Norma-Markt und Wahlkampfindex

15. August: Am Tierpark, ­Berlin‑Lichtenberg

Und wieder eine Tür. Klingeln, Lächeln aufsetzen, Flyer in die Hand nehmen. Aber wieder öffnet niemand. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles steht im 21. Stock eines Hochhauses in Berlin-Lichtenberg. Gemeinsam mit dem Direktkandidaten im Bezirk, Erik Gührs, macht sie Haustürwahlkampf in dem ehemaligen DDR-Plattenbau.
Es ist 18.40 Uhr und Nahles wird langsam unruhig. Gührs, Anfang dreißig, hohe Stirn, heller Stoffhut, bleibt gelassen und fragt, wie viele Türen bei einer solchen Tour in ihrem Wahlkreis in der Pfalz  aufgehen. „Viel mehr“, sagt die 43-Jährige mit betretener Miene. Im 19. Stock öffnet ein älterer Herr im Unterhemd die graue Wohnungstür. Er sei nur zu Besuch und habe nicht viel Zeit, weil es seiner Enkelin nicht gut gehe. „Es freut mich aber, Sie mal persönlich kennen zu lernen“, sagt der Mann und schüttelt der Generalsekretärin die Hand. Es ist 18.55 Uhr, als die Wahlkämpfer endlich den erhofften Satz hören: „Ja, ich wähle SPD.“
Die Genossen sind auf der Suche nach zehn Millionen Wählerstimmen – zehn Millionen, die bei der Bundestagswahl 1998 für die SPD gestimmt haben und die es 2009 nicht mehr taten. Wie ein Metalldetektor bei der Schatzsuche soll ihnen der Mobilisierungsindex dabei helfen, an den richtigen Haustüren zu klingeln. Das hört sich recht mathematisch an, ist es auch.

8. August: Willy-Brandt-Haus
Ausgehend vom Wahlergebnis von 2009 haben die Wahlkämpfer einen Koeffizienten berechnet, der aussagt, in welchen Stimmbezirken die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, einen ehemaligen SPD-Wähler anzutreffen. Das ist pauschal gesagt immer dort der Fall, wo die SPD 2009 zwar prozentual viele Stimmen bekam, aber nur wenige Menschen zur Wahl gingen, erklärt Jessika Wischmeier. Die Frau mit dem ansteckenden Lachen leitet den Bereich Mobilisierung in der Kampa. Es ist ein stressiger Tag im Willy-Brandt-Haus, morgens war Andrea Nahles schon im „Morgenmagazin“, nachmittags ist sie in Halle an der Saale, um den dortigen Direktkandidaten Karamba Diaby bei Hausbesuchen in einer Schrebergartensiedlung zu begleiten.

9. August: Berlin-Schöneberg
Salomon Reyes sitzt gegen Mittag an seinem Rechner und kümmert sich um die Organisation des Wahlwerbespots. Reyes ist das Piraten-Pendant zu Andrea Nahles. 8000 Euro darf der Spot kosten, mehr kann sich die klamme Partei nicht leisten. Von seinem WG-Zimmer aus managt Reyes für gewöhnlich den Wahlkampf der Freibeuter, ehrenamtlich, denn bei den Piraten arbeiten nur vier feste Mitarbeiter und der Wahlkampfkoordinator gehört nicht dazu.
Der 23-Jährige ist über seinen Mitbewohner zu den Piraten gekommen. Vorher hat sich der Maschinenbauabsolvent von der Politik nicht angesprochen gefühlt. Jetzt ist er mittendrin. Offiziell gewählt ist er als Wahlkampfmanager zwar nicht, aber irgendjemand müsse den Job ja machen, sagt Reyes, der sich momentan über „Zufälle“ finanziert. Letztens habe ihn ein Kumpel vom Dreh für einen „BiFi“-Werbespot erzählt, Reyes begleitete ihn und spielte gegen eine Gage mit.
Über seinem Bett hängt die Flagge der Dominikanischen Republik, sein Vater stammt von dort. Salomon ist ein entspannter Typ mit der Ausstrahlung eines Reggae-Musikers. Doch er kann sich auch fürchterlich aufregen.
Es geht um Gesche Joost, die Netz-Expertin im Kompetenzteam Steinbrück. Joost sagte in einem Interview, dass auf Twitter häufig die hochwertigeren Diskussionen stattfinden. Reyes lacht. „Eine hochwertige Diskussion in 140 Zeichen?“ Die Reaktion macht deutlich: Netzpolitik ist Piraten-Zone.
Zurzeit befinden sich die Piraten in der Post-Ponader-Periode. Die medialen Fehltritte des ehemaligen Bundesgeschäftsführers waren ganz sicher nicht gut für das Image der Partei, doch sie sorgten für eine regelmäßige Berichterstattung. Inzwischen ist es ruhig geworden, nun müssen die Piraten anders auf sich aufmerksam machen.


