Siegen ohne zu kämpfen

Das europäische und anglo-amerikanische Strategiedenken folgt Clausewitz. Clausewitz definiert „Zweck“ und „Ziel“ der Strategie, wobei Zweck den höheren Sinn der Unternehmung beschreibt und Ziel der Ort ist, an dem der Zweck erreicht wird. Die Aufgabe des Strategen, des Feldherrn, ist, den kürzesten Weg zum Ziel zu wählen. An diesem Ort wird das politische Anliegen, der Zweck der Operation schließlich durchgesetzt oder verhandelt. Clausewitz’ „Friktionen des Krieges“ sind dann die Störungen, mit denen man rechnen muss.
Vor dem Hintergrund dieses linearstrategischen Denkens werden besondere Aktionen in schwieriger Lage dann „Geniestreich“ genannt, wie zum Beispiel das „Wunder an der Marne“. Der französische General Joseph Gallieni schaffte im August 1914 an die 6000 Mann in requirierten Taxis und Privatautos, den „Marnetaxis“, an die Front gegen die Deutschen und wurde dadurch zum „Retter von Paris“. Im klassischen chinesischen Denken wäre eine solche „außermilitärische“ Kriegsmaßnahme eher ein nahe liegendes und kein besonders „geniales“ Mittel. Es würde nicht besonders erwähnt.

Es gibt kein „Ziel“

Diesem Denken ist schon unser Begriff des „Ziels“ nicht geläufig. Um es aus der westlichen Literatur zu übersetzen, werden zwei Wörter – beziehungsweise Zeichen – kombiniert, nämlich „Auge“ und „das Schwarze“ (in einer Zielscheibe). Zentral seit 2500 Jahren sind hingegen Begriffe wie „Hang“, „Neigung“ oder „Hangneigung“. Die Urformel des chinesischen Strategiedenkens ist die militärische Anweisung, hangabwärts die feindlichen Truppen zu bekämpfen – niemals bergauf. Also die Schwerkraft nutzen und wie das Wasser fließen. Wir übersetzen „Neigung“ in der Regel mit „Situation“, „örtliche Gegebenheit“. „Situs“ ist in unserer Medizin ein Operationsort. Der Leiter Politik von Greenpeace Deutschland, Stefan Krug, beschreibt die Stärke des Greenpeace-Handelns als Abwesenheit von Strategie und die Kraft, aus der Situation heraus, situativ, zu entscheiden – unbeschadet aller Klarheit in der politischen Zielvorstellung.
Der Ausgangspunkt einer Situationsanalyse nach diesen Vorbildern wäre also, nicht nach einem Ziel, wie es der von Aristoteles um 350 vor Christus geprägte philosophische Begriff „Telos“ meint, zu streben und dies auf dem kürzesten Weg zu erreichen; stattdessen gilt es, eine Situation zu nutzen, in der wir expandieren, eine Lage stabilisieren, sie „günstig wandeln“ können, ohne einen großen Angriff zu starten und eben ohne ein bestimmtes Ziel anzustreben. „Siegen ohne zu kämpfen“ ist die altchinesische Parole. In der Strategie von Greenpeace bedeutet das entsprechend: „abwarten und im richtigen Augenblick losschlagen.“
Dabei kann es niemals eine „Intervention von außen“ geben, Schicksalsschläge oder Götterzorn. Alles, was geschehen kann – auch von Seiten des Gegners – alles, was eine Rolle spielt, ist in der vorgefundenen Situation bereits enthalten und gilt, erfasst zu werden. Darum ist es dem chinesischen Feldherrn auch untersagt, vor der Schlacht ein Orakel zu befragen.
Heroismus und Opfermut gelten hier nichts. Weglaufen ist nicht feige, sondern je nach Situation geboten. Stillhalten, Nichtstun ist sinnvoll, wenn die Lage ungünstig ist, und Handeln erst wieder sinnvoll, wenn die Lage sich gewendet hat oder es gelungen ist, sie im Stillen zu wandeln. Man kann nichts erzwingen. Der dumme Bauer zieht an den Halmen des Hafers, um das Wachstum zu beschleunigen, heißt es; der kluge Bauer wässert, schützt und pflegt die Pflanze. Er begünstigt, wandelt die Situation, fasst die Pflanze aber nicht an.
Der französische Philosoph Francois Jullien, auf den wir uns hier primär beziehen, verweist darauf, dass China als einzige der verschriftlichten Hochkulturen kein Heldenepos hervorgebracht hat. Wohl aber das „I Ging“, das „Buch der Wandlungen“, mit seiner Kernbotschaft: „Beharrlichkeit bringt Heil“.

