„Unsere Regierung steht auf dem Spiel“

p&k: Herr Professor Imhof, die Schweizerische Volkspartei, die SVP, musste bei der Wahl einen Rückschlag hinnehmen, trotzdem bleibt sie mit Abstand stärkste Kraft. Konnte die Partei mit ihren Themen den Wahlkampf bestimmen?
Kurt Imhof: Das große Thema der SVP war und ist die Masseneinwanderung. Die Partei setzt auf einen Populismus, der mittlerweile bekannt und erfolgreich ist: unten gegen oben, also Volk gegen Elite und Zugehörige gegen Fremde. Die SVP-Politiker behaupten gerne, dass sie auf der Seite des „Volks“ stehen und gegen eine Elite ankämpfen, die die Schweiz in die EU führen will und die Masseneinwanderung befördert. Sie setzt regelmäßig auf eine aufwändige Wahlkampfstrategie, die klar auf Provokation ausgerichtet ist und dadurch die redaktionellen Inhalte der Medien bestimmt. Bei diesen Wahlen jedoch verlor die SVP erstmals seit den späten 80er Jahren Stimmenanteile. Aufgrund des Ereignisdrucks in der Wirtschaft konnte sie ihre Kampagne nicht wie den vergangenen Wahlen erfolgreich durchziehen.
Verlierer der Wahl ist die FDP.
Das schlechte Abschneiden der Liberalen ist eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Wahl. Die FDP war die staatstragende Partei der Schweiz, sie ist seit 1848 Teil der Regierung – eine weltweit einmalige Dauer. Allerdings hat sie sich insbesondere seit den 90er Jahren für die Globalisierung, den Steuer- und Standortwettbewerb sowie Deregulierung eingesetzt; dadurch hat sie immer mehr Wähler an die nationalkonservative SVP verloren. Bei dieser Wahl haben die erst 2007 durch eine Abspaltung von der SVP entstandene, moderatere Bürgerlich-Demokratische-Partei und die ebenfalls neuen Grünliberalen die FDP unter Druck gesetzt.
Was hat die FDP falsch gemacht?
Die Partei hat zu stark auf ein neoliberales Programm gesetzt und ein absolutes Vertrauen in die Effizienz der Märkte propagiert. Vor dem Hintergrund einer erneuten Rezessionsgefahr hat ihr das im Wahlkampf enorm geschadet. Dazu kommt, dass die SVP die FDP auf vielen Politikfeldern überholt hat. Früher waren die Liberalen die Partei der Schützenvereine und des Patriotismus, doch die SVP hat ihr diese Rolle abgenommen.
Trotz Konfliktthemen wie Atomausstieg, Finanz- und Wirtschaftskrise sowie Integrationspolitik haben die Schweizer einen emotionslosen Wahlkampf erlebt. Was sind die Gründe?
Ereignisse auf internationaler Ebene haben die Kampagnen der Parteien zerhackt. Die Diskussionen um das Bankgeheimnis, der milliardenschwere Verlust durch illegale Geschäfte eines Investment-Bankers der UBS und die Angst vor einem „Double Dib“, einem zweiten Konjunktureinbruch: Diese Themen haben die Pläne der Parteistrategen durcheinandergewirbelt, sie fanden keine adäquaten Antworten auf die neuen Bedrohungen.
Mitte Oktober hat die Schweiz den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Energiepolitik kontrovers diskutiert wurde, hat das Thema im Schweizer Wahlkampf keine Rolle gespielt. Was sind die Unterschiede?
Das Thema hat den Schweizer Wahlkampf im Frühsommer beeinflusst. Das Land hat sich rasch dazu entschlossen, in der Energiepolitik den deutschen Weg zu gehen und den Ausstieg aus der Atomenergie voranzutreiben. Gleichzeitig hat der Bundesrat, die Schweizer Regierung, den Ausstieg sehr unaufgeregt vorangetrieben. Beides führte dazu, dass sich beispielsweise die Grünen mit ihrer Kampagne nicht in der Öffentlichkeit durchsetzen konnten.
Welche Themen haben stattdessen die Agenda bestimmt?
Neben der Masseneinwanderungs-Kampagne der SVP ging es in erster Linie um wirtschaftspolitische Fragen: den Mindestkurs für den Schweizer Franken beispielsweise oder die Probleme der Exportindustrie. Das hängt damit zusammen, dass die Möglichkeit einer erneuten Krise der Finanzindustrie und einer Rezession die Schweizer enorm beunruhigt – die Finanzindustrie erwirtschaftet hier rund zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Diese Diskussionen haben schließlich dazu geführt, dass auch die Sozialpolitik ein dominierendes Thema im Wahlkampf war.
Wie hat die SVP auf die Finanzkrise reagiert? Die Partei ist berühmt für ihre provokanten Plakate.
