Schluss mit Basta

Deutschland im Jahr 2010: eine Nation im Protestwahn? Das ist die Frage, die sich viele Deutsche stellen, wenn sie die vergangenen zwölf Monate Revue passieren lassen. Politik ist im 21. Jahrhundert mehr denn je durch Bilder geprägt: Fotos von bunt bemalten Jugendlichen, die im Wendland gegen den Castor-Transport demonstrieren, und fahnenschwingenden Stuttgartern, die sich gegen den Umbau ihres Bahnhofs wehren, sind in den vergangenen Wochen in fast allen Zeitungen, Nachrichtensendungen und auf unzähligen Webseiten aufgetaucht. Doch in den Diskussionen über die angebliche „Dagegen-“ oder „Nichts-geht-mehr-Republik“ tauchte auch ein andere Frage auf: Wie viel direkte Demokratie verträgt das Land?
Mitte November kritisierte Heiner Geißler, der Schlichter im Konflikt um „Stuttgart 21“, die Entscheidungsprozesse für den umstrittenen Bahnhofsumbau. „Staatliche Entscheidungen bei solch gravierenden Projekten ohne Einbindung der Bürger gehören dem letzten Jahrhundert an“, sagte der frühere CDU-Generalsekretär. Für Geißler ist klar: „Die Zeit der Basta-Entscheidungen ist vorbei.“ Das Internet mit seinen zahlreichen Wegen, Menschen zu mobilisieren, ist ein Grund, warum das so ist. Auch in Deutschland gelingt es Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace, Campact oder Avaaz, ihre Proteste über Facebook und Twitter immer schneller zu planen und durchzuführen. Die Politik hat sich darauf – gerade bei polarisierenden Großprojekten – noch nicht eingestellt.
Der Politikwissenschaftler Dieter Rucht beschäftigt sich am Wissenschaftszentrum Berlin mit den Themen Zivilgesellschaft und politische Mobilisierung. Mitte Oktober hatte Rucht die Gelegenheit, den Protest in Stuttgart näher zu untersuchen. Unter den Protestierenden ließ er rund 1500 Fragebögen verteilen, um mehr über ihre politischen Einstellungen und Ziele zu erfahren. Mit den Ergebnissen konnte er eine weitverbreitete Annahme widerlegen. „Es wurde immer darüber spekuliert, dass ein großer Teil der Protestierenden aus dem bürgerlichen Lager käme. Das konnten wir so nicht bestätigen“, sagt Rucht. Ungewöhnlich sei zwar gewesen, dass die Gruppe der 40- bis 64-Jährigen mit rund 14 Prozent einen hohen Anteil an den Demonstrierenden ausgemacht habe, diese jedoch bei weitem nicht die größte Gruppe gestellt haben. Die Altersstruktur der Protestierenden sei mit der anderer Demonstrationen vergleichbar.Gleiches gelte für die politische Einstellung: eher grün. Rucht: „Vieles haben die Medien einfach überzeichnet.“

