verlauf der Arbeit, als ich mitbekam, dass es sinnvoll wäre, wenn auch in der Linksfraktion Abgeordnete mit Minderheiten-Hintergrund arbeiten würden.” Soll heißen: Wer sich mit Schwulen- und Lesbenthemen beschäftigt, sollte – “um respektiert zu werden” – selbst zu der “Szene” gehören. Bei dem 52-Jährigen ist das der Fall. Er steht offen zu seiner Homosexualität.

Bei der Wahl 2009 scheiterte er noch mit seiner Kandidatur. Ganz knapp. “Wir haben als Partei super gut abgeschnitten – nur eben meinen Wahlkreis nicht gewonnen.” Im Grunde sei er ein Opfer der niedrigen Wahlbeteiligung in Brandenburg gewesen, die dazu geführt habe, dass das Bundesland nur noch mit 19 Parlamentariern im Bundestag vertreten war. Petzold wäre die Nummer 20 gewesen.

Geschafft hatte es dagegen Sabine Stüber, die überraschend ihren Wahlkreis gewann. “Ich habe ihr dann angeboten, ihr Büro aufzubauen, da sie eine völlige Seiteneinsteigerin war, die mit dem Bundestag noch nie etwas zu tun hatte”, erzählt Petzold. Drei Monate lang stellte er ihr “das Know-How, das ich mir erarbeitet hatte, zur Verfügung, damit sie einen guten Start hat”. Dann wechselte er als Referent ins brandenburgische Wirtschaftsministerium.

Bei der Wahl 2013 schließlich klappte es. Als neuer Bundestagsabgeordneter profitiert Petzold von seinem Vorleben als Büroleiter. “Klar ist das so”, sagt er. Nicht nur, dass ihm schon viele Leute aus der Fraktion vertraut sind. “Ich kenne zudem die Abläufe und kann so meinen Mitarbeitern, die neu im Bundestag sind, eine kleine Hilfe sein und nicht eine zusätzliche Last”, sagt er und lacht.

Ein Schritt nach vorne

Wer regelmäßig mit dem Sportausschuss des Bundestages zu tun hat, der kennt Matthias Schmidt. Der groß gewachsene und immer freundlich wirkende 51-Jährige mit dem Dreitagebart nahm in den vergangenen Jahren in den Ausschusssitzungen stets in der zweiten Reihe Platz, in Rufnähe des für Sport zuständigen Innenstaatssekretärs Christoph Bergner (CDU), dessen persönlicher Referent im Innenministerium Schmidt seit 2005 war.

Matthias Schmidt arbeitete seit 2005 als persönlicher Referent von Christoph Bergner (CDU), 2013 wurde er selbst Abgeordneter. (Foto: Julia Nimke)

Umso überraschender das Bild, das sich in der ersten Sitzung des Ausschusses in dieser Wahlperiode bot. Schmidt, wie immer gut gelaunt, betrat den Sitzungssaal und – setzte sich in die erste Reihe, zu den SPD-Abgeordneten, zu denen jetzt auch er gehört. “Es ist zwar nur ein kleiner Schritt nach vorne, aber ein erheblicher Schritt für mich”, sagt er in Anlehnung an Mondfahrer Neil Armstrong.

SPD-Mitglied ist Schmidt schon lange – und war es bereits, als er für den CDU-Mann Bergner arbeitete. Ursprünglich war Schmidt im Innenministerium für seine Parteifreundin Ute Vogt tätig, die das Amt der für Sport zuständigen Staatssekretärin innehatte, bis Christoph Bergner übernahm. “Ende 2005 habe ich das Büro an ihn übergeben”, erinnert sich Schmidt.

Als er sich Bergner vorstellte, habe er auch erwähnt, dass er SPD-Mitglied ist. “Da hat er kurz gestockt und sich eine kurze Zeit des Überlegens ausgebeten, kam aber zu dem Schluss, dass das mit uns beiden schon klappen könne”, erinnert sich der Sportpolitiker.

