Staatszauberer gesucht

Wie plant man einen Wahlkampf in einem Land mit panischer Angst vor Wandel? Die Antwort lautet: gar nicht. Stattdessen versteckt man sich unter der Bettdecke, wie ein Kind, das sich vor einem Gewitter fürchtet. So einfach können es sich die Politikstrategen diesmal hingegen nicht machen, denn der turbulente Wanderzirkus der US-Wahlkämpfer hat die Aufmerksamkeit der deutschen Wähler komplett eingenommen: Seht die Löwen! Die Tiger! Die Clowns! Waghalsige Männer am Trapez!
Der deutsche Wähler erwartet ähnlich Spektakuläres von den Berliner Politikern. Nun tut sich aber der Bundestag etwas schwerer, einen glatten, hoch gebildeten schwarzen Kandidaten aufzubieten – oder gar einen Kriegshelden. Aber wenigstens, räumt der kritische Wähler ein, könnten wir doch einen Kanzler finden, der mit der Leidenschaft eines Barack Obama spricht und versiert ist in der Kunst politischer Rhetorik! Da gibt es auf der einen Seite Angela Merkel, deren Reden klingen, als diktiere sie ihrem Mann die Einkaufsliste: „So, Achim, wir brauchen ein Kilo Kartoffeln. Oder nein, warte, anderthalb, dann bleibt noch was für die Suppe. Waschpulver – aber bitte Persil, denk dran! Oh, und vergiss nicht die Eier.“ Und schon ist Professor Sauer auf dem Weg zum Edeka an der Ecke. Die Kanzlerin hält keine Reden. Sie hakt die einzelnen Punkte ab und hofft, dass wir gut aufgepasst haben. Ganz im Gegensatz dazu steht natürlich Frank-Walter Steinmeier, der sich dieser Tage darin übt, dramatisch die Stimme zu senken, sie kehlig und rau klingen zu lassen, und auch mal auf den Tisch zu hauen. Einen Moment lang wirkt das sehr überzeugend. Ja!, denkt man, so muss das aussehen. Dann wird einem klar, was sich hier abspielt. Steinmeier imitiert Gerhard Schröder, Geste für Geste, Wort für Wort. Er hat sich alles als Schröders Untergebener abgeschaut. Seine Vorstellung entbehrt jeder Authentizität; es ist, als wäre sein Körper von Außerirdischen gesteuert.
Auf Obama-Politik könnt Ihr also nicht zählen, werte deutsche Wähler. Und was habt Ihr erwartet? Obama, sogar ­McCain bieten ihren Wählern politischen Wandel, oder zumindest eine Änderung im Tonfall. Sie versuchen, mit ihrer politischen Sprache eine Brücke zu schlagen zwischen politischer Vision und den Wählererwartungen. Diese Sprache muss mühsam bearbeitet, muss ausgerollt und geknetet werden wie Brotteig.
Deutsche Politiker dagegen bedienen sich keiner besonders fesselnden Sprache – und das nicht nur, weil die Deutschen bei charismatischen Führergestalten Unbehagen verspüren. In der Politik kommt es aber auf Kunstfertigkeit und Blendwerk an. Dafür ist ein Staatszauberer gefragt, der das Publikum glauben machen kann, dass er eine Frau in zwei Teile zersägt und dann zusammensetzt; ein Politiker in Deutschland muss die Bürger davon überzeugen können, dass der angestrebte Wandel schmerzfrei ist und keine Opfer fordern wird. Andernfalls wird er nie eine Position erreichen, in der er wirklich Reformen einleiten oder die Wirtschaft liberalisieren kann.

