Ohne Netz bist Du nichts

Komplexe Netzwerke sind die Verbindung zwischen einer Gruppe von Menschen, die jeder für sich selbst organisieren muss, und das ist eine Aufgabe, die immer wieder im Alltag absolviert werden will. Wir denken vernetzt, wir handeln vernetzt, alles hat auch eine Folge, und diese Folge hat wiederum eine. Networking ist der Modebegriff, wenn es um die Bewältigung kom-plizierter Strukturen geht. In Parteien, in Wirtschaftkreisen, aber auch im Privatleben ist ein Leben ohne Vernetzung nicht mehr denkbar. Wir tummeln uns auf virtuellen Marktplätzen wie Facebook, Xing oder Linkedin und fühlen uns darin einer Community zugehörig. Wer als „Freund“ oder „Kontakt“ bestätigt wird, gehört zu unserem virtuellen Netzwerk, macht sich ansprechbar für Projekte und Vorteilsgewährungen. Das ist moderne Beziehungsarbeit, die Beteiligten sind nicht nur Netz-, sondern vor allem auch Nutzenwerker. Einen entscheidenden Vor-teil immerhin hat das digitale Kontaktsammeln: Es geschieht nicht im Geheimen. Zumindest die, die einem solchen Personennetzwerk angehören, können sehen, wer noch mit wem verbunden ist.

Kleine Welt

Die Idee geht zurück auf das „Small World Phenomenon“, das der Psychologe Stanley Milgram bereits im Jahr 1967 beschrieben hat. Seiner Überzeugung nach ist jeder Mensch auf diesem Planeten mit jedem anderen Menschen um sechs Ecken bekannt. Das bedeutet, über sechs verschiedene Kontaktleute würde man jeden beliebigen Prominenten, Obdachlosen oder Langweiler ansprechen können. Man sieht, schon geringe Aufwendungen in ein tragfähiges Netzwerk zu investieren, kann sich durchaus lohnen. Netzwerke zeichnen sich dadurch aus, dass sie ohne feste Hierarchien auskommen, auch wenn es an den Knotenpunkten sicher mächtigere Netzmitglieder gibt. Sie leben davon, dass Individuen ernst genommen werden und jeder seinen Nutzen in das Netz einbringt. So entsteht eine kollektive Intelligenz, die sonst nur mit sehr viel strukturell-bürokratischem Aufwand herzu-stellen wäre. Ein Beispiel dafür sind die „Open-Source“-Netzwerke zur Erarbeitung und Weiterentwicklung von Computerprogrammen oder die freie Internet-Enzyklopädie Wikipedia. Wer mitmachen möchte, kann etwas Sinnvolles zur digitalen Gesellschaft beitragen. Als Belohnung warten lediglich beschränkter Ruhm und vielleicht begehrte Kontakte für Geschäfte in der realen Welt.
Wie aber soll man als Mitarbeiter an einem Online-Projekt an lukrative Aufträge kommen? Sind die „sozialen Netzwerke“ der digitalen Welt tatsächlich so tragfähig? Die fachliche Diskussion unter Gleichgesinnten kann durchaus dazu führen, dass man weiterempfohlen wird oder – ohne es zu wissen – womöglich ge-rade mit einem Geschäftsmann ein technisches Problem erörtert oder sich durch sachkundige Äußerungen als Experte für eine bestimmte Arbeit empfiehlt. Der andere merkt schnell, dass er es mit einem Profi zu tun hat, den er beispielsweise zur kommerziellen Entwicklung von Projekten gebrauchen könnte. Hier kommt das Netzwerk auf seinen Ursprungsgedanken zurück: Denn Netze sind historisch gesehen technische Gebilde. Sie bestehen aus Schienen oder Strom- sowie Telefonleitungen und sorgen dafür, dass Kontakte, Kommunikation und Vorteile (im Sinne von Annehmlichkeiten für die Netzteilnehmer) gefördert werden.

