Manege frei

So, jetzt den Herren im karierten Hemd bitte“, sagt Angela Merkel und weist mit dem Zeigefinger dem Mikrofonträger den Weg in die hinterste Reihe. Eine gute halbe Stunde hat die Kanzlerin nun schon in der altehrwürdigen Heidelberger Stadthalle zugehört, was die Bürger zu sagen haben. In der Mitte des Saals liegt ein langgezogener grauer Teppich, auf dem die drei Schlagworte gedruckt sind, um die es an diesem Abend gehen soll: Lernen, Internet, Gemeinschaft. Merkel, die für den Auftritt einen knallgrünen Blazer trägt, steht noch am Anfang der Wortkette. Eigentlich wollte die Regierungschefin lieber über den Wert des Lernens an sich reden, weniger über Schulreformen oder die Lehrerausbildung, denn das sei ja alles Ländersache. Doch diesen Gefallen tun ihr die Bürger nicht. Rainer Frisch, der Mann im blau-weiß karierten Holzfällerhemd, ist Jugend- und Heimerzieher und Anti-Aggressionstrainer. „Die Lehrer wissen heute einfach nicht mehr, wie man mit schwierigen Kindern umgeht“, trägt der 39-Jährige vor. Seiner Meinung nach müsste die Lehrerausbildung dringend reformiert werden, damit die Schulabbrecherquote sinkt. Merkel nickt verständnisvoll, will es sich aber gleichzeitig nicht mit den Lehrern verscherzen. Sie antwortet diplomatisch. Die Lehrer hätten einen schwierigen Job, sagt Merkel und schiebt nach: „Es geht nur mit ständiger Weiterqualifizierung.“ Der Nächste bitte.
Der Zukunftsdialog der Kanzlerin und das große Medienecho lenken das öffentliche Interesse auf eine recht junge Form politischer Teilhabe, die E-Partizipation. Das Prinzip klingt verlockend: Warum sich nicht das Internet zunutze machen, um die Bürger am politischen Entscheidungsprozess teilhaben zu lassen. Die derzeit so erfolgreichen Piraten praktizieren das schon lange.

Am Ende steht die Blackbox

Merkel versucht zur Premiere gleich beides: Bürgerbeteiligung on- und offline. Vorbild für die Bürgergespräche, wie sie die Kanzlerin auch in Erfurt und zuletzt in Bielefeld führte, sind US-amerikanische Townhall-Meetings. Doch während es beim Original darum geht, im direkten Bürger-Gespräch den Politikern einen Einblick in den Seelenzustand des Volkes zu geben, will die deutsche Kopie mehr. Die Bürger sollen die Zukunft des Landes mitbestimmen können, verspricht der Kanzlerdialog vollmundig. Wer nicht zu den jeweils 100 Gästen vor Ort zählte, die von Tageszeitungen und Vereinen ausgewählt wurden, konnte bis zum 15. April im Internet mitmachen. Gut 11.600 Vorschläge wurden seit Februar abgegeben. Mit den Einreichern der zehn Vorschläge, die im Netz die meisten Stimmen bekommen haben, will sich Merkel im Herbst persönlich treffen. Gleichzeitig kürt ein von der Kanzlerin zusammengestelltes Expertengremium ebenfalls noch einmal eine Top-Ten-Liste. Warum diese Zweigleisigkeit?
„Die Experten sollen als Korrektiv zum Mehrheitsvotum wirken“, erklärt Ulrich Strempel. Der 57-Jährige leitet seit Januar die neu gegründete Gruppe Internet im Bundespresseamt (BPA). Der Beamte sieht den Zukunftsdialog als Teil der
Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. Es ist ein Novum, für das jedoch kaum geworben werden musste. Das Plakat vor dem Bundespresseamt ist ein Einzelstück. Das große Medieninteresse erübrigte weitere Werbung, sagt Strempel. Billig war das Mitmach-Programm trotzdem nicht, 600.000 Euro verschlang allein der Online-Part. Inzwischen ist die Vorschlags-Phase beendet. Wie es aussieht, wird sich Merkel intensiver mit dem Völkermord an den Armeniern beschäftigen müssen. Der Appell, Deutschland möge wie Frankreich das Leugnen der Gräueltaten an dieser Bevökerungsgruppe generell unter Strafe stellen, bekam die meisten Stimmen. Auf Platz 2 gelangte die Forderung, Cannabis zu legalisieren, der Merkel bereits im vergangenen Jahr auf Youtube eine Absage erteilte, wo sie ebenfalls User-Fragen beantwortete. Im Internet mehren sich bereits Zweifel an der Aussagekraft der Zahlen. So hatte es sich schnell herumgesprochen, dass man mit ein paar Tricks beliebig oft auf der Webseite abstimmen konnte. Die Redaktion im Bundespresseamt wollte die Mitmach-Hürde bewusst niedrig halten, um möglichst viele Teilnehmer anzulocken.
Im umfunktionierten Schulungsraum hatten die Redaktionsmitglieder, darunter Mitarbeiter der Digital-Agentur Aperto, tagtäglich zu entscheiden, welche Bürgervorschläge und Kommentare den Verhaltenskodex verletzen. Beleidigungen waren tabu, außerdem sollten die Beiträge zum Thema passen. Einmal freigegeben, wurde an den Texten nichts geändert, betont Nadine Wiechatzek, Leiterin des Teams. Ihre Arbeit ist mittlerweile beendet, die Vorschlagsfrist ist abgelaufen.
Und nun? Der Zeitstrahl auf der Internetseite endet mit Merkels Top-Ten-Treffen im September 2012. In der Zwischenzeit erscheint noch ein Buch, herausgegeben von der Kanzlerin, in dem der freie Journalist Christoph Schlegel hinter die Dialog-Kulissen blickt. Ob und in welcher Form die Bürger-Vorschläge von der Kanzlerin aufgegriffen werden, weiß wohl nur sie selbst. Im Presseamt stört das niemanden.

