Perfektes Zusammenspiel

Eine Sitzungswoche im Bundestag beginnt ganz unspektakulär: mit Namenslisten. Diese liegen an den Eingängen der Parlamentsgebäude, in denen die Abgeordneten ihre Büros haben. Der Parlamentarier unterschreibt und bezeugt so seine Anwesenheit – für alle Interessierten später einsehbar auf den Internetseiten des Bundestags.
Nachdem der Abgeordnete in seinem Büro angekommen ist, muss alles reibungslos laufen. Die Zeit drängt, es gibt immer irgendeinen Termin; sei es die Sitzung der Arbeitsgemeinschaft, der Ausschuss, die Fraktion oder die Abstimmung im Plenum. Für die Mitarbeiter heißt das: Vor dem Chef im Büro sein und alle Unterlagen parat haben – die dicke Mappe zum Sitzungsthema, die Terminplanung und die Presseschau.
Während der Sitzungen entfaltet sich im Büro der Alltag: E-Mails füllen das Postfach, Telefone klingeln pausenlos. Fraktionsmitglieder, Mitarbeiter aus den Ministerien und Lobbyisten schreiben Nachrichten, rufen an und wollen den Politiker für einen Vortrag oder eine Konferenz gewinnen. Bürger aus dem Wahlkreis stellen Fragen, haben Bitten, möchten gehört werden, Journalisten verlangen ein Interview.

Mit Handy auf die Toilette

Dabei ist klar: Jedes Anliegen wird auch bearbeitet. Es ist alles nur eine Frage des „Wann“. Denn in Sitzungswochen ist der Abgeordnete selbst für seine Mitarbeiter schwer zu erreichen. Gespräche mit Journalisten finden per Handy auf dem Weg von einer Sitzung zur nächsten statt. Da im Bundestag zwischen Sälen und Gebäuden lange Korridore liegen, ist diese Strecke oft die einzig verbleibende Zeit, um per SMS oder Anruf mit dem Büro zu kommunizieren. In Sitzungspausen tauscht man sich per E-Mail aus. Schließlich hat die Bundestagsverwaltung jedem Abgeordneten bei Antritt seiner Legislaturperiode einen handlichen silbergrauen Laptop ausgehändigt. Trotzdem ist der Bundestag kein „Hotspot“, kein Ort also, an dem Nutzer drahtlos ins Internet gehen können. Sicherheitsgründe sprechen dagegen. Jeder Abgeordnete muss unterwegs selbst dafür sorgen, dass er außerhalb des Büros online ist, per UMTS-Stick oder Handy. Und da der Politiker mit all seinen terminlichen Verpflichtungen quasi nie, gleichzeitig aber auch immer erreichbar ist, müssen die Mitarbeiter bis weit nach Feierabend abrufbereit sein. In Pausen wird das Telefon im Büro auf das Handy umgeleitet, selbst auf der Toilette liegt es eingeschaltet auf dem Waschbecken. Schließlich könnte der Vorgesetzte anrufen, und dann muss es schnell gehen. Bloß nichts vermasseln. Immerhin hängen häufig Gesetzesvorhaben daran und damit auch Deutschland.
Damit der Arbeitsalltag eines Bundestagsabgeordneten perfekt durchstrukturiert ist, braucht es hinter der Bühne eine Art Kleinunternehmen mit Tag-und-Nacht-Bereitschaft: Mehrere Mitarbeiter, die den Parlamentarier sowohl in Berlin wie auch vor Ort in seinem Wahlkreis rund um die Uhr unterstützen. Das „Alphatier“ in dieser Mannschaft ist immer der Büroleiter – oder die Büroleiterin. Denn die meisten Büros werden von Frauen geleitet. Die meisten Bürochefs haben Jura, Geschichte oder Politik studiert. Alles Fächer, die eine analytische Denkweise erfordern – eine wichtige Voraussetzung, um im hektischen Politikalltag den Überblick zu behalten. Während ein Büroleiter hauptsächlich für Gesetzentwürfe recherchiert und sämtliche Termine und Abläufe – vom Bestellen eines Autos bis zum Buchen des Flugs in den Wahlkreis – organisiert, regelt ein weiterer Mitarbeiter den Umgang mit den Medien, verfasst Pressemitteilungen und aktualisiert die Webseite.

