Storytelling? Vergessen Sie’s!

Adornos Diktum, es gäbe kein richtiges Leben im Falschen, wird stets aufs Neue widerlegt durch den Manufactum-Katalog. Jede darzustellende Sache benötigt ein erzählerisches Differential, oder wie es in der Erzähltheorie heißt, einen Narrativ. Das Versandhaus, in den 80ern von einem Grünen gegründet, verkauft Gebrauchsgegenstände, die oft noch von Hand gefertigt und lange haltbar sind. Wie durchdringend der Narrativ von Manufactum ist, sieht man daran, dass oft Menschen dem Unternehmen mitteilen, wie sehr sie sich darüber freuen, dass der Manufactum-Katalog keine Werbung enthält.
Dabei ist der ganze Katalog nichts als Werbung! Aber gelesen wird er offenbar als Erzählung aus einer besseren Zeit, in der die Sachen noch was taugten. Es gibt sie noch, die guten Dinge. Und wer sie heute kauft, wird durch die guten Dinge verändert – vom bloßen Gutverdiener zum besseren Menschen. Das ist der Manufactum-Narrativ, und nach 25 Jahren ist er wie die Grünen auch zum Mainstream geworden. Dabei gibt es die Manufactum-Welt nur, weil die Otto-Gruppe, zweitgrößter Online-Händler der Welt, schon früh mit Geld und Know-how hereingeholt wurde. Seit 2008 hat der Zehn-Milliarden-Konzern sogar das alleinige Sagen. Eine Realität, die Manufactum-Kunden gern ignorieren, denn sie verschafft ihnen so viel Wohlbehagen wie Thilo Sarrazin.

Von Löwen und Lämmern: Seehofer, Obama, Sarkozy

Auch in der Politik denken viele, sie würden eine gute Geschichte erzählen, doch tatsächlich geben sie höchstens eine Anekdote zum Besten. Eine Anekdote dreht sich meist um ein Erlebnis oder eine Begebenheit. Eine Geschichte hingegen hat eine Struktur, damit man sich an sie erinnert. Und sie lehrt uns etwas über andere Menschen und uns selbst. Eine gute Geschichte lässt uns nicht kalt.
Das zeigt Horst Seehofer, als Erzähler so begabt wie als Politiker umstritten. Seine Geschichten sind von einer unwiderlegbaren Lebenswahrheit, und sie greifen ans Herz. Etwa, wenn er erzählt, wie sich eine Freundin der Familie seit einem halben Jahr anstrengt, um einen neuen Arbeitsplatz zu bekommen: „Die Frau ist 52, hat ihren Mann verloren, ein Kind. Sie kriegt nichts. Die wird noch irre, wenn wir ihr erklären, dass die Wirtschaft Fachkräfte aus dem Ausland holen muss.“
Das ist narrative Rhetorik der Meisterklasse: direkt aus dem Leben, voll ins Herz und fast zum Verzweifeln – wenn, ja wenn wir alle es nicht verhindern. In einem solchen Augenblick macht Seehofer das Leben zur großen Oper. Das schafft er noch immer, und sein Geheimnis ist die gekonnte Verbindung von Leben und Geschichte.

Verlieren wird er trotzdem.

Die größten Feinde des Storytelling sind nämlich die Realität und fehlende Taten. So wurden die „Weapons of Mass Destruction” zum Menetekel der Regierung von George W. Bush. Sein Nachfolger Barack Obama wurde zum Storyteller sui generis ausgerufen. Doch in die Geschichte der politischen Rhetorik wird Obama als der Scheinriese eingehen, der immer kleiner wurde, je näher er kam. Die Realität entzaubert all seine Storys, von Beratern kunstvoll gedrechselt, weil die passende Handlung fehlt. Denn egal, ob es um Bankenregulierung, Managervergütung, Klimaschutz, Afghanistan oder Irak geht: Mit Obama gab es letztlich keinen Politikwechsel, sondern nur einen Wechsel der Geschichten.
 Parallel dazu erleidet auch Europas talentiertester Storyteller seinen Absturz – Nicholas Sarkozy. Wer dem französischen Staatspräsidenten im Original zuhört, stellt fest: Er ist ein geistreicher Erzähler, und seine Geschichten haben alles, was es braucht, um das Publikum zu fesseln. Seine Geschichten haben nur ein winziges Problem: Sie sind oft nicht wahr.
Damit wird Sarkozy vom Storyteller zum Pinocchio. Als er wegen der Auflösung der Roma-Lager unter Druck der EU geriet, erklärte Sarkozy auf einer Pressekonferenz kurzerhand, auch Angela Merkel werde demnächst in Deutschland dasselbe tun – und brachte die Kanzlerin in Erklärungsnot. Und was französische Medien seit Jahren bezweifeln, behauptet noch heute seine persönliche Internet-Seite: Sarkozy sei am 9. November 1989 nach Berlin gefahren, als er erfahren habe, die Mauer würde fallen.