Enttäuschte Experten  

Es ist genau diese Unverbindlichkeit, die Partizipationsexperten am Zukunftsdialog scharf kritisieren. Der Organisationspsychologe Matthias Trénel hat sich mit seiner 15 Mitarbeiter starken Agentur Zebralog auf Online-Partizipation spezialisiert. Als die Firma vor mehr als zehn Jahren mit dem ehrgeizigen Ziel an den Start ging, die Gespräche zwischen Bürgern und Politikern zu optimieren, war das noch Pionierarbeit. Dass jetzt auch die Kanzlerin dieses Feld für sich entdeckt hat, stimmte Trénel zunächst optimistisch. „Derartige Prominenz garantiert ein großes Publikum.“ Inzwischen ist der 40-Jährige der Ansicht, dass der Zukunftsdialog der E-Partizipation eher schade. „Das Ganze wirkt eher wie eine Alibiveranstaltung“, sagt er enttäuscht. Es gehe offensichtlich darum, irgendwie mit Bürgern ins Gespräch zu kommen, nicht aber um eine Beteiligung an konkreten Entscheidungsvorhaben.
Trénel treibt gerade dieses Thema um. Er selbst befürwortet ein Anhörungsrecht der Bürger bei Gesetzesentwürfen, nach dem Vorbild der Petitionen. Bereits zweimal, 2007 und 2010, hat der Psychologe das Online-Petitionsverfahren des Deutschen Bundestages evaluiert. Trotz anfänglicher Probleme bei der Benutzerfreundlichkeit sind die E-Petitionen für ihn eine Erfolgsgeschichte. Und in der Tat hat das traditionelle Beteiligungs-Instrument einen echten Aufschwung erlebt. Seit 2005 können die Deutschen ihre Beschwerden auch online einreichen. Quasi über Nacht waren die Eingaben der Bürger im Netz für alle sichtbar. Jüngstes Beispiel: Mitte März erreichte die Petition gegen das umstrittene Urheberrechtsabkommen „Acta“ die erforderliche Unterstützerzahl von 50.000 Unterschriften. Nun muss sich der Bundestag damit beschäftigen.
Zu Trénels Kunden gehören auch Bundesministerien. Doch die meisten Mitmach-Versuche auf Bundesebene sind kaum bekannt, womöglich weil viele der Angebote zu schlecht durchdacht wurden. Vergangenes Jahr startete etwa Forschungsministerin Annette Schavan (CDU) den Bürgerdialog Hightech-Medizin. Die Internetnutzer waren zwischen März und Dezember 2011 dazu aufgerufen, der Ministerin Empfehlungen für die Gesundheitspolitik abzugeben. Doch leider beteiligte sich niemand so recht: Bis zum Ende gingen lediglich 50 Bürger-Vorschläge ein. Schavan wurde trotzdem ein 50 Seiten dicker Bürgerreport übergeben. Und was passiert mit dem Pamphlet? „Das Bundesministerium prüft die Vorschläge hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit“, lautet die Antwort aus der Pressestelle. Im Weiteren verweist man lieber auf Folgeprojekte.
Auf kommunaler Ebene bahnt sich hingegen eine kleine Revolution von unten an. In gut 94 Kommunen werden mittlerweile Bürgerhaushalte organisiert oder sind zumindest angedacht. Sie alle eint der Ansatz, die Bürger an der Entscheidung, wofür in der Gemeinde Geld ausgegeben wird, zu beteiligen. Auch Zebralog hat schon Gemeinden bei der Umsetzung des Mitmach-Haushalts unterstützt. Matthias Trénel erinnert sich noch ganz gut daran, wie er so manchen verzweifelten Verwaltungsmitarbeiter wieder aufbauen musste, weil deren sorgsam ausgearbeiteten Vorschläge von der Netzgemeinde zerrissen wurden. Es ist ein beidseitiger Lernprozess, resümiert der Sozialwissenschaftler. Auch die Bürger müssten verstehen, dass nicht alles, was sie vorschlagen, gleich umgesetzt werde oder gar gerecht sei.