Darum setzt die Partei auf ungewöhnliche Aktionen mit einem „gewissen Boulevardeffekt“. In der NSA-Affäre etwa boten sie Whistleblower Edward Snowden die Piratenmitgliedschaft an. Außerdem empfingen Parteimitglieder symbolisch an mehreren Flughäfen einen imaginären Snowden.
Die Aktionen verpufften, anders als die Bootstour beim Wasserfest in Fürstenberg, bei der die jetzige Brandenburger Landesvorsitzende Anke Domscheidt-Berg im Piratenkostüm in einem Boot mit der Aufschrift NSA über die Havel schipperte und danach in den „Tagesthemen“ länger zu Wort kam. „Fernsehberichte sind für uns enorm wichtig, denn da müssen uns die Leute wahrnehmen“, sagt Reyes.
Doch der Coup mit der Bootstour ist eine Ausnahme. Am Wochenende des Bundesligaauftakts machte die Partei unter dem Slogan „Menschenrechte enden nicht vor dem Stadiontor“ mehrere Aktionen vor Fußballstadien. Nur die „taz“ und das „Neue Deutschland“ berichteten unmittelbar.

8. August: Willy-Brandt-Haus
Über zu wenig Medieninteresse kann Andrea Nahles nicht klagen. Die Generalsekretärin führt gern Journalisten durch die Räume der Kampa, hier kennt sie jeden mit Vornamen. Auf zwei Etagen im Nordflügel des Willy-Brandt-Hauses verteilen sich die 80 meist jungen Wahlkämpfer. Für sie gibt es sogar eine Bar, falls es abends mal wieder spät wird.
Um den Haustürwahlkampf zu stemmen, gibt es in jedem Wahlkreis einen Campaigner, der die Teams zusammenstellt. Vier Teams à zwei Personen pro Wahlkreis sollen reichen, um am Ende fünf Millionen Hausbesuche zu schaffen, so der Plan.


Schon in früheren Wahlkämpfen klingelten Direktkandidaten an den Haustüren. Neu ist die Idee, diese Aktionen bundesweit zu koordinieren. Außerdem gibt es nun auch Hausbesuche von Unterstützern ohne den jeweiligen Wahlkreiskandidaten. Abgeschaut haben sich die SPD-Wahlkampfstrategen das Konzept des Haustürwahlkampfs von der Obama-Kampagne 2012.
Eine Karte in der Kampa zeigt die 299 Wahlkreise, die grün ausschraffiert sind, doch es gibt auch einige wenige Kreise, die weiß geblieben sind. „Hier sind die Wahlkampfmanager zugleich auch Campaigner“, erklärt ein Mitarbeiter. Nahles daraufhin: „Macht das mal anders, das irritiert“.
Besonders stolz ist die Generalsekretärin auf die vier Dialog-Boxen, mobile begehbare rote Leuchttürme, knapp vier Meter hoch, mit Multimedia-Ausrüstung. Sie sollen zum Eye-Catcher auf den Marktplätzen der Republik werden. Um derart aufzufallen, gibt die SPD 50.000 Euro aus, pro Box. Man könnte meinen: Die SPD muss aufpassen, dass sie vor lauter Dialog den politischen Gegner nicht aus den Augen verliert.
In finanzieller Hinsicht könnten die Unterschiede zwischen der SPD und den Piraten kaum größer sein. Die SPD hat ein Budget von 23 Millionen Euro, die Piraten geben gerade mal 600.000 Euro für den Wahlkampf aus. Statt teurer Dialog-Boxen aus Beton gibt es billig produzierte Einkaufschips aus Plastik.
Doch Piraten und SPD eint die Situation, nahezu betonartig im Umfragetief festzustecken. Beide Parteien haben bis zum Wahltag noch ein gewaltiges Stück Arbeit vor sich. Sie sind auf der Suche nach dem Erfolgskoeffizienten, die Sozialdemokraten gehen dabei mathematisch vor, die Piraten organisch, möchte man meinen.