Gefangene gut behandeln

Gleichzeitig betont Jullien, dass in der Gestalt des Odysseus, des Listenreichen, in unserm Abendland ein „vorheroischer“ Typus besungen wird, der Situationen erkennt und zu seinen Gunsten nutzt. Erst das teleologische Denken der griechischen Klassik seit Aristoteles, lange nach Homers Odyssee, macht die Protagonisten zu strahlenden – und tragischen – Helden. Die guten Generäle sind dann die Geometer. Die Geometrie mit ihren Linien, Winkeln und Aufstellungsfiguren für die Truppen wird bis ins 19. Jahrhundert zur vorherrschenden Denkform der Strategen. In dieser Welt der inthronisierten Zielstrebigkeit wird Odysseus vom Listenreichen zum Opportunisten degradiert.
Dagegen werden in China seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert Kataloge von (Kriegs-)Listen erstellt und bis heute gelehrt und gepflegt, die wir im Westen „Strategeme“ nennen. Sie beschreiben allerlei Täuschungsmanöver und Tricks. Zum Beispiel „Einen alten Baum mit frischen Blumen schmücken“ oder „Im Osten viel Lärm machen, um im Westen anzugreifen“. Besonders wichtig scheint uns der Grundsatz, die „Truppen intakt zu lassen“ – und zwar einschließlich der gegnerischen. Um diese bestenfalls zu übernehmen. Eine Taktik dabei: Man macht Gefangene, behandelt sie gut und lässt sie nach einiger Zeit frei. Sie gehen zurück zu ihren Truppen und haben nur Gutes über den Gegner zu berichten.
Vor dem Hintergrund des Mottos „Siegen ohne zu Kämpfen“ fällt auf, dass sich selbst das heutige China – neben den Brutalitäten gegen Menschenrechtler, Tibeter und Uiguren – bisher keine raumgreifenden äußeren Kriege leistet. China erobert auf andere Weise die Welt. Es handelt. Und wer handelt, der handelt. Und wandelt. Auch im Vietnamkrieg wurde den Amerikanern übrigens die große Entscheidungsschlacht verweigert, auf die sie immer wieder setzten.
Nach dem Besuch von Außenminister Guido Westerwelle in China im Januar 2010 spricht die deutsche Seite von einem „konstruktiv kritischen Umgang“ mit der chinesischen Führung, während die Chinesen sagen: „Gemeinsamkeiten suchen und Differenzen beiseite lassen“. Wer konstruktiv etwas konstruiert, hat ein Gebäude oder ein System im Sinn. Indem man sich als kritisch gegenüber dem Gesprächspartner lobt, distanziert man sich von ihm.
Wer Gemeinsamkeiten sucht, nähert sich dem Gesprächspartner, und indem er Differenzen explizit beiseite lässt, bekräftigt er dies. Teleologie versus günstige Wandlung der Situation. Wir sprechen hier über Denkformen, nicht über Gut und Böse.

Der Text ist ein leicht verändertes ­Kapitel aus dem Buch ­„Einführung in das ­Campaigning“ von Andreas Graf von ­Bernstorff im Carl-Auer-Verlag, ­Heidelberg, März 2012.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Hier lang – Wege in politische Berufe. Das Heft können Sie hier bestellen.