Braucht Deutschland eine neue Nationalhymne?

Pro und Kontra

Pro
von Werner Schulz

1989/1990 hätte ich diese Frage mit einem klaren „Ja“ beantwortet. Vor zwanzig Jahren hatte ich mir vorgestellt, dass man die Vereinigung für eine gründliche Inventur beidseitig der deutschen Grenze nutzt. Die war natürlich besonders im Osten notwendig, aber auch in der Bundesrepublik gab es seit Mitte der 80er Jahre einen regelrechten Reformstau. Es wäre der Mühe wert gewesen, für eine neue Republik eine neue Architektur zu entwerfen. So ist etwa bei der Nationalhymne eine Chance vertan worden. Die DDR hatte eine Hymne, die seit den 70er Jahren nicht mehr gesungen werden durfte, weil sie den Gedanken an Wiedervereinigung enthielt. In Westdeutschland sangen die Demokraten – wenn überhaupt – die dritte Strophe. Die erste hört man bei rechten Aufmärschen und in Fußballstadien. Kein Wunder, dass einige unsere Nationalspieler dann lieber schweigen. Und leider viele es nicht hören wollen.
Beim Vereinigungsprozess der beiden Teile Deutschlands hatte ich vorgeschlagen, eine neue Hymne als Verbindung von Beethoven und Brecht zu schaffen: Als Melodie „Freude schöner Götterfunken“ und als Text die „Kinderhymne“: „Anmut sparet nicht noch Mühe“. Das ist nicht überschwänglich und nicht geduckt – genau das, was es für ein neues, bescheidenes Nationalbewusstsein gebraucht hätte. Die Gelegenheit ist vertan worden.
Das „Deutschlandlied“ ist Geschichte und beschreibt ein Gefühl des 19. Jahrhunderts. Wer sich damit wohlfühlt, soll es singen. Es steht wie Wagner neben der Rockmusik.
Reif ist die Zeit allerdings für eine offizielle Hymne der Europäischen Union. Ein gemeinsames Lied, eine Erzählung für Europa. Beethovens „Ode an die Freude“ hat bis heute keinen Text. 60 Jahre nach ihrer Gründung steckt die Union in einer ihrer größten Krisen. Es geht um den politischen Zusammenhalt oder besser um die Stärkung dieser europäischen Einheit, die soviel Positives für die Menschen geleistet hat. Ein offizieller Text wäre ein weiterer Schritt für eine gemeinsame Verfassung und Festigung Europas.

Kontra
von Peter Hahne

Was heißt „zeitgemäß“ bei einer Hymne? Etwa diese neue PC-Version der Österreicher, die den „großen Söhnen“ ein „Töchter“ voran setzten und damit auf poetischen Rhythmus und singbare Melodie pfeifen? Zu deutsch: „schwesterlich“ statt „brüderlich mit Herz und Hand“. Ein Fall für Stefan Raab & Co.
Nein, wir haben eine der schönsten Nationalhymnen der Welt. Eingängige Melodie, feierlich, erhebend. Und ein Text, der sich auch nach Jahrzehnten noch sehen und singen lassen kann. Im Vergleich zu anderen ein wahrhaft friedlicher Text. Nicht nur bei Fußball-Länderspielen lohnt das Hören anderer Länderlieder. Die Italiener schmettern: „Laßt uns die Reihen schließen, wir sind bereit zum Tod! Italien hat gerufen!“
Fast im selben Jahr, 1841, dichtete August-Heinrich Hoffmann von Fallersleben die schöne Strophe von Einigkeit und Recht und Freiheit, in deren Glückes Glanz das deutsche Vaterland blühen soll. Soll ich das ändern, nur weil eine aufgeregte Sängerin, die wohl den falschen Geschichtslehrer hatte, daraus mal „brüh im Lichte“ machte“? Apropos Geschichtslehrer: Das Lied der Deutschen hat einen wahrhaft revolutionären Dichter, war sozusagen die 68er-Hymne der damaligen studentischen Jugend gegen Fürstenherrschaft und Imperialismus.
 Klar: der Text der ersten Strophe ist missbraucht worden – wie so vieles in der Welt. Für Hoffmann war sein „Deutschland über alles“ das genaue Gegenteil vom Nazi-Größenwahn. Die Generation, die die „verkehrte“ Strophe heute noch im Geiste mitsingt, ist fast ausgestorben. Lebendig ist die Toleranz und Modernität der „offiziellen“ Hymne. Idealer kann ein Text für die Bürger der Ex-DDR oder mit Migrationshintergrund doch gar nicht sein. Sie könnten den wunderbaren Text eigentlich besonders laut schmettern, auch als Fußballer.
Wir brauchen Pädagogen, die die Revolutionsgeschichte von Schwarz-Rot-Gold (Hambacher Fest) und des „Liedes der Deutschen“ (Biografie Hoffmann) lehren. Dann käme keiner auf die Idee, ausgerechnet diese Hymne zu renovieren. Wir brauchen keine neue Nationalhymne, wir brauchen mehr Einigkeit und Recht und Freiheit in unserer Gesellschaft.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Wir wollen rein – Bundestag 2013. Das Heft können Sie hier bestellen.