Vom Kumpel zum Arbeiterverräter

Politik

Mai 2003: Das hätte sich Franz Müntefering wohl nicht in seinen schlimmsten Träumen vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt war er 37 Jahre lang Mitglied der SPD, 36 Jahre in der IG Metall. Nach der Volksschule und Lehre stieg er bis zum Generalsekretär und Fraktionsvorsitzenden im Bundestag auf. Wenn irgendwer den sprichwörtlichen “Stallgeruch” mitbrachte, dann er, das “sozialdemokratische Urgestein”. Und nun wurde er bei der Demo am 1. Mai als “Arbeiterverräter” beschimpft.

Es waren die Agenda 2010 und die Hartz-Reformen, die die Gewerkschaften so zur Weißglut brachten. Angesichts von vier Millionen Arbeitslosen, niedrigen Wachstums und steigender Staatsschulden hatten der damalige Kanzler Gerhard Schröder, Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier und der Fraktionsvorsitzende Müntefering mit Reformplänen für die sozialen Sicherungssysteme und den Arbeitsmarkt zum Befreiungsschlag ausgeholt. Doch was dann auf sie einbrach, fühlte sich wenig nach Befreiung an.

Die SPD war in ihren Grundfesten erschüttert. Andrea Nahles, Mitglied im Parteivorstand, kritisierte offen ihre Vorstandskollegen als basisfern: “Der Fisch stinkt vom Kopfe her!” IG-Metall-Chef Peters nannte die Agenda 2010 schlicht “Scheißdreck”. Elf Abgeordnete der Bundestagsfraktion hatten gar ein Mitgliederbegehren auf den Weg gebracht. Es wurde einsam um die Modernisierer in der SPD.

Kanzler Schröder reagierte mit Trotz und Härte. Er erklärte die Agenda 2010 zum Testfall für die Regierungsfähigkeit der Partei und verband die Sachdiskussion zum Reformpaket mit der Vertrauensfrage über seine Kanzlerschaft. Sollte er stürzen, wären das rot-grüne Projekt und die SPD-geführte Regierung gescheitert.

Reformgewinne für Angela Merkel und Aufstieg der Linken

Die Agenda 2010 und die Hartz-Reformen haben entscheidend zum Aufstieg der Linken beigetragen. Im Westen Deutschlands entstand 2004 die “Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit” (WASG) – in der Hochphase der “Montagsdemonstrationen” gegen die Agenda und Hartz IV. Sie bot enttäuschten Linken und Gewerkschaftern eine neue Heimat. An ihrer Spitze: der ehemalige Bundesfinanzminister und Parteivorsitzende der SPD, Oskar Lafontaine. Dazu vormalige SPD-Bundestagsabgeordnete und Gewerkschafter wie Klaus Ernst von der IG Metall. Im Januar 2005 folgte die Parteigründung. Im Juni 2007 vereinigte sich die WASG mit der PDS zur neuen Partei “Die Linke”.

Arbeitsmarktforscher und Wirtschaftswissenschaftler sind sich weitgehend einig, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit auf heute 6,4 Prozent auch auf diese Reformen zurückzuführen sind. Angela Merkel hat dies schon bei Amtsantritt im November 2005 hervorgehoben, als sie Gerhard Schröder für die mutigen Reformen dankte. Ihre Kanzlerschaft profitierte von der Entspannung auf dem Arbeitsmarkt in Folge von Hartz I-IV und der Agenda 2010.

Großer Durchsetzungswille, geringe Dialogbereitschaft

Die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen werden heute als wichtige Voraussetzung für die Erholung am Arbeitsmarkt und den wirtschaftlichen Aufschwung angesehen. Politisch aber gilt dieser gegen viele Widerstände durchgesetzte Wandel als gescheitert.

An Kompetenz und Kraft zur Durchsetzung ist die Agenda 2010 nicht gescheitert. Im Gegenteil: Schröder, Steinmeier und Müntefering hatten über viele Jahre die Reformbedarfe wachsen sehen. Die hohen Abgaben belasteten die schwache Konjunktur, die Arbeitslosigkeit stieg. Zudem gab es eine reformfreudige Stimmung in Teilen von Wissenschaft und Medien. Sie sahen ein Gelegenheitsfenster für die Durchsetzung der Reformen.

Die Chance zur Veränderung wurde konsequent genutzt, dabei bisweilen Widersacher in der eigenen Partei überrumpelt, übergangen und mit Rücktrittsdrohungen unter Druck gesetzt. Dafür bezahlten Schröder und Co. einen hohen Preis: Die Reformen gelten bis heute als Synonym für soziale Einschnitte und die führenden Reformakteure als Verrat an den sozialpolitischen Ideen der Partei.