12. August: Franz-Jacob-Straße,
Berlin-Lichtenberg

Letztere haben in einem früheren Norma-Markt in Berlin-Lichtenberg ihr Wahlkampflager aufgeschlagen, dort sind die Mieten noch günstig.
Im Eingangsbereich, wo früher die Einkaufswagen standen, gibt es nun einen provisorischen Pressebereich mit einer dunkelblauen Stoffcouch, ein paar Tischen und einer Palme.
Montagabend sitzen dort fünf Mitglieder und diskutieren über Suchtpolitik. Die Piraten fordern in ihrem Wahlprogramm die Legalisierung von Cannabis. „Damit könnte man glatt vier Milliarden Euro bei der Strafverfolgung einsparen“, argumentiert Heide Hagen.
Die Frau mit den gelockten dunkelblonden Haaren passt auf den ersten Blick eher zu den Grünen; dort hat sie sich auch lange engagiert, bevor sie sich wegen des Kosovo-Krieges enttäuscht von ihnen abwandte. Ihr Gespräch wird ab und an vom Surren einer Automatik-Tür unterbrochen, die sich immer wieder aufschiebt, obwohl sie von einem Rucksack blockiert wird.
Das Geräusch nervt die Beteiligten, denn die Diskussion wird aufgenommen und danach als Podcast online gestellt. „Das Ganze ist eine Art digitale Bürgersprechstunde“, erklärt Martin Delius, Mitglied des Abgeordnetenhauses, der mit einer Flasche Club-Mate in der Hand etwas verloren in der 100 Quadratmeter großen Halle steht. Dort lagern vor allem Wahlkampfmaterialien, außerdem gibt es eine Bühne für Pressekonferenzen und natürlich eine Bar.


Vor kurzem haben Piratenmitglieder in dieser Halle den Kinospot der Partei gedreht. Als Schauplatz war eigentlich der Bundestag eingeplant, doch die Verantwortlichen versäumten es, dafür eine Drehgenehmigung einzuholen. Salomon Reyes lacht. Er hat solche Organisationspannen schon oft erlebt. Dafür stehe die Planung für den Fernsehspot nun. Der Beitrag heißt „Es ist zum Heulen“ und vermittle im Gegensatz zum Heile-Welt-Spot der CDU die Botschaft, dass es Deutschland nicht gut gehe.
Reyes arbeitet nur selten von der Wahlkampfzentrale aus. Er hat keinen vernünftigen Arbeitsplatz. Das einzige Festnetztelefon ist eingestaubt. Wann er das letzte Mal mit dem Parteivorsitzenden Bernd Schlömer gesprochen habe? Ende Juli seien sie zusammen von einer Demo in Stralsund mit der Regionalbahn zurück nach Berlin gefahren, da hatte man Zeit, sich auszutauschen, erzählt Reyes. Die wichtigen Kennzahlen hat der 23-Jährige ohnehin im Kopf.
Die Kampagne zielt vor allem auf die Wählerschaft zwischen 18 und 39 Jahren. Eineinhalb bis zwei Millionen Wähler müssen die Piraten erreichen, damit es für die Fünf-Prozent-Hürde reicht, und bei der Bayernwahl entscheide sich das Schicksal der Partei. „Wenn wir dort nicht mindestens 3,5 Prozent holen, schaffen wir den Sprung in den Bundestag nicht“, sagt Reyes.
Er hofft auf einen Mobilisierungseffekt durch die Plakate. Die frechen Sprüche hätten schon bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2011 den entscheidenden Swing gebracht. Eine Wahlkampfagentur haben die Piraten nicht, die Plakat-Sprüche entstanden, als Reyes und ein paar Anhänger mehrere schlechte Slogans posteten und daraufhin kreative Vorschläge zurück kamen. So funktioniert die Piraten-Community.