Undurchschaubar

Der US-amerikanische Mathematik-Professor Fred Luthans beschäftigt sich mit dem Organisationsverhalten von Managern. Je höher sie auf der Karriereleiter steigen, so fand der Wissenschaftler heraus, umso mehr Zeit investieren sie in die Pflege ihrer Netzwerke, anstatt in das Knüpfen neuer Kontakte zu investieren. Wie einflussreich die Ideen- und Einstellungswelten solcher Personennetzwerke sein können, veranschaulichten die Forscher Nicholas A. Christakis und James H. Fowler. Sie beschreiben den Fall einer Frau, die bei einer guten Freundin eine deutliche Veränderung beobachtet. Die fängt plötzlich an, keinen Sport mehr zu treiben und dick zu werden. Da die Betreffende diese Freundin sehr mag, ändert sie ihre Einstellung und hält dicke Menschen für akzeptabler, als sie das vorher getan hatte. Mit ihrem wissenschaftlichen Ansatz zeigen Christakis und Fowler einen neuen Weg zwischen individualistischen und kollektivistischen Theorien auf, der der Realität besser gerecht wird.
Nicht jeder ruft zu jedem Zeitpunkt die (potenziellen) Leistungen des Netzes ab. Das war in der Zeit der technischen Gebilde so, und das gilt auch heute noch. Es werden nicht direkt verbindliche „Dankesschulden“ angehäuft, wie der Soziologe Erwin Scheuch die Korruptionsgefahr zum Beispiel in Parteien beschrieben hat. Durch zeitliches Auseinanderziehen von Leistung und Gegenleistung wird immer undurchschaubarer, welche Handlungen auf welchen Beziehungen und Abhängigkeiten beruhen. Das macht die Kooperation im Netz einerseits spannend, andererseits aber auch intransparent.
Manchmal geht es in Netzwerken „nur“ um die gemeinsame Reflexion über die aktuelle gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Lage. So treffen sich mehr als 100 mächtige Menschen aus aller Welt einmal im Jahr zu einer „Bilderberg-Konferenz“: Geheimdienstler, Politiker, Manager und Medienleute. Über die Inhalte der Tagung wird striktes Stillschweigen bewahrt. Das wiederum wirft die Frage auf, ob es sich um einen bloßen Debattierclub oder – wie Kritiker meinen – um eine „Welt-Schattenregierung“ handelt.
Es gibt viele Organisationen, die sich das Networking bewusst auf die Fahnen geschrieben haben. So knüpft der Verein „Westwind“ in Berlin Kontakte zwischen Menschen aus Nordrhein-Westfalen, die es ins Exil an die Spree verschlagen hat. Viele Universitäten versuchen, Alumni-Netzwerke zu aktivieren, also Ehemalige, die sich gegenseitig weiterempfehlen und ihrer alten Hochschule kollektiv verbunden bleiben. Wohltätigkeitsvereine wie der Lions Club, die Freimaurer oder Rotary haben ähnlich kommunikative Ziele. „,Tragen Sie Ihre Rotary-Anstecknadel, um Gespräche auf Ihr Engagement bei Rotary zu bringen’, heißt es in den Hinweisen der Organisation zum Thema ,Wie werbe ich Mitglieder?’“, berichtete Marc Beise 2009 in der „Süddeutschen Zeitung“: „Einmal in der Woche treffen sich die Rotarier bei Essen und Vorträgen, sie rücken zusammen und sprechen sich gegenseitig als ,Freund’ an. Ist daran etwas auszusetzen?“ Ist es natürlich nicht, solange hier keine geheimen Tauschhandel zu Lasten Dritter vereinbart werden. Netzwerke sind zunächst wertneutral. Ob sie mit positivem oder negativem Leben gefüllt werden, liegt an den Teilnehmern. Gleichzeitig ist es aber schwierig, von außen zu beobachten, welche Ziele ein Netz (tatsächlich) verfolgt, inwieweit sich alle Mitglieder mit diesem Ziel identifizieren und ob womöglich Korruption eine Rolle dabei spielt. Bereits im Jahr 1994 hat der damalige Chefredakteur des Magazins Wired, Kevin Kelly, die gesellschaftliche Revolution, die durch den Netzwerkgedanken nicht nur ins Internet getragen wird, mit dem Stichwort „Out of Control“ beschrieben: „Das Ende der Kontrolle“ lautet der Titel seines Buches auch hierzulande. Die ständige Beobachtung von Netzwerken wäre daher eine denkbare Lösung. Doch da steht der Datenschutz vor.

