Reise­krankheit auf Mallorca

Kolumne

Manche Gruppen tapferer Entdecker gehen in die Menschheitsgeschichte ein. 94 Matrosen und Wissenschaftler segelten 1768 auf der “Endeavour” für astronomische Forschungen in die Südsee. 102 Passagiere segelten 1620 auf der “Mayflower” aus England nach Amerika, um als “Pilgerväter” in die Annalen einzugehen. Am 15. Juni 2020 brachen 165 deutsche Urlauber zu einer einwöchigen Expedition auf die Balearen-Insel Mallorca auf, um nach Monaten des Corona-Lockdowns zu erkunden, ob menschliches Urlaubsleben auf dem Ballermann wieder möglich ist.

Bei ihrer Ankunft wurden die Testurlauber dann auch gebührend mit Applaus und Presserummel empfangen. Dabei gab es für sie einige Hürden zu überwinden: Sie mussten sich mit Wärmebildkameras auf Fieber checken lassen. In den Hotels waren Spender mit Desinfektionsmittel angebracht. Auf den Boden geklebte Pfeile mussten befolgt werden. Täglich rief jemand von der balearischen Gesundheitsbehörde an, um zu kontrollieren, ob auch alles in Ordnung ist. Außerdem mussten die Teilnehmer der Malle-Vorhut ihre persönlichen Daten hinterlegen, was Deutsche bekanntlich mehr schmerzt als Fledermausviren.

Für das Publikum, das in Deutschland gebannt vor den Fernsehern zurückblieb, mussten die Mitglieder der Expedition binnen einer Woche sicherstellen, ob die wichtigsten Malle-Erfahrungen wieder möglich sind. Wie kann man sich mit 1,5 Metern Abstand zuprosten? Wie laut kann man mit Mundschutz “Saufen, morgens, mittags, abends” von “Ingo ohne Flamingo” grölen? Ist der Brechreiz ein Mallorca- oder ein Corona-Symptom? Wer greift beim Saufeimer mit Corona-Bier nach dem letzten Strohhalm?

Natürlich sind auch die Ferienregionen in Deutschland jetzt hellhörig geworden. Sie hatten Corona sei Dank auf mehr deutschen Heimurlaub gehofft, jetzt sehen sie plötzlich ihre Felle davonschwimmen.

Baden-Württemberg hofft, Mallorca-Skeptiker in seine Weinberge locken zu können. Vom Traubensaft kriegt man schließlich auch Umdrehungen. Auch auf die Hits müssen Urlauber im Südwesten nicht verzichten. Immerhin verspricht die zweite Strophe des Deutschlandliedes unter anderem “deutschen Wein und deutschen Sang”. Aber leider ist diese verrückte Nudel unter den Hymnenstrophen nahezu unbekannt – verblasst neben ihren Geschwistern, der Streberin (“Einigkeit und Recht und Freiheit”) und dem Bruder, der im Knast sitzt, aber keiner in der Familie spricht darüber (“Deutschland, Deutschland über alles”).

Auch die Bayern werben um Urlauber. In der Alpen bekommen Gäste von der Bergwacht vor traumhafter Kulisse Hubschrauberflüge geboten, vorausgesetzt sie überschätzen sich beim Wandern und gehen ein bisschen länger auf unerkundeten Pfaden und gefährlichen Schluchten spazieren, was für Deutsche ein Klacks ist.

Damit konkurriert Bayern mit Niedersachsen und Schleswig-Holstein an der Nordsee, wo für Abenteuerlustige die Wattwanderung gerne auch mal eine “Watt-the-fack-Wanderung” wird und ebenfalls mit einem szenischen Helikopterflug endet. 

Auch für historisch Interessierte bieten die deutschen Regionen etwas. In Dresden lockt das Grüne Gewölbe wieder mit einem Tag der offenen Tür. Wer sich bei touristischen Schnappschüssen nicht auf die traditionell miserable Kameratechnik der legendären Schatzkammer verlassen will, sollte sich vor den reichlich besetzten Vitrinen (und einer leeren) selbst fotografieren. 

Die Malle-Expedition wird derweil akribisch ausgewertet. Aber egal wie die Ergebnisse sind: Wir können getrost auch daheim entspannt wandern oder uns auf einem See treiben lassen, bevor wir im Herbst die zweite Welle surfen. 

Letztlich bleibt uns ohnehin nur zu hoffen, dass das Coronavirus bald besiegt ist. Dann heißt es wieder: “Aber scheiß drauf – Influenza ist nur einmal im Jahr!”

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 131 – Thema: Politiker auf Social Media. Das Heft können Sie hier bestellen.