Sieben Jahre arbeiteten sie dann erfolgreich zusammen. An ihrem Verhältnis hat Schmidts Entscheidung, selbst den Schritt in die erste Reihe zu wagen, nichts geändert. “Das ist nach wie vor gut”, sagt er und weiß auch warum: “Ich habe ihm gegenüber immer mit offenen Karten gespielt und ihn frühzeitig über meinen Plänen unterrichtet.”

Einen konkreten Zeitpunkt, ab dem er den Plan, selbst zu kandidieren, verfolgt hat, vermag er nicht zu nennen. “Das war eine Entwicklung, die von vielen Faktoren beeinflusst wurde”, bleibt er im Ungefähren. Richtig ernst sei es Anfang 2012 geworden. “Da habe ich begonnen, mir Gedanken darüber zu machen, und bin nach Gesprächen mit meiner Familie zu dem Schluss gekommen, es zu versuchen.” Mit Erfolg.

Nun ist er im Sportausschuss eine Reihe nach vorn gerückt und trifft seinen ehemaligen Chef, der inzwischen nicht mehr als Staatssekretär, sondern als einfacher Abgeordneter unterwegs ist, bei parlamentarischen Veranstaltungen auf Augenhöhe. Und dennoch: “Dass wir jetzt Kollegen sind”, räumt Schmidt ein, “ist für mich noch immer etwas gewöhnungsbedürftig.”

Ohne Masterplan

Als der damals 28-jährige Biologiestudent Oliver Krischer 1997 als studentischer Mitarbeiter im Bonner Bundestagsbüro von Michaele Hustedt anheuerte, fand er bei der energiepolitischen Sprecherin der Grünen die Antwort auf die Frage nach Alternativen zu “Kohle und Atom”. Erneuerbare Energien, Effizienz und Einsparung – es sind die Themen, mit denen sich Krischer bis heute beschäftigt.

Profitiert als Abgeordneter in Berlin von seinen Erfahrungen als Mitarbeiter in Bonn: Oliver Krischer. (Foto: Julia Nimke)

Dass er das einmal wie seine damalige Chefin als Mitglied der Grünen-Fraktion im Bundestag tun würde, war damals nicht absehbar. “Ich hatte zu der Zeit als Mitarbeiter von Michaele Hustedt überhaupt nicht die Vorstellung, selbst einmal Abgeordneter zu sein”, sagt er. Die habe sich erst später entwickelt.

Und wie? Nun – keineswegs so, “dass man morgens aufsteht und sagt: Ab heute kämpfe ich für die Kandidatur als Bundestagsabgeordneter”. Zumindest sei es bei ihm nicht so gewesen, schränkt der 44-Jährige ein und sagt: “Den ganz großen Masterplan gab es nicht.”

Ein Umzug nach Berlin im Gefolge des Bundestages 1999 kam für den Mann aus der Eifel damals “aus allen möglichen Gründen” ohnehin nicht in Frage. 2002 wechselte er daher als Referent in die Landtagsfraktion der Grünen in Nord­rhein-Westfalen. Sieben Jahre später wagte er dann den Schritt nach Berlin – als Bundestagsabgeordneter.
Warum nun doch? “Man stellt über die Zeit immer öfter fest: Da könnte ich etwas beitragen, dort einen eigenen Beitrag leisten”, erzählt er. Wichtig sei für ihn auch die Bestätigung von Mitstreitern gewesen, die ihm gesagt hätten: Du kannst das.

Im Bundestag in Berlin angekommen, profitierte Oliver Krischer von seinen Bonner Erfahrungen. Es sei ein großer Vorteil, wenn man den Parlamentsbetrieb schon kenne, findet er und fügt hinzu: “Das Lehrgeld, das man am Anfang zahlen muss, ist dann geringer.”

“Wer nicht wagt, der nicht gewinnt”

Die Frau ist ein Dauerbrenner. Seit 35 Jahren arbeitet Anita Schäfer im Deutschen Bundestag. Seit 1998 als CDU-Abgeordnete im Verteidigungs- und Innenausschuss. Und zuvor 19 Jahre als Büroleiterin – erst vom Unions-Außenexperten Werner Marx und später bei Klaus-Dieter Uelhoff.