 

Beziehungen wandeln sich

Und so bekommt man selten Einblicke in das „Familienleben“ solcher Gemeinschaften, die sich in Politik und Wirtschaft hinter den Kulissen organisieren. Das Magazin „Focus“ berichtete im Jahr 2006 beispielsweise von regelmäßigen Reisen, die damalige Topmanager gemeinsam in die Dolomiten unternahmen. Auf einem Foto waren Wolfgang Reitzle (Linde), Jürgen Weber (Lufthansa), Klaus Zumwinkel (Deutsche Post), Ulrich Lehner (Henkel), Peter Hoch (Hypo-Vereinsbank), Thorelf Spickschen (BASF Pharma), Herbert Henzler (McKinsey), Jürgen Zech (Gerling) und Georg Kofler (Premiere) zu sehen. Ob der Begriff „Seilschaft“ für die prominente Bergsteigerformation doppeldeutig zu verstehen war, blieb offen. Netzwerke prägen immer auch unterschiedlich starke Loyalitäten aus. Für (Politik-)Manager ist der Aufbau eines solchen strategischen Bezugsrahmens ein ständiger Lernprozess. Dazu gehören auch Grenzerfahrungen und Enttäuschungen. Auch wenn das Leben kein Actionfilm ist, zeigt uns die US-amerikanische Thriller-Serie „24“, dass man stets auf der Hut sein muss: Die dort geschilderten geheimen Netzwerke von Geheimdiensten und Politik haben durchaus Ähnlichkeiten mit den entsprechenden Verbindungen im politischen oder wirtschaftlichen Bereich hierzulande. Traditionelle Bindungen nehmen ab, Beziehungen und Kooperationen verändern sich immer schneller. Loyalitäten und Wahrheiten gelten da schnell nicht mehr, man muss stets das Unmögliche für möglich halten, rasche Wendungen ertragen, Verräter enttarnen, mit dem Umschwenken von Einstellungen rechnen.
Der Nutzen des Netzes ist dabei nicht mehr so einfach zu bestimmen wie bei der technischen Variante. Egoismen, die eine Gruppe ausbildet, können sich schnell ändern und auch in Bereiche abgleiten, die nicht (mehr) legitim oder legal sind. Korruption kann das komplizierte Netzwerken vereinfachen, indem Loyalitäten mit unlauteren Mitteln hergestellt und Tauschprozesse initiiert werden, die es eigentlich nicht geben darf. So wird für die Beteiligten eine größere Überschaubarkeit – zumindest kurzfristig – erreicht. Der Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann bezeichnet das als „Reduzierung von Komplexität“. Vertrauen ist dabei die wichtigste Säule, wobei auch das zunächst wertfrei zu verstehen ist. Mit dem Begriff des Vertrauens verbinden wir meist etwas Positives, die damit verbundene Haltung ist aber auch grundlegend für kriminelle Beziehungen: Wie soll man ein Korruptionsnetzwerk geheim halten, wenn man sich nicht gegenseitig vertrauen kann? Vertrauliche Netzwerke sind nicht transparent, und sie halten Außenstehende so weit wie möglich von der Teilnahme ab. Hier „kippt“ das Netzwerk ins Negative: Das ist wie mit der Selbstbedienung – prinzipiell ist sie eine gute Sache, wenn sie aber verknüpft wird mit dem „Vergessen“ des Bezahlens, also mit Diebstahl, wird sie zur dramatischen Verfehlung. Wird dann noch die Allgemeinheit geschädigt, wie das bei der Selbstbedienungsmenta-lität von Politikern und Managern der Fall sein kann, werden Grundpfeiler unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ins Wanken gebracht. Kooperation ist wichtig für die Demokratie, Korruption schädigt ihre Wurzeln. Wer nicht mehr darauf vertrauen kann, dass wir uns an ein gemeinsames Werte- und Moralkorsett halten, wird schnell Kategorien des Faustrechts für sich entdecken.

