Opfer auf allen Seiten

Selbst wenn manche Gerichtshows ein anderes Bild vermitteln: die Rechtsprechung hängt nicht von Sympathien, dem Einkommen oder der öffentlichen Meinung ab. Genau das sollten Medienberichterstatter eigentlich wissen. Doch im aufgeheizten Politikbetrieb fallen immer mehr Journalisten weniger durch Haltung und eigene Enthüllungen auf. Stattdessen werden sie zu Jägern und Vollstreckern auf dem Boulevard. Die Talkshows beteiligen sich daran, Personen des öffentlichen Lebens an den Pranger zu stellen. Deshalb klagte Susanne Gaschke, nachdem sie als Kieler Oberbürgermeisterin zurücktrat, über die Selbstgerechtigkeit der Journalisten.

Zur Eröffnung des Verfahrens gegen Ex-Bundespräsident Christian Wulff meldeten sich viele – zu viele – in Talkshows zu Wort. Den Runden bei Sandra Maischberger und Frank Plasberg gelang es zumindest, Hintergründiges und Selbstkritisches zu diskutieren. Und Julian Nida-Rümelin lieferte im „Cicero“ sogar so etwas wie einen Kompass. Angesichts einer „Kommerzialisierung öffentlicher Neugier“ plädierte er für die Aufrechterhaltung der Trennung von Öffentlichem und Privatem – denn diese Trennung markiere die kulturelle Voraussetzung der Demokratie.

Der Fall Wulff ist symptomatisch für die Risse im Verhältnis von Politik und Medien. Es handelt sich nicht um einen kleinen Ehekrach, sondern um grundlegende Missverständnisse.

Die übertriebene Euphorie zu Beginn seiner Amtszeit (die übrigens von der Springer-Presse befeuert wurde, die einen privilegierten Zugang zu Wulff hatte) und die überzogene Erwartungshaltung (die nicht an die politischen Möglichkeiten des Amtes rückgekoppelt war) haben uns ein bislang nicht gekanntes Ausmaß an Personalisierung und Boulevardisierung beschert.

Die Mehrzahl der Beteiligten verlor ihr Maß – insbesondere der ehemalige Amtsträger. Der Umgang mit den Enthüllungen zum Hauskredit und den verschiedenen Einladungen sowie die Nachricht auf der Mailbox des „Bild“-Chefredakteurs waren mit den Ansprüchen des Amtes nicht vereinbar.

Trotzdem: Die Eröffnung des Ermittlungsverfahrens setzt Arbeit und Entscheidungen von Staatsanwaltschaft und Richtern voraus, denn es handelt sich nicht um einen politischen Prozess, sondern um einen Prozess gegen einen Politiker, der nach Ansicht der Staatsanwaltschaft gegen Gesetze verstoßen hat. Der Prozess ist keine Lappalie – und zwar unabhängig davon, wie hoch der Betrag der vermeintlichen Vorteilsnahme ist und unabhängig davon, ob es zum Freispruch kommt oder nicht.

Blaupause Margot Käßmann

Zurückgeblieben sind Opfer auf allen Seiten: Die Aufarbeitung hat erst begonnen und wird durch Wortmeldungen wie die von Moritz Hunzinger bei Sandra Maischberger nicht erleichert. Der ehemalige PR-Berater mit fragwürdigem Ruf wertete die „Ansage“ des Bundespräsidenten auf der Mailbox von Kai Diekmann als vertretbar und empfahl, den Vorgang sportlich zu nehmen.

Glücklicherweise wiesen die anwesenden Journalisten Hajo Schumacher und Sibylle Weischenberg Hunzinger in die Schranken. Im Gegensatz zu PR-Beratern bräuchten Journalisten Distanz zur Macht und die Leidenschaft, Ungerechtigkeiten aufzudecken, argumentierten sie.

Bei „Hart aber fair“ wurde das Verhalten von Margot Käßmann als Blaupause für Wulff genannt. Die Kirchenvertreterin Petra Bahr betonte, dass die, die einen Fehler begangen haben, um Entschuldigung bitten sollten. Wulff dagegen erschien am ersten Verhandlungstag mit dem Bundesverdienstkreuz am Revers – das falsche Symbol.

Selbstkritik und Transparenz, wie sie in den beiden Talkshows sowohl von Hans Leyendecker als auch von Hajo Schumacher und Sibylle Weischenberg verkörpert wurden, werden angesichts der medialen Auswüchse immer wichtiger.

Gerade in Zeiten der Aufregungsdemokratie wäre es fatal, wenn der politische Skandal nicht mehr ernst genommen würde.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Bleibt alles anders? – Die Kampagnentrends 2014. Das Heft können Sie hier bestellen.