Soll es Lockerungen für Geimpfte geben?

Pro und Kontra

Pro
von Manfred Weber (CSU)

Für mich ist die Antwort klar: Wer sich impfen lässt und so seinen Beitrag zur Bekämpfung von Corona leistet, darf nicht langfristig in seinen Grundrechten eingeschränkt bleiben. Klar ist aber auch, solange noch nicht jeder ein Impfangebot erhalten hat, darf es noch keine Privilegien für die wegen der noch bestehenden Lieferengpässe wenigen Geimpften geben. 

Beispiel Reisefreiheit: Grenzkontrollen innerhalb der EU kannten die allermeisten von uns außer bei der Fahndung nach Verbrechern kaum noch. Seit Corona gilt das nicht mehr. Schlangen und Wartezeiten an Grenzübergängen sind leider keine Ausnahme mehr. Die Reisefreiheit ist ein wesentliches Element unseres European Way of Life. Die Pandemie hat uns auch hier schmerzlich vor Augen geführt, wie bisher als ganz selbstverständlich empfundene Privilegien aus unserem Leben verschwinden. Der sehr gute Vorschlag meines guten Freundes und griechischen Premierministers Kyriakos Mitsotakis ist der richtige Weg zurück zu dieser bisher selbstverständlichen Normalität: Mit dem digitalen Impfpass soll jeder Bürger europaweit nachweisen können, dass er geimpft ist.  Denn das Chaos bei den Corona-Tests, die nicht überall in Europa anerkannt wurden, darf sich auf keinen Fall wiederholen. 

Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir weiter einen gemeinsamen europäischen Weg verfolgen: Wir brauchen einheitliche, europaweite Regeln und ein gemeinsames Vorgehen – sowohl bei der Zulassung von Impfstoffen durch die Europäische Arzneimittelagentur für ganz Europa als auch bei der Strategie zur Steigerung der europäischen Impfstoffproduktion. Nationale Alleingänge schaffen einen Flickenteppich, der die Verbreitung des Virus und seiner Mutationen weiter fördert. Auch bei Lockerungen für Geimpfte gilt:  Ein gemeinsamer europäischer Ansatz schützt uns alle und verhindert Chaos.

Kontra
von Katja Kipping (Linke)

Die Corona-Krise hat die soziale Ungleichheit in Deutschland weiter verschärft. Vor allem Frauen übernehmen die zusätzlich anfallende Care-Arbeit, vor allem Menschen mit geringem Einkommen haben Einkommenseinbußen. Auch wenn die Maßnahmen für alle gleich gelten, treffen sie uns doch nicht unterschiedslos. Es ist ein Unterschied, ob einen die Beschränkungen in beengten Wohnverhältnissen treffen oder in einem Haus mit Garten. In dieser Situation zwei unterschiedliche Bürgerstatusformen von Geimpften und Nicht-Geimpften zu schaffen, würde die Gesellschaft weiter spalten. 

Wer Lockerungen für Geimpfte befürwortet, geht davon aus, dass Geimpfte nicht nur gegen schwere Erkrankungen geschützt sind, sondern auch das Virus nicht mehr übertragen. Diese Annahme steht auf tönernen Füßen. Es gibt bisher nur für zwei Impfstoffe Studien, die eine Verminderung der Übertragung belegen. Unklar ist auch, ob sie die Übertragung neuer Mutationen verhindern. Da auch neue Impfstoffe zugelassen werden, neue Mutationen auftreten und Impfstoffe wohl angepasst werden müssen, ist die Lage kompliziert. Wollte man Lockerungen für Geimpfte einführen und gleichzeitig den Infektionsschutz ernst nehmen, müsste man die Lockerungen laufend an die aktuell bekannte Wirksamkeit der Impfstoffe anpassen. Doch je unübersichtlicher die Regeln gestaltet sind, desto geringer ist die Akzeptanz.

Die Forderung nach Lockerung für Geimpfte hat auch ein prinzipielles Problem: Grundrechte sind die Rechte aller Bürgerinnen und Bürger. Sie betreffen uns als Gleiche. Führt man über den Impf-Umweg zwei Bürgerstatusformen ein, werden aus Grundrechten Vorrechte. Wir sollten keine Grundrechte aufgrund von körperlichen Dispositionen verteilen. Stattdessen brauchen wir eine Strategie, die eine nachhaltige Öffnung für alle ermöglicht.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 134 – Thema: Wahlkampffieber – Superwahljahr im Zeichen der Pandemie. Das Heft können Sie hier bestellen.