Abblocken gehört dazu

Der eigene Online-Auftritt ist das Lieblingsspielzeug der Parlamentarier. Er ist sowohl Nabelschnur zur Außenwelt als auch Reklamewand. Für den wissenschaftlichen Mitarbeiter, der im Abgeordnetenbüro für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, bedeutet das: ständiges Aktualisieren und Überwachen. Nachrichten zu neuen Ereignissen rund um den Parlamentarier müssen binnen Minuten auf die Webseite gestellt werden, auf Youtube werden aktuelle Videos und Fernsehinterviews hochgeladen und mit der Startseite im Internet verlinkt. Eigene Webseiten bei Facebook, MeinVZ und Wikipedia gehören mittlerweile dazu. Wer jedoch im elektronischen Gästebuch anstößige  Kommentare hinterläßt, verletzt den Anstandscode und wird abgeblockt.
Das Abblocken ist eine wichtige Aufgabe im Alltag. Natürlich muss der Parlamentarier über alle wichtigen Vorgänge informiert werden. Jedoch inhaltlich gefiltert, sprachlich überarbeitet und in einen größeren Zusammenhang eingebettet. Vergleichbar mit dem Vorkosten am königlichen Hof: Giftiges wird ausgespuckt, Wohlschmeckendes weitergereicht.
Bei allen Prozessen in Berlin sind auch die Mitarbeiter im Wahlkreis involviert und informiert. Wie ihre Berliner Kollegen haben sie Zugriff auf das Intranet des Bundestags, den Terminkalender und Kontakte sowie alle wichtigen Dokumente. In sitzungsfreien Wochen sind die meisten Bundestagsabgeordneten vor Ort im Wahlkreis, wo sie oft noch ehrenamtliche Ämter innehaben und Termine wahrnehmen. Wochenenden gibt es so gut wie nicht. Örtliche Sitzungen, Treffen, Messen und Ausstellungen finden von Freitag- bis Sonntagabend statt. Für die Mitarbeiter im Wahlkreis heißt das, auch an diesen Tagen mitzuhelfen. Überstunden sind in jedem Abgeordnetenbüro eher Regel als Ausnahme.
Das Kleinunternehmen Abgeordnetenbüro, das den Tagesablauf des Politikers strukturiert, kann – im besten Fall – nur deshalb so reibungslos funktionieren, weil im Hintergrund das Großunternehmen Bundestag ein Auffangnetz bildet. So sind Protokolle von Plenarsitzungen nur wenige Stunden nach Sitzungsende bereits im Internet abrufbar. Mitarbeiter der wissenschaftlichen Telefon-Hotline beantworten alle wichtigen Fragen und verschicken nach kurzer Recherchezeit einen Aufsatz an den Fragesteller. Wer viel arbeitet, wird im Bundestag auch belohnt. Das Parlament bietet gestressten Abgeordneten einige Annehmlichkeiten: eine eigene Parlamentsärztin, verschiedene Cafés und Restaurants und Ticket-Automaten von Lufthansa und Air Berlin, die im Untergeschoss des Reichstags aufgestellt sind.
Eine große Verwaltung bedeutet jedoch auch eine große Anzahl an Vorschriften. Sie legen fest, wer im Bundestag für welche Aufgabe zuständig ist. Vieles ist sinnvoll. Doch einige Vorschriften muten auch bizarr an. Einen Nagel zum Beispiel sollen weder Abgeordnete noch Mitarbeiter selbstständig in die Wand hauen. Um einen Kalender oder ein Bild im Büro aufzuhängen, bedarf es eines Anrufs beim Gebäudeservicezentrum, das den Auftrag an den Bereich Handwerkerleistungen weiterleitet. Dieser schickt einen Mitarbeiter mit Werkzeugkoffer vorbei, der dann einen genormten weißen Stiftnagel in die Wand treibt. Immerhin: Am Ende des Tages hängt ein perfekt sitzendes Bild an der Wand.
Kleiner Nagel, große Symbolik: In einem Bundestagsbüro arbeiten viele Menschen, die letztlich ein gemeinsames Ziel haben: dem Abgeordneten die Arbeit zu erleichtern.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Politiker – wie sie leben und arbeiten. Das Heft können Sie hier bestellen.