Vorbild Bürgerhaushalt

Im Berliner Bezirk Lichtenberg wird der Bürgerhaushalt schon seit sieben Jahren praktiziert. Mitreden können die Lichtenberger bei den sogenannten flexiblen Ausgaben, die noch nicht fest verplant sind: Jedes Jahr sind das rund 32 Millionen Euro. Per Internet, Brief oder in Stadtteilkonferenzen machen die Bürger zunächst ihre Vorschläge. Dann folgen verschiedene Bewertungsphasen, in denen Punkte verteilt werden. Die zehn Vorschläge mit der größten Zustimmung gelangen am Ende in die Stadtverordneten-Versammlung, dort wird abschließend entschieden. Dass die Politiker das letzte Wort haben, ist gesetzlich vorgeschrieben, sagt Christina Emmrich (Die Linke), die bis November 2011 Bezirksbürgermeisterin war. Sie führte den Bürgerhaushalt in Lichtenberg ein. Die Frau mit den kurzen rot gefärbten Haaren plädiert dafür, dass die Politik den Bürgern gesetzlich mehr Mitspracherecht garantiere. Sie habe jedenfalls fast nur positive Erfahrungen gemacht, was die Qualität der Vorschläge betrifft. In Lichtenberg würden 92 bis 95 Prozent der Bürgervorschläge auch tatsächlich umgesetzt. Inzwischen ist Emmrich sogar eine gefragte Expertin auf dem Gebiet. Sie war schon in Barcelona, Köln und Worms, um dort mit Kommunalpolitikern Erfahrungen auszutauschen.
Seit ein paar Monaten sitzt ein SPD-Mann auf dem Bürgermeister-Stuhl. Auch er will den Bürgerhaushalt weiterführen, allerdings in überarbeiteter Form – dafür entwirft ein Gremium gerade Vorschläge. Einer davon ist, die Bürger künftig nur noch online abstimmen zu lassen. Bisher kommt nur ein Drittel der Vorschläge aus dem Internet, der Rest erreicht das Lichtenberger Rathaus auf herkömmlichen Weg. Emmrich glaubt daher nicht, dass der Vorschlag realisiert wird. Dafür sei die digitale Spaltung der Gesellschaft zu groß, meint die jetzige Bezirksstadträtin für Jugend und Gesundheit. Sozialstudien belegen: Ob jemand das Internet auch politisch nutzt, hängt vor allem vom Bildungsgrad ab. Es ist gerade dieses Argument, das Skeptiker immer wieder anführen.
Michael Efler ist einer der Vorstandssprecher des Vereins „Mehr Demokratie“, deren Mitglieder, so Efler, „nicht so alt sind wie die Linken, aber auch nicht so jung sind wie die Piraten“. Seiner Ansicht nach wolle Merkel einfach nur auf der Partizipationswelle mitschwimmen. „Das ist spätestens seit Stuttgart-21 en vogue“, so der 42-jährige Norddeutsche. Für ihn sind die Proteste im Ländle Sinnbild für die Entfremdung zwischen Bürger und Politikern. Daran könnten auch Onlinedialoge nichts ändern – wegen ihrer fehlenden Durchschlagskraft . Der Verein „Mehr Demokratie“ setzt sich seit mehr als 20 Jahren für Volksentscheide und Bürgerbegehren auch auf Bundesebene ein. Die Chancen dafür stehen schlecht. Vor allem die Union sperrt sich bislang, zu groß ist die Angst vieler Konservativer, die Fehler der Weimarer Republik zu wiederholen.

Wie geht es besser?

Der Trierer Politikwissenschaftler Markus Linden hat einen anderen Vorschlag, die Demokratie wieder in Schwung zu bringen: maximale Transparenz. Was das heißt, erörterte der Demokratie-Theoretiker der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, zu der er als Sachverständiger im März geladen war. „Ich schlage vor, alle relevanten Sitzungen öffentlich zu übertragen, auch die des Vermittlungsausschusses“, sagt er dort in seinem Eingangsstatement. Ex-Justizministerin Brigitte Zypries (SPD), die ebenfalls im Saal ist, lacht nur amüsiert und schüttelt den Kopf. Linden beschäftigt sich seit langem mit der Frage, wie ein größerer Einfluss der Bürger auf die Politik ermöglicht werden kann. Was ihn stört, ist, dass Bürgerdialoge bisher eher von der Exekutive angeboten würden: „Damit umgeht man das Parlament“. Linden sieht das Internet eher als Transparenz-, denn als Entscheidungsmedium. Zum Schluss gibt er der Politik noch einen Tipp: „Man muss klarmachen, dass es bei den Dialogen um konsultative Verfahren handelt, wo es nichts zu entscheiden gibt.“ Kurzum:
Ein bisschen mehr Ehrlichkeit, bitte.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Alles Fake – Wenn Bürgerdialog nur PR ist. Das Heft können Sie hier bestellen.