Dialogische Aspekte wurden in allen Phasen vernachlässigt. Kommunikativ gelten Agenda 2010 und die Hartz-Reformen daher als völlig verunglückt – und spalten bis heute die SPD. Dabei hätten kommunikative Angebote in der Planung und Formulierung der Reform einige Verärgerung vermeiden können. Die folgenden Aspekte hätten helfen können, um den kommunikativen und politischen Schaden zu begrenzen:

1. Ausreichende Kommunikationskapazitäten einplanen

Schon bei der Planung der Reformen waren zu geringe Kommunikationskapazitäten vorgesehen. Ein Reformprozess braucht stabile Kommunikationskanäle zu zentralen Akteuren in Partei, Fachministerium und Fraktion. Ein so gesicherter Informationsfluss ermöglicht die Entwicklung einheitlicher Kernbotschaften, die alle relevanten Akteure auf eine Sprachregelung verpflichten und widersprüchliche Außendarstellungen vermeiden. Zudem hätte die Kommunikation inhaltlich und zeitlich aufeinander abgestimmt werden können, um in der Debatte die Deutungshoheit erlangen und zentrale Begriffe prägen zu können. Doch bereits die Kommunikation zwischen Kanzleramt und Bundespresseamt war inkonsistent, Partei, Fraktion und Fachministerium wurden sogar weitgehend davon entkoppelt. Die Außendarstellung des Reformpakets war entsprechend konfus und leicht angreifbar.

2. Das Überraschungsmoment mit Dialogangeboten verbinden

Als der Konflikt ausbrach, war die SPD-Führung nicht bereit, über Kritik an Hartz IV zu diskutieren. Dabei waren gerade für SPD-Mitglieder und -Wähler die Reformen mit Belastungen verbunden, Basisüberzeugungen der Partei wurden gebrochen. Dem Systembruch in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik hätte eine umfassende Diskussion vorausgehen müssen. Kanzler Schröder hatte sich aber für das Überraschungsmoment und die kompromisslose Durchsetzung entschieden.

Dabei hätten Überraschungsmoment und Dialogangebot durchaus verknüpft werden können. Warum nicht zeitgleich mit der Reformbekanntmachung einen breiten gesellschaftlichen Dialog ankündigen und damit ein Beteiligungsangebot unterbreiten? So wäre ein Ventil für Unmut vorhanden gewesen – parteiinterne Gegner hätten sich weniger in den Medien positioniert. Bereits während des Agenda Settings hätte die Möglichkeit bestanden, die Parteibasis einzubeziehen und von der Notwendigkeit der Reform zu überzeugen. Angesichts der reformfreudigen Stimmung in Wissenschaft und Medien hätte eine realistische Chance bestanden, ein breiteres Bewusstsein für einen Veränderungsbedarf zu erzeugen. Die Angabe konkreter Zeitpunkte, Orte und Themen in der Agenda-Rede im Bundestag hätten zudem die Glaubwürdigkeit des Beteiligungsangebots erhöht. Kanzler Schröder wäre dann sowohl als inhaltlicher Impuls- als auch prozessualer Taktgeber aufgetreten. In der Debatte hätte er sich zwischen den Positionen verorten, seine Leitideen als Kompromisse positionieren und kommunikativ durchzusetzen können.

3. Mit einer positiven Reformsprache die Vorteile herausstellen

Reformen provozieren Widerstände – ob aufgrund materieller Verschlechterungen oder schon wegen der inhärenten Kritik am Ist-Zustand. Daher braucht es stichhaltige Argumente, überzeugende Lösungen und ein erstrebenswertes Ziel. Die Leitideen der Agenda-Politik wurden von Kanzler Schröder allerdings nur angerissen: “Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.” Kürzungen? Eigenleistung abfordern? Um positive Deutungsmuster zu etablieren, hätte er wünschenswerte Ziele und Vorteile benennen müssen. Eine alternative Formulierung hätte etwa lauten können: “Wir werden den Sozialstaat modernisieren und die Ausgaben beschränken, damit unsere Kinder nicht mit Schulden belastet werden. Wir werden zwar mehr Eigenverantwortung von jedem fordern, dadurch aber denen solidarisch helfen können, die sich im Arbeitsleben beweisen wollen.”

4. Etappenziele definieren

Bei komplexen Reformvorhaben lassen sich selten kurzfristig messbare Wirkungen erzielen. Oft braucht es mehr als eine Legislaturperiode, bis wesentliche Veränderungen spürbar sind. In diesen Fällen sollten Etappenziele in den Vordergrund gestellt werden, also Lösungen, die in absehbarer Zeit erreichbar sind und die die Wirksamkeit der Maßnahmen unterstreichen. Auf diese Weise bleiben selbst bei langfristigen Wirkungshorizonten Reformerfolge wahrnehmbar.

So war den Experten beispielsweise bewusst, dass durch die Berücksichtigung von Kindern im Arbeitslosengeld II ein neuer Rekord an Hilfebedürftigen ausgewiesen werden würde. Vor diesem Hintergrund hätte ein Etappenziel heißen können: “Das wahre Ausmaß an Hilfebedürftigkeit erkennen”. Die Regierung hätte deutlich machen können, dass erst durch ihre Reform überhaupt Transparenz hergestellt wurde und das als zusätzliches Argument für eine Veränderung nutzen sollen. Stattdessen wurden die Zahlen von den Reformgegnern genutzt, um den Regierungskurs zu skandalisieren.

Fazit

Agenda 2010 und Hartz IV stehen exemplarisch für eine Reformstrategie, bei der die Durchsetzung der Reform mittels einer Überrumpelungstaktik im Vordergrund stand und wesentliche Kommunikations- und Dialogmechanismen vernachlässigt wurden. Es ist nicht gelungen, die Reformbereitschaft von SPD-Funktionären, -Mitgliedern und -Wählern zu fördern, Vertrauen in die Reform aufzubauen und Bürgernähe herzustellen – ein Scheitern beim Erfolgsfaktor Kommunikation.