Die SVP konnte auch in diesem Jahr auf die größten finanziellen Ressourcen zurückgreifen. Der schweizerische Rechtspopulismus ist der reichste in Eu-ropa. Die SVP hat weitaus die meisten Anzeigen geschaltet und die meisten Plakate aufgehängt. Bei den restlichen Parteien hat jedoch ein Umdenken eingesetzt, sie haben nicht mehr in dem Maß auf die Provokationen der SVP reagiert, wie sie das noch vor einigen Jahren getan haben. Sie haben gemerkt, dass ihre Reaktionen auf die Polemiken und die entsprechende Konfliktstilisierung durch die Medien der SVP nur noch mehr Aufmerksamkeit bringen.
Beim Aufstieg der SVP haben auch die Schweizer Gratiszeitungen, zum Beispiel „20 Minuten“, eine Rolle gespielt. Haben sie mit ihrem Hang zur Boulevardisierung den Erfolg der Partei ermöglicht?
Die Gratismedien haben sich im vergangenen Jahrzehnt in der Schweiz etabliert. Sie bilden mittlerweile die größten Zeitungen in der deutschen und französischen Schweiz. Der Journalismus der Gratiszeitungen, aber auch der wichtigsten News-Webseiten ist durch eine starke Eventorientierung gekennzeichnet, mithin eine Konzentration auf medienwirksame Aktionsformen. Diese Boulevardisierung hat der SVP mit ihren provokanten Aktionen geholfen.
Christoph Blocher, charismatischer Vordenker der SVP, will mit dieser Wahl auf die politische Bühne zurückkehren. Wie haben die Medien Blochers Comeback begleitet?
Die NZZ, die „Neue Zürcher Zeitung“, hat das begrüßt, sogar eine Wahlempfehlung für Blocher gegeben. Das hat viele Schweizer überrascht, schließlich galt die NZZ lange Zeit als Quasi-Parteiblatt der Freisinnigen. Die anderen Zeitungen waren irritiert, dass Blocher noch einmal angetreten ist; er ist bereits 71 Jahre alt.
Ist Blocher noch immer die polarisierende Figur, die er früher einmal war?
Blocher musste in diesem Jahr eine doppelte Strategie verfolgen, denn er hatte sich sowohl um einen Sitz im National- wie auch im Ständerat beworben. Letzterer ist die Vertretung der Kantone, unser Pendant zum Deutschen Bundesrat. Dort kommt es auf einen staatsmännischen Gestus an. Die Schweizer wählen keine radikale Figur in den Ständerat. Beim Nationalrat, dem eigentlichen Parlament, ist ein provozierender Wahlkampf kein Problem. Dieser Spagat war auch einer der Gründe, warum die diesjährige SVP-Kampagne weniger aufsehenerregend und erfolgreich war als die  2007 und 2003.
Die SVP ist für ihre leicht verständlichen und stigmatisierenden Plakatmotive bekannt: weiße Schafe gegen schwarze Schafe, oder Minarette, die die Schweizer Fahne durchbohren. Haben solche Motive in diesem Jahr eine Rolle gespielt?
Ja, zuletzt vor einigen Wochen. Damals klebte die SVP Plakate mit dem Titel „Kosovaren schlitzen Schweizer auf!“ Hintergrund war ein Streit zwischen einem Schweizer und einem Kosovaren Mitte August in Interlaken, bei dem der Schweizer umkam. Die SVP nutzte den Slogan jedoch, um ganz allgemein auf die Probleme der Massenintegration hinzuweisen. Ein klassisches Mittel der Provokation. Dazu kommt die SVP-übliche Bildsprache: schwarze Schuhe, die über die rot-weiße Flagge der Schweiz schreiten. Letztlich war der öffentliche Druck auf die SVP jedoch zu groß, so dass die Partei das Plakat entschärfen musste.
Das politische System der Schweiz ist seit Jahrhunderten auf Konkordanz ausgelegt, auf den politischen Konsens. Ist das System stabil genug, den Aufstieg der SVP zur dominierenden Partei auszuhalten?
Ich befürchte, dass es nicht so stabil ist.Die Schweiz hat stets versucht, alle politischen Akteure in den Entscheidungsprozess einzubinden und so zu einer Einigung zu kommen. Es kam auf die sanfte Gewalt des besseren Arguments an. Diesen Prozess gibt es nicht mehr, und das bringt das Konkordanzsystem aus der Balance. Gewinnt die SVP in Zukunft weiter Stimmen hinzu, steht der Bundesrat als kollektiv agierende Regierung auf dem Spiel. Eine konservative Regierung und eine linke Opposition – so etwas hat es in der Schweiz noch nie gegeben.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe SPD – Eine Partei baut sich um. Das Heft können Sie hier bestellen.