Die Schweiz als Vorbild

Was die „Stuttgart-21“-Protestler in der Tat geschafft haben, ist, die Frage aufzuwerfen, wie eine Regierung solche Infrastrukturprojekte in Zukunft durchführen will. Rucht sagt, dass die Pläne über „Stuttgart 21“ schon Mitte der 90er Jahre fertig gewesen seien, Land und Bahn es jedoch verpasst hätten, die Bürger ausreichend zu informieren. „Wirkliche Mitwirkungsmöglichkeiten im Planungsverfahren hat es nicht gegeben.“ Es wundert ihn nicht, dass die Stuttgarter, als die Bauvorbereitungen losgingen, auch Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) kritisierten. „Bei dem Bahnhofsumbau geht es nicht nur um Tradition und Fortschritt, sondern auch um die Frage, ob es gut ist, dass eine Partei in einem Bundesland seit fast 60 Jahren an der Macht ist.“ Der demoskopische Höhenflug der Grünen zeigt, wie stark das Misstrauen in die Süd-CDU geworden ist.
Ein Blick über die südliche Landesgrenze hinaus hätte der baden-württembergischen Landesregierung möglicherweise viel Ärger erspart. Denn mit dem Durchbruch im Gotthard-Tunnel Mitte Oktober bewies die Schweiz, dass ein Land ein milliardenschweres Infrastrukturprojekt auch ohne Demonstrationen verwirklichen kann. Der Grund: Die Schweizer Bürger haben von Anfang an mit über das Projekt entschieden. 1992 stimmten sie in einem Volksentscheid für den Bau des Gotthard-Basistunnels und zwei weiterer großer Tunnelbauten. Und auch die Kosten waren, anders als in Stuttgart, kein Streitthema. Nur einmal musste die Regierung die Planung um zwei Milliarden Euro nach oben korrigieren – das jedoch vor vier Jahren.
Ende November verkündet Heiner Geißler im Stuttgarter Rathaus seinen Schlichtungsspruch. Nach einer kurzen Entschuldigung, dass die Verhandlungen vier Stunden länger als geplant gedauert haben, setzt Geißler seine Brille ab und fängt an, sein Votum vorzulesen. Darin fordert er die Politik dazu auf, sich in Zukunft früher mit den Wünschen der Bürger auseinanderzusetzen. Als Vorbild bezeichnet der 80-Jährige das Schweizer Modell: „Wir brauchen in Deutschland eine Verstärkung der unmittelbaren Demokratie.“ Zwar sei es in Deutschland nicht möglich, die permanenten Volksabstimmungen eins zu eins zu übertragen, so viel direkte Demokratie „können wir bisher noch nicht“ sagt Geißler, trotzdem solle sich die Republik künftig am Vorgehen der Schweiz orientieren. Vor allem bei Großprojekten wie „Stuttgart 21“.

Die Bürger wehren sich

Volker Kauder, Chef der Unions-Fraktion im Deutschen Bundestag, griff Geißlers Vorschlag auf. Kauder sagte nach der Schlichtung: „Wir müssen die Bürger stärker einbeziehen. Das ist eine Erkenntnis des Schlichtungsverfahren.“ Und auch SPD-Chef Sigmar Gabriel betonte, wie wichtig es sei, Lehren aus dem Stuttgarter Schlichtungsverfahren zu ziehen. Gabriel sprach davon, die Argumente bei solchen Infrastrukturprojekten früher offenzulegen. „Wir dürfen nicht glauben, dass der Sachverstand zur Beurteilung solcher Fragen ausschließlich in staatlichen Behörden zu finden ist“, sagte Gabriel. Die Bürger seien sehr wohl in der Lage, „Sachverstand zu mobilisieren“. Das hätten nicht nur die Castor- und „Stuttgart-21“-Proteste gezeigt.
Im Sommer gelang es beispielsweise dem bayerischen „Aktionsbündnis Nichtrauscherschutz“, gegen erhebliche Widerstände in der Politik ein strenges Rauchverbot im Freistaat durchzusetzen. Mit über 60 Prozent der abgegebenen Stimmen konnte das Bündnis den von ihm erzwungenen Volksentscheid Anfang Juli eindeutig gewinnen. Für Sebastian Frankenberger, den Initiator des Protests, ist klar, warum sich die Deutschen in diesem Jahr so oft gegen Pläne ihrer Regierenden gewehrt haben: „Das Wertesystem in unserem Land hat sich verändert. In den vergangen Jahren hat sich bei den Bürgern viel angestaut“, sagt der 29-Jährige, der für die ÖDP im Passauer Stadtrat sitzt , und mit dem Volksentscheid bundesweit bekannt wurde. Vor allem die Beschlüsse der schwarz-gelben Koalition in Berlin hätten bei den Bürgern Frust ausgelöst. „Mit der Steuersenkung für die Hotelbesitzer hat die Koalition viele Bürger vor den Kopf gestoßen. Diese wissen einfach nicht mehr, was mit ihrer Stimme geschieht.“ Jetzt sei die Zeit für mehr direkte Demokratie gekommen. „Die Leute wollen sich engagieren“, sagt Frankenberger. Wichtig sei: „Eine Politikverdrossenheit gibt es nicht; wohl aber eine Politikerverdrossenheit.“

