Stell dir vor, es ist ­Wahlkampf und keiner geht hin

Superwahljahr 2021

Das Werben um Stimmen steht im Superwahljahr 2021 noch immer unter dem Vorzeichen der Pandemie. Wahlkampf, das bedeutete lange vor allem: Diskussionen an Infoständen in Fußgängerzonen, Wahlkampfveranstaltungen und Kundgebungen, Hausbesuche und die obligatorische Einladung zum Kräuterlikör. Corona hat das verändert. Großveranstaltungen sind schon lange nicht mehr erlaubt. Wahlveranstaltungen finden heute digital im Netz statt und werden aus formalen Gründen per Briefwahl nachgeholt. Wird doch eine Bundestagskandidatin in einer Präsenzveranstaltung gewählt, weichen Ortsverbände schon auch mal auf die Tribüne eines Fußballstadions aus.

So verlegte die SPD in den schwäbischen Landkreisen Zollernalb und Sigmaringen ihre Kandidatenkür im vergangenen Dezember auf die Tribüne der Balinger Bizerba-Arena. Die SPD Rhein-Neckar wählte ihre Delegierten für die Landesvertreterversammlung auf der Haupttribüne des Stadions, in dem der SV Sandhausen seine Heimspiele austrägt. Aber auch andere Parteien begingen den demokratischen Ausnahmezustand im Fußballstadion. Bereits im August hielt die Frankfurter CDU mit 230 Delegierten den ersten Stadion-Parteitag Deutschlands im Stadion am Bornheimer Hang ab.

Einen Vorgeschmack darauf, was die reine Digitalisierung altbewährter Formate angeht, gab der politische Aschermittwoch. Ob die SPD mit Kanzlerkandidat Olaf Scholz, die Grünen mit den Parteivorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock oder die CSU mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder und dem aus Nordrhein-Westfalen zugeschalteten CDU-Chef Armin Laschet: Alle Parteien zeigten, dass sie das mit den digitalen Veranstaltungen mittlerweile ordentlich über die Bühne bringen. Echte Wahlkampfstimmung mochte jedoch nicht aufkommen – nicht zuletzt wegen der ernsten Corona-Lage.

Wahlkampf massiv beeinträchtigt

Die Wissenschaft bestätigt: Corona greift massiv in den Wahlkampf ein. Der Politikwissenschaftler Norbert Kersting von der Universität Münster hat 1.010 hessische Stadtverordnete und Gemeindevertreter zur Kommunalwahl befragt. Dreiviertel von ihnen fühlten sich aufgrund der Pandemie in ihrem Wahlkampf beeinträchtigt. Auch die Vorbereitungen litten unter dem Virus. 47 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass organisatorische Veranstaltungen wie die Kandidatenaufstellung massiv beeinträchtigt sei. Nur 37 Prozent sahen das nicht so.

Alle Parteien beobachten genau, was in den wahlkämpfenden Bundesländern passiert. Die SPD in Rheinland-Pfalz hielt im August ihren ersten rein digitalen Parteitag ab. Generalsekretär Daniel Stich und die stellvertretende Landesgeschäftsführerin Daniela Hohmann schrieben ihre Erfahrungen damals für p&k auf. Diesen digitalen Kurs behielt die SPD im Wahlkampf notgedrungen bei. Spitzenkandidatin und Ministerpräsidentin Malu Dreyer setzt sich dafür im Rahmen ihrer “Wir mit ihr”-Tour regelmäßig in ihr “Digitales Wohnzimmer”.

Wohnzimmer-Flair: SPD-Spitzenkandidatin Malu Dreyer (links) spricht im Format “Wir mit ihr” mit Landtagskandidatin Caroline Albe (c) Youtube

Als Gäste empfängt sie Landtagskandidaten ihrer Partei Im Wahlkampf-Studio, das – diese Einrichtung hat sich so oder so ähnlich von CSU bis Grüne durchgesetzt – mit Sofa, Bücherregal und Pfälzer Weinkiste heimisches Flair verpasst bekommen hat. “Auch wenn man nicht zu den Menschen fahren kann, ist es schön, digital bei ihnen zu sein”, sagte Dreyer zum Auftakt ihrer digitalen Tour.

Allerdings zeigten sich hier schon die spezifischen Beschränkungen der einzelnen Plattformen. Auch wenn es Live auf Facebook und Youtube ab und an mehr Zuschauer gab – die Aufzeichnungen der Folgen erreichten auf dem Youtube-Kanal der SPD Rheinland-Pfalz mit seinen nur 290 Abonnenten selten mehr als 200 Aufrufe. Ein So­­cial-Media-Kanal ist eben kein Motor, den man unmittelbar vor einer Wahl einfach anwerfen kann. Ein Publikum muss hier gewonnen und gehalten werden – auch außerhalb der Wahlkampfzeiten.

