Smarte Wahlkämpfe

Politik

In dem Buch “The Victory Lab” stellt der amerikanische Journalist Sasha Issenberg eine steile These auf: Wo ein Wähler sein Kreuz macht, wüssten moderne Kampagnen schon, bevor es der Wähler selbst weiß. Realitätsfern ist das nicht: Die Berechenbarkeit von Wahlverhalten mit Hilfe von Big Data war die letzte große Innovation in Barack Obamas Kampagnen.

Mit Daten aus amtlichen Quellen, Marktforschung und Social Media erstellte er für jeden Wähler ein individuelles Profil. Die Kern­information war darin eine Prognose über das Wahlverhalten. Auf Basis dieser Vorhersagen setzte Obama Prioritäten für seinen “Ground War”. Seine Campaigner wurden an jene Haustüren geschickt, hinter denen sich “überzeugbare” Wähler aufhielten.

Angesichts abnehmender Parteienbindung und wachsenden Wechselwählens steigt auch bei deutschen Parteien das Bedürfnis nach mehr Berechenbarkeit der Wähler. Doch für Obamas Prognosemodelle fehlen bei uns die Voraussetzungen: Es gibt kein für die Parteien zugängliches Wählerregister.

Illustration: Marcel Franke

Es gibt aus guten Gründen keinen laxen Datenschutz, der es ermöglicht, unzählige personenbezogene Daten zu erheben, zu kaufen und zu kombinieren. Auch gibt es keine astronomischen Wahlkampfbudgets, die das nötige Personal, Daten und Technologie finanzierbar machen. Trotz dieser Einschränkungen können Daten auch in hiesigen Wahlkämpfen eine sehr konstruktive Rolle spielen. Denn Daten bedeuten Wissen, sie machen Wahlkampagnen intelligenter.

Für deutsche Parteien bedeutet Big Data erst einmal “Big Effort”. Grundvoraussetzung ist eine moderne Datenbanktechnologie. Offenbar mangelt es schon an dieser Stelle an Wissen. Im Willy-Brandt-Haus war vor einigen Monaten die Stelle “Projektleiter für datenbasierte Kampagnen” ausgeschrieben.

In der Jobbeschreibung hieß es: “Sie tragen dazu bei, die SPD auf dem neuesten Stand der Technik zu halten”. Das ist Offenbarungsakt und Flucht nach vorn zugleich. Ein Chef-Geek ist in einer Parteizentrale bisher einmalig.

Die Parteien müssen ihre Möglichkeiten, Kampagnen smarter zu machen, angesichts von Datenschutz und Ressourcenmangel sorgfältig analysieren: In erster Linie geht es darum, verfügbare Daten besser zu nutzen und selbst Informationen zu erheben.

Direkter Zugriff besteht auf die Daten der Mitglieder, Nutzer von Unterstützer-Netzwerken (z. B. CDUplus) und Newsletter-Abonnenten. Damit kann man ganz wunderbar arbeiten: Beispielsweise ließen sich Personen herausfiltern, die auf lokaler Ebene besonders angesehen sind und daher dabei helfen könnten, vor Ort das Wahlergebnis zu verbessern.

Kampagnen können dazulernen

Solche “Local Influencers” verringern die Erfahrungslücke zwischen Parteizentrale und lokalem Kontext eines Wählers. Persönliche Gespräche haben einen hohen Einfluss auf die politische Meinungsbildung, in den USA wird ihre Wirkung zehnmal höher als die von TV-Spots eingeschätzt. Zudem entstehen im direkten Kontakt neue Informationen, die unmittelbar mit Hilfe von Apps erfasst werden können.

Illustration: Marcel Franke

Schon bei der Entwicklung der Kampagne sollten Mitglieder und Sympathisanten stärker als Ressource eingesetzt werden. Mit der richtigen Datenbank im Rücken können Parteien in kürzester Zeit segmentierte Stimmungsbilder erzeugen, um Botschaften, einzelne Kampagnenelemente oder das Themen­management für einzelne Zielgruppen zu optimieren. Bei jeder Aktion kann die Kampagne dazulernen.

Die sinkende Parteiidentifikation macht es immer schwieriger, Menschen auf Kommando zu mobilisieren. Es müssen Bindungen zwischen Bürgern und der Politik aufgebaut werden, die loser aber nicht unbedingt kurzfristiger sind.