Das Gazprom-Team greift an

Deutschland steht also vor einer Wahl, in der es nicht wirklich eine Wahl hat: Auf der einen Seite ist da das Steinmeier-Müntefering-Duo – im Wesentlichen also das Gazprom-Team (es fehlt nur noch das Schalke-Trikot), das sich der Re-Schröderisierung der Sozialdemokratie verschrieben hat. Für die SPD scheint es nur einen Weg zu geben, Wahlen zu gewinnen, und zwar den Appell an den urdeutschen Pazifismus. Nur die Angst vor Krieg kann über die Angst vor neuerlichen Kürzungen im Sozialsystem siegen. Frank und Franz können vielleicht nicht die Globalisierung der deutschen Wirtschaft aufhalten, aber sie können Deutschland aus Kriegen heraushalten. Insgeheim hofft die Gazprom-Clique dabei auf einen Sieg John McCains im November: Mit etwas Glück droht McCain bis spätestens Sommer 2009 dem Iran oder Russland mit Krieg und verlangt, dass deutsche Soldaten in Afghanistan ihr Leben lassen. Vielleicht – wirklich nur vielleicht – kann die SPD die Wahl mit McCain im Weißen Haus gewinnen. Wer muss da noch die deutschen Wähler einwickeln oder motivieren? Wer braucht eine Vision, ein Zukunftsprogramm, gar einen Traum, wenn man einen Feind in Washington hat?
Was Wandel für Angela Merkel bedeutet, ist dagegen kein großes Geheimnis, er bedeutet Schwarz-Gelb. Man muss nur genau hinschauen, wenn sie im Bundestag einmal dem Blickfeld der Kameras entwischt: Sie huscht zu den hinteren Sitzreihen und tuschelt mit Guido Westerwelle. Öffentlich kann sie ihre schwarz-gelbe Vision aber nicht machen, da sie dann die Wahl verlieren würde. Zu groß ist die Angst vor den radikalen Veränderungen, die man von solch einer Regierung erwarten müsste: Würde sie auf Kollisionskurs mit den Gewerkschaften gehen, Hedgefonds die Industrie auseinander nehmen lassen und privatisieren in Thatcher’scher Manier?
Das ist sie also, die große Wahl, die die Deutschen haben: Die Wahl zwischen einer siechen Partei auf der Suche nach dem reanimierten Geist Gerhard Schröders – einem ihrer letzten prinzipientreuen Nachkriegshelden – und einer Kanzlerin, die glaubt, ihre eigentlichen Beweggründe verbergen zu müssen.

Merkels Chance: der Patriotismus

Es gibt nur einen Ausweg aus dieser drohenden Vertrauenskrise: Nicht Obama, sondern Sarah Palin nacheifern. Besonders Angela Merkel kann noch einiges von McCains Vizekandidatin lernen, denn es gibt durchaus Mittel und Wege, deutsche Politik sexy zu machen. Als ersten Schritt könnte Merkel sich als Patriotin neu erfinden; nie war sie so populär wie während der Weltmeisterschaft 2006. Sie wirkte wie der Fleisch gewordene „entspannte Patriotismus“. Dieselbe Frau, die nach ihrem Wahlsieg 2005 unfähig war, Freude zu zeigen, verwandelte sich plötzlich in einen leidenschaftlichen Fußballfan. Merkel kann die Wahl gewinnen, wenn sie das wiederholt. Die Deutschen sehen es gern, wenn sie rotbäckig und aus dem Häuschen ist und Deutschland anfeuert. Das also wäre ihre Gewinnstrategie für 2009: Den Außenminister in ferne Länder schicken, wo es keine Stimmen zu holen gibt – China oder Südamerika –, und erklären, dass sie nicht mehr für den Miss-World-Titel antritt, sondern einfach nur Miss Germany sein will. Deutschland wird im nächsten Jahr mit Rezession zu kämpfen haben; dann wird Merkel sich als Retterin der Nation, als Retterin von Arbeitsplätzen präsentieren müssen – aber auch als Verfechterin von nationalem Stolz. Die Deutschen neigen dazu, in kollektive Depression zu verfallen, sobald die Wirtschaft ins Straucheln kommt; das Vertrauen schwindet, und Deutschland wendet sich gegen die führenden Politiker. Merkel sollte versuchen, die Stimmung des Sommermärchens 2006 wieder aufleben zu lassen. Vielleicht nicht unbedingt, indem sie wie Sarah Palin mit Schusswaffen posiert oder Elche erlegt, aber sie könnte sich anderer amerikanischer Gesten bedienen: Das eigene Land vor der Welt anpreisen, die Truppen in Afghanistan besuchen und ihnen danken, vielleicht auf einen der Panzer klettern.

Mit den Frauen verbünden

Die andere amerikanische Lektion: Merkel sollte sich mit den Frauen verbünden. Der Tatsache, dass sie die erste deutsche Kanzlerin ist, begegnet sie durch Verleugnung ihres Frau-Seins. Sie hat dadurch das Vertrauen vieler Wählerinnen verspielt. Öffentliche Auftritte mit Ursula von der Leyen wären das perfekte Gegenmittel – denn gibt es einen besseren Weg, zwei müde Männer mittleren Alters wie Frank und Franz eins auszuwischen als mit der Angie-&-Ursula-Show? Vielleicht ist es schwer, die Deutschen glaubwürdig von „Change“ zu überzeugen, aber man könnte die Politik hierzulande zumindest etwas aufmischen und interessanter machen. Seit über einem Jahr halten amerikanische Politiker die ganze Welt in Atem. Vielleicht gelingt es den deutschen Politikern ja, die Deutschen einen Monat lang zu fesseln.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe 27 – Sonntag. Das Heft können Sie hier bestellen.