Union versucht es mit Daten

In Baden-Württemberg geht die CDU derweil andere Wege. Sie führt einen datenbasierten Wahlkampf. Die Daten sollen der Partei verraten, in welchen Vierteln die kräftigsten Stimmenpotenziale schlummern. Damit möchte die Union ihre Anstrengungen dort verstärken, wo sie die größten Effekte versprechen. Wahlkampf in Wahlkreisen ohne Aussicht auf Erfolg soll damit ebenso vermieden werden wie die Verschwendung von Ressourcen an Wahlkreise, die ohnehin an die CDU gehen.

Auf ein digitales Gesprächsformat verzichtet auch die Union nicht. Im Format “Eisenmann will’s wissen” geht die CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann auf virtuelle Tour. Täglich an einem anderen Ort spricht sie mit den Bürgern dort per Videochat. Eine große Breitenwirkung ist allerdings auch ihr nicht beschieden. Etwa 100 Interessierte schalten sich zu.

Kosten steigen

Noch 2017 hieß es, die AfD habe ihre Online-Aktivitäten auch deshalb so verstärkt, weil das billiger als analoger Wahlkampf sei. Heute weiß man: Das stimmt nur halb. Denn wenn eine Partei ihre digitalen Auftritte perfekt inszenieren will, muss sie dafür mehr Geld ausgeben. Ein durchorchestrierter Parteitag ist finanziell nicht ansatzweise zu vergleichen mit schmissigen Share-Bildern für soziale Netzwerke. In den Budgets der Parteien schlägt sich das entsprechend nieder.

In Baden-Württemberg haben die Grünen für ihren digitalen Parteitag deutlich mehr bezahlen müssen als für die üblichen Präsenzparteitage. Vor allem die Technik und professionelle Beratung gingen ins Geld. Außerdem wurden in der Geschäftsstelle in Stuttgart zwei Studios aufgebaut. Von 1,6 Millionen Euro Wahlkampfetat gehen allein 300.000 Euro für den digitalen Auftritt drauf. Vor fünf Jahren waren es gerade einmal 50.000 von 1,3 Millionen Euro.

Bei den anderen Parteien stellt sich das ähnlich dar. Die SPD mit einem Wahlkampfbudget zwischen 1,8 und 1,9 Millionen Euro zahlt mittlerweile das Fünffache für Werbung in sozialen Medien verglichen zur letzten Landtagswahl. Die CDU plant von 2,5 Millionen Wahlkampfkasse 500.000 für Internetwerbung ein. 2016 lag dieser Posten bei nur 20.000 Euro bei gleichem Wahlkampfbudget. Die FDP gibt etwa ein Drittel von insgesamt 800.000 Euro für Digitales aus.

Kein schneller Erfolg auf ­Social Media

Ein großer Fokus in der politischen Kommunikation in Deutschland liegt auf der sozialen Plattform Twitter. Dabei ist Twitter nicht einmal so dominant in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten. Trotzdem kommt mittlerweile kaum noch ein Artikel im Politikteil einer deutschen Tageszeitung aus, ohne aus Twitter zu zitieren. Allerdings gibt es erste Anzeichen, dass Politiker deutlich genervt sind vom rauen Ton auf Twitter und dem lästigen Lagerdenken dort. 

Längst hat sich der Ko-Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, von Twitter verabschiedet. Twitter-Rüpel Donald Trump musste zwangsweise gehen. Der Account, der ihm 2016 zum Wahlsieg verhalf und von dem aus er seine Gegner nahezu täglich mit Gift beschoss, wurde von Twitter geschlossen.

Mittlerweile finden sich Politikformate auf nahezu allen sozialen Plattformen. Ob Facebook, Instagram, Snapchat oder Twitch: Überall stellt sich dasselbe Problem ein, das oben schon bei Youtube angesprochen wurde. Ohne eine organisch gewachsene Reichweite wird es schwer. Etablierte Politik-Promis wie Dorothee Bär, Kevin Kühnert oder Lars Klingbeil haben lange und nachhaltig an ihrer großen Anhängerschar gebaut. Kurzfristige Überraschungserfolge ermöglicht vor allem die Videoplattform Tiktok, deren Algorithmus besonders erfolgreiche Videos viral eskalieren lässt.