Obama überführte 2012 seine Kontakte in “Organizing for Action”, eine neue Organisation für eine permanente Kampagne. Darüber mobilisiert Obama nun für die öffentliche Unterstützung seiner politischen Vorhaben, indem er Beteiligungsformen wie das Anschreiben von Kongressabgeordneten oder Petitionen anbietet.

Deutsche Politiker schimpfen oft über solche Formen von Klick-Aktivismus. Fakt ist jedoch, dass solche Aktivitäten ein Eingangstor für Bürger zur Politik sind. Zudem liefern sie der Politik Daten über die Bürger und schaffen somit auf beiden Seiten Voraussetzungen für weitergehende Beteiligung. Organisationen wie Campact machen es vor.

Partizipationsangebote sind vor allem dann attraktiv, wenn die Mitmachenden nachvollziehbar Einfluss auf die Partei nehmen können. Ein Beispiel ist die Bestimmung der Spitzenkandidaten. Die Grünen sind in dieser Frage Vorreiter und führen vor der Bundestagswahl 2017 ihre zweite Urwahl durch.

Ein Datenregen ergab die erste Urwahl 2012 jedoch nicht, weil nur Mitglieder auf analogem Weg mitmachen durften. Im Sinne des smarten Wahlkampfs wäre eine Öffnung für Nicht-Mitglieder und eine elektronische Abstimmungsmöglichkeit überlegenswert.

Das Datenparadies bleiben aber die sozialen Netzwerke, in denen Menschen freiwillig tonnenweise Informationen über sich preisgeben. Auch wenn die Parteien immer noch auf ihre Webseiten schwören: Die Party läuft auf Facebook, Instagram und Twitter.

Illustration: Marcel Franke

Die Algorithmen der Plattformen agieren dabei nicht mehr nur als Gatekeeper, sondern auch als Geiselnehmer der Nutzer. Bevorzugt werden Inhalte, die direkt auf der Plattform konsumierbar sind und ein Abspringen auf externe Seiten vermeiden.

Beim Verbreiten von Inhalten gilt es, die revolutionären Vermarktungsmöglichkeiten etwa von Facebook zu nutzen: In keinem anderen Medium können Zielgruppen so detailliert definiert werden. Neben typischen soziodemografischen Kennwerten hat Facebook auch Detailinformationen zu Lebensstil, Verhalten und Interessen seiner Nutzer.

Mit anderen Worten: Die Politik kann ihre Botschaften für die spezifische Lebensrealität der Bürger relevant machen.

Die Chancen von Deep Data

Wertvolle Erkenntnisse zur ständigen Verbesserung der eigenen Inhalte liefern nicht nur die Auswertung der “Likes” und “Shares”, sondern auch die Analyse von Kommentaren. In Fachkreisen spricht man von “Deep Data”. Das sind nicht aggregierte Nummern, sondern inhaltliche Daten auf Ebene des einzelnen Nutzers. Deren Auswertung erfordert jedoch noch intelligentere Analysetechnologien.

Bequemer zu haben sind die Daten der Sozial- und Marktforschung. Die Bertelsmann-Stiftung fand heraus, dass die meisten Nichtwähler im sozialen Milieu der Hedonisten – die konsum- und spaßorientierte Unterschicht – vorkommen. Anbieter von Direktmarketing wissen, in welchen Haushalten welches soziale Milieu vertreten ist.

Die Parteien können nicht mehr behaupten, sie könnten diese Bürger nicht erreichen. Parteien und Politiker, die relevante Daten erfassen, analysieren und aus ihnen die richtigen Schlüsse ziehen, werden in künftigen Wahlkämpfen einen Wettbewerbsvorteil haben. Ein zu großer Datenhunger kann aber auch nach hinten losgehen: Noch gibt es viele rechtliche Grauzonen.

Und im Widerspruch zur eigenen Programmatik zu Privatsphäre und Datenschutz dürfen die Kampagnenpraktiken auch nicht stehen. Ansonsten wird Big Data schnell zum Big Risk.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe politik&kommunikation IV/2015 Zukunft. Das Heft können Sie hier bestellen.