Auf der Straße “gecastet”: Anita Schäfer arbeitet seit 35 Jahren im Bundestag, 16 davon als MdB. (Foto: Julia Nimke)

Marx war es, der die 28-Jährige aus der Südwestpfalz gewissermaßen auf der Straße “castete”. “Eines Tages kam er zu Besuch in den Wahlkreis Pirmasens. Ich wurde auserkoren, ihn zu begrüßen, was ich auch gerne getan habe, weil ich ihn für seine politische Arbeit verehrte”, erzählt Anita Schäfer, die damals zwar noch kein Parteibuch hatte, sich aber schon für den CDU-Ortsverband engagierte.

Offenbar machte die junge Frau Eindruck auf den gestandenen Politiker. “Sie gehen mit mir nach Bonn”, habe er zu ihr gesagt, erzählt sie. Sowohl die etwas herrische Ansprache als auch die Tatsache, dass Schäfer erst mal ihre Eltern um Erlaubnis fragen musste, zeugen davon, dass diese Begebenheit schon eine Weile her ist. Die Eltern stimmten zu und Anita Schäfer erhielt tatsächlich den “spektakulären Posten, auf den sich viele beworben hatten”.

Bei Marx blieb sie bis zu dessen Tod 1985, um dann für seinen Nachfolger Klaus-Dieter Uelhoff zu arbeiten. Als der schließlich 1998 aus Altersgründen auf eine erneute Kandidatur verzichtete, stand die Frage im Raum: Wer übernimmt seinen Wahlkreis? Als stellvertretende Kreisvorsitzende der CDU hätte sie die Kandidatur gern dem Vorsitzenden überlassen. “Erhard Lelle wollte aber nicht in den Bundestag, sondern lieber im Landtag bleiben”, erzählt sie. Fortan lautete ihr Motto: “Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.” Am Ende musste sich Schäfer parteiintern “gegen eine ganze Riege von Männern durchsetzen”.

Mit Erfolg. 2013 ist sie zum fünften Mal hintereinander gewählt worden – mit ihrem persönlichen Rekordergebnis von 45,9 Prozent. Eine erneute Kandidatur will die 62-Jährige nicht ausschließen. “Das hängt aber von verschiedenen Faktoren ab, wie etwa der Gesundheit”, sagt sie. Und auch davon, ob die Partei sie noch einmal aufstellen wolle. “Derzeit ist das aber noch kein Punkt, über den man reden muss”, schiebt sie das Thema erst mal zur Seite.

Alles nur Zufall?

Was lernen wir aus den Geschichten der hier vorgestellten Parlamentarier? Dass es den Masterplan, der eine schrittweise Entwicklung vom Mitarbeiter zum Abgeordneten vorsieht, nicht gibt. Sagen zumindest unsere Gesprächspartner. Stattdessen ist von Zufällen die Rede oder von Entwicklungen, die von vielen Faktoren beeinflusst waren. Mag das in den beschriebenen Fällen so gewesen sein: Grundsätzlich scheint es unter MdBs als unschick zu gelten, einen klaren Weg vom Mitarbeiter eines Abgeordneten hin zum eigenen Mandat verfolgt zu haben.

Dafür spricht auch, dass sich keiner der von uns befragten Mitarbeiter zu einem Bekenntnis durchringen konnte: Ja – ich plane, in naher Zukunft selbst für den Bundestag zu kandidieren. Sicher auch aus Angst, schon im Vorfeld “verbrannt” zu werden. Es ist aber davon ausgehen, dass auch bei der nächsten Wahl einige MdB-Mitarbeiter den Schritt von der zweiten in die erste Reihe machen werden. Schließlich gibt es da ja diesen Virus, der einen befallen kann.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Bonn – wo liegt das?. Das Heft können Sie hier bestellen.