„Korrupte Altparteien“?

Auf der politischen Bühne wird das durch radikale Parteien repräsentiert. Extremistische Bestrebungen sind zuweilen nichts anderes als die Übertragung archaischer Streit(un)kultur in die moderne Zeit. Das Recht des vermeintlich Stärkeren ohne Rücksichtnahme auf andere, die bedenkenlose Durchsetzung eines angeblichen Mehrheitswillens unter „Ausschaltung“ Andersdenkender macht extremistische Politik aus. Gerade deshalb ist es so perfide, wenn ausgerechnet Gruppierungen aus dem rechtsextremen Spektrum auf Stimmenfang gehen, indem sie den „Altparteien“ umfangreiche Korruption vorwerfen und vorgeben, diese bekämpfen zu wollen. Man sollte sich klarmachen, dass jegliche Korruptionshandlung die demokratischen Strukturen derart beschädigen kann, dass man diktatorisch orientierten Kräften den Weg bereitet!
Trotzdem bleibt Korruption allgegenwärtig, genauso wie das Missachten roter Ampeln. Man braucht sich nur zehn Minuten an eine belebte Straßenkreuzung zu stellen und wird immer jemanden finden, der keine Rücksicht auf das leuchtende Haltegebot nimmt. Genauso wird man in jeder öffentlichen Verwaltung bei genauerem Nachforschen immer jemanden finden, der sich nicht an die Gebote der Aufrichtigkeit hält. Gewinnstreben und Reduktion von Komplexität haben wir als Gründe dafür kennengelernt. Dahinter steht aber auch die Fortsetzung demokratisch notwendiger und legitimer Kooperation über ihre Grenzen hinweg: Wo man nicht mehr weiterkommt, wo Verhandlungen stocken oder gar nicht erst begonnen werden, wird nach Auswegen gesucht. Es geht darum, jemanden kontaktieren zu können, ihn ansprechbar zu machen. Der Begriff des Ansprechpartners kommt nicht von ungefähr. Nur wenn man einen Zugang zu Entscheiderkreisen hat, wird man die Möglichkeit zur Beeinflussung im eigenen Sinne haben. Wo sich Kreise nach außen hin abschotten, entfällt diese Möglichkeit.
Politiker, die nicht mehr auf Bürger hören und sie von „oben herab“ behandeln, tragen damit indirekt zur Ausbreitung der Korruption bei. Manager, die abgehobene Entscheidungen treffen und nicht mehr auf Stimmen aus dem Unternehmen hören, drohen ebenfalls nicht nur die eigene Bodenhaftung zu verlieren, sondern auch sich krakenartig ausbreitenden Schmiergeldbeziehungen das Feld zu bereiten. Wer keine menschlichen Zugänge zu Verhandlungssystemen mehr nutzen kann, wird sich ein geeignetes „Schmiermittel“ herbeiwünschen – und schon taucht die Idee der Korruption als mögliche Hilfe am Horizont auf. Transparenz und aufrichtige demokratische Tugenden sind deshalb die Grundpfeiler einer effektiven Vorbeugung gegen Korruption.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Überleben – Krisenkommunikation für Politiker. Das Heft können Sie hier bestellen.