"Sie haben Migrationshintergrund? Das überrascht mich!"

Serie: Politik ohne Grenzen, Teil 2

“Sie haben Migrationshintergrund? Das überrascht mich!” Diese Aussage höre ich häufiger. Offenkundig haben die meisten Menschen in unserem Land ein bestimmtes Bild von Einwanderern und ihren Nachkommen. Interessanterweise macht es dabei keinen Unterschied, ob der Fragesteller oder die Fragestellerin selbst einen solchen Hintergrund hat oder nicht. Die landläufige Vorstellung geht scheinbar unabhängig von der Herkunft davon aus: Einwanderer kommen aus fernen Ländern und sehen fremdländisch aus.

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Laut des Statistischen Bundesamtes werden als Personen mit Migrationshintergrund definiert: “… alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.” Zu der letzten Kategorie gehören meine Brüder und ich. Wir leben zwar seit unserer Geburt in Deutschland, aber unsere Mutter war 1963 eingewandert – aus den Niederlanden. Spätestens bei diesem Hinweis auf meinen Migrationshintergrund ernte ich in der Regel ein eher ungläubiges Lächeln. Zugegeben: auf den ersten Blick klingt es banal.

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Was trennt diese beiden Nachbarn schon? Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs: alles. Aus Freunden wurden Feinde, manchmal von einem Tag auf den anderen. Auf einmal spielten auch zwischen Friesen Grenzen eine Rolle. Aus nah wurde fern. Unser deutscher Großvater wurde Ortsbauernführer, unser niederländischer, ebenfalls Landwirt, tauchte 1942 als Widerstandskämpfer unter. Die deutsche Familie bewirtschaftete ihren Hof mit Zwangsarbeitern, die niederländische Familie musste ihren verlassen und lebte über Jahre in einer Scheune. Unser Vater wurde Pimpf, unsere Mutter Kinderspionin. Am Ende des Krieges war er zwölf, sie elf Jahre alt. Beide waren Opfer.

Fern bleibt fern. Das verbrecherische Besatzungsregime und die Ohnmacht der Besetzten hinterließen nach Kriegsende Hass und Misstrauen im einstmals friedlichen Grenzgebiet. Dennoch oder gerade deshalb bemühte sich unser Vater nach einigen Jahren um einen Kontakt mit der niederländischen Landjugend. 17 Jahre nach Kriegsende suchte er danach – und wurde nicht nur verbandspolitisch, sondern auch privat fündig. Gegen viele Vorbehalte, ja auch Widerstände heirateten unsere Eltern im Jahr 1963.

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Als ich 1964 geboren wurde, gab es vor allem auf niederländischer Seite noch starke Ressentiments. Eine echte und sichtbare Grenze trennte inzwischen beide Länder. Kontrollen und Staus am Grenzübergang waren die Regel. Für mich wurde der Grenzgang Alltag. Denn ich verbrachte viel Zeit bei meinen niederländischen Großeltern. Ich lebte zwischen oder auch mit zwei Sprachen, zwei Währungen, zwei Kulturen. Und ich spürte Misstrauen, manchmal blanken Hass. Wenn unser Auto mit deutschem Kennzeichen vor dem großelterlichen Haus in Woldendorp stand, wurde es mit Steinen beworfen. Manchen Kindern wurde verboten, mit dem “duitse meisje” zu spielen. Zurück in Deutschland ging es weiter. Dort erlebte ich dann die Ausgrenzung unserer Mutter und die Anwürfe gegen unseren Vater. Beiden wurde über viele Jahre hinweg mehr als deutlich gezeigt, dass sie nicht dazugehörte – bei Treffen der Nachbarn oder dörflichen Veranstaltungen. Ein Kind spürt das und leidet mit.

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Heute lebe ich meine zwei Herkünfte immer wieder an unterschiedlicher Stelle. Der von mir vertretene Wahlkreis grenzt direkt an die Niederlande. Deutsch-Niederländische Begegnungen sind Alltag. Die Ems-Dollart-Region vernetzt die Kommunen über die Grenze hinweg.

Die Auszüge stammen aus dem Kapitel “Beiderseits des Dollarts” von Gitta Connemann. Der Sammelband “Politik ohne Grenzen. Migrationsgeschichten aus dem Deutschen Bundestag” ist Ende Oktober im B&S Siebenhaar Verlag erschienen. Autorinnen und Autoren wie Katarina Barley, Aydan Özoğuz, Alexander Radwan, Cem Özdemir, Azize Tank und Herausgeber Özcan Mutlu erzählen darin von ihren persönlichen Lebenswegen und Erfahrungen als Abgeordnete.