8. August: Willy-Brandt-Haus
In der Abteilung Direktkommunikation wird Andrea Nahles auf einmal ganz leise. Hier gehen die Bürgeranfragen ein, erklärt sie. Der Abteilungsleiter gibt in der Morgenlage eine Rückmeldung, welche Themen den Leuten auf der Seele liegen. Eine Erkenntnis: Das Wahlprogramm in einfacher Sprache (27 Seiten), das sich vorrangig an Migranten richtet, läuft besser als das normale Programm.
Auch die Wahlkampfagentur Super J+K hat einen eigenen Bereich in der Kampa. Heiko Kretschmer hat für die Anti-Merkel-Plakate (siehe Seite 14) medial viel Kritik einstecken müssen. Der Agenturchef sagt, dass genau das beabsichtigt war. „Die SPD will mit den Plakaten signalisieren, dass sich die Partei im Angriffsmodus befindet“.
In der zweiten Plakatwelle, die ab dem 23. August gefahren wird, werde der Kanzlerkandidat und seine Wirtschafts- und Finanzkompetenz eine viel stärkere Rolle einnehmen. Die Plakatreihe mit Merkel komme laut Kretschmer lokal zum Einsatz, jeder Wahlkämpfer entscheide persönlich, wo er diese Plakate zur Mobilisierung der eigenen Anhänger nutzen will. Eine Hauptzielgruppe für die restlichen Wochen sind politikferne Schichten. „Die SPD wird dieses Mal auch Wahlwerbespots im Privatfernsehen schalten.“
Dann geht die Tour durchs Haus weiter. Nur die Abteilung des Kanzlerkandidaten ist gerade nicht besetzt. Inzwischen betont Andrea Nahles fast bei jeder Gelegenheit, wie eng sie mit Heiko Geue, dem Kampagnenleiter von Peer Steinbrück, zusammenarbeitet.
Im Newsdesk, so nennt man die Onlineredaktion, freut man sich darüber, aufgedeckt zu haben, dass der CDU-Spot „Ein neuer Tag“ in Teilen von einem Wahlkampfspot Ronald Rea-
gans aus den achtziger Jahren abgekupfert wurde. Das Enttarnungsvideo ist schon auf dem „Schwarzgelblog“ zu sehen. Dass damit kaum Wählerstimmen zu gewinnen sind, interessiert im Newsdesk kaum jemanden. Die SPD-Sympathisanten seien ja ebenfalls eine wichtige Zielgruppe.

15. August: Am Tierpark, Berlin-Lichtenberg
Schluss im Lichtenberger Hochhaus: Die Bilanz ist ernüchternd. In einer Stunde Haustürwahlkampf haben sich für Andrea Nahles und Erik Gührs nur zwölf Türen geöffnet. Bevor es für die Generalsekretärin weitergeht zu einem Sommerfest, wird sie zum Gruppenbild mit den örtlichen Jusos gebeten. Etliche Anwohner beobachten die Gute-Laune-Szene, sie sitzen nur wenige Meter entfernt auf einer Bank. Der SPD-Tross zieht weiter, ohne das Gespräch mit ihnen zu suchen. Bürgerkontakt gibt es offensichtlich nur an der Haustür.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Die Wahl ist noch nicht gelaufen. Das Heft können Sie hier bestellen.