Digitale Kanäle eröffnen ungeahnte Reichweiten auch denjenigen, die nicht selbst zur Wahl stehen. Einige Verbände und NGOs begleiten den Wahlkampf mit Themen, die ihnen wichtig sind. So fragte der Digitalverband Bitkom im Februar die Parteien in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg gezielt nach ihren Plänen für Start­ups und veröffentlichte eine Übersicht mit den Antworten auf seinen Kanälen. Greenpeace erstellte eigens einen Wahlkompass für Baden-Württemberg, der die Programme der Parteien auf Klima- und Umweltschutzmaßnahmen abklopfte, und verbreitete ihn auf sozialen Medien.

Thanks for playing

Besonders kreative Ansätze nutzen den Spieltrieb der Menschen. Der Freiburger Altstadtrat Sebastian Müller hat mit einem Brandenburger Start-up im Internet den Marktplatz Freiburgs nachgebaut, um den Parteien ein gemeinsames Forum für den politischen Wettstreit zu geben. Jeden Samstag zwischen 17 Uhr und 19 Uhr sind die Wahlkampfstände besetzt. Tritt man an einen Wahlkampfstand heran, wird man mit Wahlkämpfern der Parteien in einem Videochat ­verbunden.

Auf dem digitalen Münsterplatz Freiburgs auf “wahlkampfstand.online” wird man an den Wahlkampfständen mit Wahlkämpfern der Parteien verbunden.

Die Klimaliste Rheinland-Pfalz hat ein Krimi-Spiel für einen bis vier Spieler programmiert. In rund einer Stunde soll ein verschwundener Klimaplan aufgespürt werden – eine nähere Beschäftigung mit dem Papier bleibt im Rahmen des Spiels natürlich nicht aus. So vermittelt die Klimaliste ihre Programmpunkte spielerisch. 

Aus neutraler Sicht hat auch der SWR ein einfaches Browserspiel für die Landtagswahlen entwickelt. Im Spiel “Wie entscheidest du?” wird die Spielerin vor konkrete politische Probleme einer Regierungschefin gestellt. Ob Klima, Sicherheit oder Ausbildung: In insgesamt zehn Themengebieten, die auch miteinander zusammenhängen, müssen Entscheidungen aus mehreren Handlungsmöglichkeiten getroffen werden. Bei jeder Entscheidung wird klar, dass sie Konsequenzen hat. Politik ist kein Ponyhof.

Hoffnung auf echten Wahlkampf

Trotz der digitalen Möglichkeiten und Reichweiten liegt die Wahrheit vor allem im Landtagswahlkampf noch immer auf dem Platz – nämlich dem Platz vor der Tür. Beifall im Netz ist willkommen, kann allerdings nur in Stimmen umgemünzt werden, wenn er auch von Wahlberechtigten kommt. Einige berichten aus dem Wahlkampf, dass sie häufiger als sonst auf ihre Wahlplakate angesprochen werden, etwa morgens beim Bäcker oder an der Bushaltestelle. Eine mögliche Erklärung: Viele kommen im Shutdown nur aus dem Homeoffice, wenn sie spazieren gehen. Es ist immer wieder als neuer Volkssport der Corona-Zeit beschrieben worden, sich die Beine zu vertreten. Dabei gehen Menschen ungern zu häufig dieselbe Route. Das beschert dem guten alten Wahlplakat ein unverhofftes Comeback.

Die Parteien haben in Landtagswahlkämpfen wohl selten so stark plakatiert wie jetzt in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. In Baden-Württemberg haben die Parteien bis auf die AfD anderhalbmal bis doppelt so viele Plakate geklebt wie im Vergleich zur Landtagswahl 2016. Zudem werden haufenweise Flyer in Briefkästen gesteckt. Die Nachricht soll die Menschen erreichen, möglichst ohne menschlichen Kontakt. Das lohnt sich vor allem für die Parteien mit einer älteren Wählerschaft, die weniger auf Social Media unterwegs ist.

Es bleibt die Hoffnung, dass Deutschland mit den Impfungen vorankommt oder dass neue Teststrategien wieder mehr Kontakt im Wahlkampf ermöglichen. Zwar sind alle Parteien mittlerweile einigermaßen erprobt im digitalen Wahlkampf. Aber ein Gespräch über Politik von Angesicht zu Angesicht – das ist der wahre Wahlkampf. Den wünschen sich alle zurück im Superwahljahr.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 134 – Thema: Wahlkampffieber – Superwahljahr im Zeichen der Pandemie. Das Heft können Sie hier bestellen.