Das Ende von Schwarz-Grün

Walter Scheuerl, 49, ist Anwalt für Medienrecht, Vater zweier Kinder und Elternvertreter an einem Gymnasium im Hamburger Stadtteil Othmarschen. Zum Protest entschloss er sich wenige Wochen nach der Bürgerschaftswahl 2008. Im April gab Hamburgs damaliger Bürgermeister Ole von Beust bekannt, fortan mit den Grünen koalieren zu wollen. In ihrem Koalitionsvertrag kündigten beide Parteien ein Gesetz an, nach dem Grundschüler nicht mehr nach vier, sondern erst nach sechs Jahren auf Stadtteilschulen oder Gymnasien wechseln sollten. Die „Primarschule“ sollte die Chancengleichheit der Kinder erhöhen – so das Ziel von Schwarz-Grün. Doch ein Großteil der Hamburger Eltern wollte nicht mitmachen. Scheuerl organisierte mit der Elterninitiative „Wir wollen lernen“ den Protest, und im Juli dieses Jahres stimmten 276.000 Hamburger in einem Volksentscheid gegen das Gesetz.
„Mit unserer Kampagne haben wir eine in der breiten Bevölkerung angelegte Vorstellung von ‚guter Schule‘ und den daraus resultierenden Ärger gebündelt, dass diese in den Koalitionsverhandlungen missachtet wurde. Mit ihrem Schulgesetz wollte die CDU etwas durchsetzen, von dem im Wahlkampf keine Rede war“, sagt Scheuerl im Konferenzraum seiner Kanzlei und blickt seinen Gesprächspartner dabei freundlich durch die Hornbrille an. Nicht ohne Stolz sagt er, dass die Proteste in diesem Jahr mit einer solchen Wucht auf die Politik getroffen seien, „dass Regierungskoalitionen ins Schwanken kamen“. In Hamburg spekulierten nach dem Erfolg des Volksentscheids viele darüber, ob Scheuerl sich auch mit einer eigenen Wählergemeinschaft für den Erhalt des bestehenden Schulsystems einsetzen wird. Mitte November gibt der Anwalt sich noch betont zurückhaltend und sagt, dass das von der weiteren politischen Entwicklung abhänge.
Wenige Tage später kündigen die Grünen die Koalition mit der CDU auf, und die Hamburger Parteien bereiten sich auf eine Neuwahl im Februar 2011 vor. Anfang Dezember überrascht Scheuerl ein weiteres Mal: Er gibt bekannt, dass er als parteiloser Kandidat auf der CDU-Liste kandidieren werde. Für eine Parteigründung habe die Zeit nicht mehr gereicht.  Nicht nur in Berlin überschlagen sich die politischen Ereignisse manchmal.

Keine Patentrezepte

Für die Kommunikationsberaterin Susanne Knorre symbolisieren die Proteste, die Sebastian Frankenberger in Bayern und Walter Scheuerl in Hamburg organisiert haben, sowohl eine neue als auch alte Protestkultur. „In Deutschland gab es immer schon Proteste gegen große Bauprojekte. Denken Sie an die 80er Jahre und die Auseinandersetzungen um die Startbahn West des Frankfurter Flughafens“, sagt die ehemalige niedersächsische Ministerin für Wirtschaft, Technologie und Verkehr. Neu sei, dass die Deutschen die Konflikte anders deuteten: „Das allgemeine Gefühl in der Bevölkerung ist, dass in unserem Land etwas schief läuft.“ Das liege zum einen an der schwarz-gelben Koalition in Berlin, durch die das alte Rechts-Links-Denken wieder populär geworden sei. Dazu kämen die Auswirkungen der Finanzkrise. „Während dieser Zeit waren die Politiker Meister des Spiels. Sie konnten ihre Tatkraft beweisen. Diese Zeit ist vorbei.“ All das führe dazu, dass sich die Unzufriedenheit in der Bevölkerung verstärke. Für die Politiker komme es jetzt darauf an, verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. „Das ist schwierig, denn für neue Formen der politischen Entscheidungen gibt es keine Patentrezepte“, sagt Knorre.
Ob Heiner Geißler dafür den Schlüssel gefunden hat? Als Geißler seinen Schlichterspruch zu „Stuttgart 21“ verkündete, sagte er, dass viele Kritikpunkte an dem Umbau berechtigt seien, das Projekt aber fortgeführt werden solle. Allerdings mit millionenschweren Verbesserungen – und einem neuen Namen: „Stuttgart 21 plus“.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Hannelore Kraft – Politikerin des Jahres. Das Heft können Sie hier bestellen.