Erfolg wird zum Problem – außer bei Guttenberg

Die Erfahrung der Profis aus Spin-Doctoring, viralem Marketing und anderem ist schlicht: Sobald alle deinen Erfolg nachmachen wollen, wird er unerreichbar. Wo virales Marketing die Regel wird, verliert es sein Ziel und damit seine Wirkung. Oder, wie Virologen sagen würden: Mit dem letzten Überträger stirbt das bis dahin erfolgreiche Virus.
Auf die politische Kommunikation übersetzt heißt das: Wenn mit Storytelling à la Manufactum auch der letzte Schund noch elegant angepriesen wird, dann sollte sich der politische Pionierunternehmer im Sinne Joseph Alois Schumpeters schon längst was Neues ausgedacht haben. Das führt zu der spannenden Frage: Welcher Spitzenpolitiker in Deutschland nimmt als Erster unbemerkt Abschied vom herkömmlichen Storytelling? Bei genauer Beobachtung wird schnell klar: Es ist unser derzeitiger Verteidigungsminister.
Karl-Theodor zu Guttenbergs Story lautet nämlich: Geschichte statt Geschichten. Parvenüs müssen ihre Geschichten wie Waren kaufen – wahre Geschichte kann man nur erben. Guttenbergs Narrativ setzt auf die erprobte Inszenierung des Scheins, dass es den Adel nur deshalb noch gibt, weil man über die Jahrhunderte die großen Dinge richtig gemacht hat.
Guttenbergs Story von der Erblichkeit des Erfolgs funktioniert hervorragend – so lange, wie man nicht an die vielen illustren Gestalten blauen Bluts denkt, wie den Hohenzollern-Prinzen Carl Alexander, der „in der Regenbogenpresse allgemein nur ‚der geile Depp’ genannt“ wird, wie der „Spiegel“ 1993 schrieb. Oder an Carl-Eduard Graf von Bismarck, bis 2007 CDU-Bundestagsabgeordneter, aber so selten am Arbeitsplatz, dass er als „Deutschlands faulster Politiker“ („Bild“) zu ungeahnter Bekanntheit gelangte. Die Realität erzählt am Ende immer ihre eigene Geschichte, und die ist unbarmherziger als jedes Storytelling.

Wer erzählen will, muss reden können

Viele wollen erzählen, doch die wenigsten können gut reden. Doch gerade Geschichten muss man erzählen können. Die meisten scheitern bereits daran, eine Anekdote gut zu erzählen. Warum? Weil die Erzähllogik eine andere ist als die eines „Executive Summary“. Wer jahrelang darauf abgerichtet wurde, in wenigen Minuten „Face Time“ gegenüber seiner Führung kurz die wichtigsten Sachen zu berichten, der verlernt Timing und Pointe – beides elementare Bestandteile einer gut erzählten Geschichte. Mehr noch: Erst die Wiederholung und Slow-Burn, das gekonnte Verzögern, schafft erst Spannung, die zum gelungenen Ende führt. Genau das lehrt zum Beispiel jeder Film mit Stan Laurel und Oliver Hardy.
Wollen Sie wirklich gutes Storytelling lernen? Dann vergessen Sie den Begriff und alle Bücher, die dieses Wort im Titel haben. Schauen Sie sich stattdessen lieber die Filme von Stan und Ollie an, und lesen Sie dazu Kurzgeschichten von Somerset Maugham, Roald Dahl oder Guy de Maupassant. Alle drei sind brillante Autoren und wurden sehr oft erfolgreich verfilmt. Der Grund ist einfach: Weil ihre Geschichten so gut sind.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Wie die Botschaft ankommt – Politik und Sprache. Das Heft können Sie hier bestellen.