Wahlpflicht einführen?

Pro und Kontra

Pro
von Stefan Mayer

Stetig setzt sich die Reihe von Wahlen in Deutschland mit geringer Beteiligung fort. In diesem Sommer stehen die Bundestagswahl und zwei Landtagswahlen bevor. Es scheint derzeit nur noch eine Frage der Zeit, wann bei den ersten Landtagswahlen eine Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent erreicht wird, wie es bei vielen Kommunal- oder auch Landratswahlen in Deutschland bereits regelmäßig der Fall ist.
Selbstverständlich ist es Aufgabe der Politikerinnen und Politiker, die Bürgerinnen und Bürger für politische Themen zu interessieren. Die Vermittlung von politischen Inhalten muss attraktiv gestaltet werden, um damit letztlich die Menschen davon zu überzeugen, dass sie mit der Abgabe ihrer Stimme etwas bewirken. Durch die Wahlen kann unmittelbar Einfluss auf die Inhalte und die Gestaltung von Politik genommen werden.
Motiviert durch die positiven Erfahrungen anderer Länder – wie Belgien oder Italien – bin ich zu der persönlichen Überzeugung gekommen, dass eine Wahlpflicht zu einer deutlich höheren Wahlbeteiligung und somit auch zu einer deutlich besseren demokratischen Legitimation der neu Gewählten führen könnte. Sie wäre zudem ein deutliches Signal für die konstituierende Bedeutung der Wahl als Element der Demokratie. Gleichzeitig müsste die Möglichkeit der Enthaltung auf dem Wahlzettel aufgeführt werden, um die Wahlfreiheit zu gewährleisten und um ausdrücken zu können, dass keines der politischen Angebote unterstützt wird. Von etwaigen Sanktionen zur Durchsetzung der Wahlpflicht halte ich hingegen nichts.
Wenn auf diesem Wege die Repräsentationskraft der Gewählten gesteigert wird, wäre das sicher ein erheblicher Gewinn für die demokratische Kultur in unserer Gesellschaft. Demokratie braucht die Beteiligung von allen – zumindest in der Form, dass die Wählerinnen und Wähler in Deutschland von ihrem aktiven Wahlrecht auch tatsächlich Gebrauch machen. Ich empfinde es als Bürgerpflicht, über die politische Richtungsentscheidung alle vier Jahre mitzubestimmen.

 

Kontra
von Stefan Ruppert

Kann man die Bürger zur Demokratie zwingen? Und bei Nichtteilnahme an Wahlen gar mit Strafgeld oder Gefängnis drohen? Die klare liberale Antwort lautet: Nein! Eine lebendige Demokratie lebt von innerer Überzeugung, nicht von äußerem Zwang. Wir müssen jeden Bürger überzeugen, dass er Verantwortung für das Gemeinwesen hat. Zuschauen reicht nicht. Trotzdem muss jeder Bürger für sich selbst die Entscheidung treffen, ob er zur Wahl geht oder eben nicht. Das garantiert die im Grundgesetz festgeschriebene Wahlfreiheit.
Keine Frage: Die sinkende Beteiligung bei Bundestagswahlen ist bedauerlich. Sie ist auch Ausdruck von Politikverdrossenheit der Bürger. Mit einer Wahlpflicht würde man aber nur die Symptome des Problems bekämpfen, nicht die tieferliegenden Ursachen. Viele Bürger würden bei einer Pflicht zwar wählen gehen, allein um Sanktionen zu vermeiden. Aber vermutlich würden diejenigen, die sich zur Wahl gedrängt fühlen, eher ungültige Stimmzettel abgeben oder Protestparteien wählen. Damit erweist man dem demokratischen Miteinander sicher keinen Gefallen.
Politik und Gesellschaft müssen weiter die wahren Ursachen der Politikverdrossenheit angehen. Ein kontinuierliches Werben für unsere Demokratie und die Beteiligung der Bürger daran ist ein notwendiger Schritt. Ein sachlicher, lösungsorientierter und verlässlicher Politikstil, der auch die bestehenden Gemeinsamkeiten der Demokraten betont, ist ein weiterer. Zudem ist es wichtig, mehr direktdemokratische Elemente auf Bundesebene einzuführen, ohne unser repräsentatives System zu schwächen. Ebenso müssen sich Parteien für neue Beteiligungsformen der Bürger weiter öffnen. Ziel muss ein dauerhaftes, positives Engagement für unsere Demokratie sein.
Der Ruf nach einem staatlichen Wahlzwang bietet nur eine Scheinlösung. Vielmehr ist die demokratische Verantwortung jedes Einzelnen gefragt, um die wir werben müssen. Dies ist die unbequeme Antwort des Liberalismus – hier wie überall sonst.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Bild, Blogs und Glotze – Die wichtigsten Meinungsmacher im Wahljahr. Das Heft können Sie hier bestellen.