Liquid Lobbying

Die Vorstellung der neuen Version von Liquid Feedback lenkt den Blick auf eine aktuelle Veränderung im politischen und gesellschaftlichen Gefüge. Politische Mitbestimmung wird zur Allzweckwaffe gegen den – oft als Politikverdrossenheit bezeichneten – Vertrauensverlust in die politischen und wirtschaftlichen Eliten stilisiert. Allerorts entstehen digitale Partizipationsplattformen wie die Liquid Feedback-Software der Piratenpartei zur innerparteilichen Meinungsbildung. Aber was bedeutet diese Entwicklung für den Prozess der politischen Meinungsbildung? Ist sie zielführend? Und: Wie müssen Politik und Unternehmen reagieren, wenn politische Entscheidungen verstärkt durch öffentlichen Diskurs beeinflusst werden?
Letztlich manifestiert sich in den neuen Beteiligungsplattformen eine Entwicklung, die bereits seit einigen Jahren zu beobachten ist. Politiker und Wirtschaftvertreter haben gleichermaßen mit einem massiven Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen. Beiden wird in vielen Fällen nicht mehr zugetraut, die richtigen Entscheidungen für das Gemeinwohl zu treffen. Dabei steht vor allem Lobbying und damit die Interessensvertretung der Wirtschaft gegenüber der Politik stark in der Kritik. Die Politik orientiere sich bei ihren Entscheidungen zu häufig an Partikularinteressen. Immer öfter formiert sich darum breiter öffentlicher Widerstand. Die Öffentlichkeit wird zu einem potenziellen Veto-Spieler, der sich unter anderem in den neuen Sozialen Medien lautstark in die politischen Entscheidungsprozesse einbringt.
Dabei gilt: Die Öffentlichkeit nimmt leichter und schneller eine ablehnende Haltung gegen ein politisches oder wirtschaftliches Vorhaben ein, als dass sie eine Idee positiv unterstützt. Und bei fast jedem Projekt kann breiter öffentlicher Widerstand entstehen, der dessen Umsetzung behindert. Zwar ist das Eskalationspotenzial umso höher, je stärker der Bezug zum Alltag der Menschen wird. Letztlich ist jedoch fast jeder als Steuerzahler, Mitarbeiter oder Anwohner zumindest mittelbar betroffen. Zudem ist bei komplexeren Themen zwar deutlich seltener mit breitem Widerstand zu rechnen, doch durch eine verzerrte Verkürzung auf wenige ausgewählte Punkte lassen sich auch solche Themen polarisieren.

Blackbox Gemeinwohl

Während nun allerorts Bürger ihre Forderungen lautstark artikulieren, ist das Wort „Bürgerbeteiligung“ in aller Munde. Der Erfolg der Piratenpartei und ihrer Software Liquid Feedback war dafür nicht der einzige Grund, aber er hat diese Entwicklung noch einmal erheblich beschleunigt. Beteiligung ist „in“. Weit auseinander liegen aber die Vorstellungen darüber, in welchem Umfang und mit welchen Konsequenzen die Öffentlichkeit mitsprechen kann und soll. Die Piraten haben mit Liquid Feedback eine Software eingeführt, in der jedes Parteimitglied Anträge einreichen und über sie abstimmen kann: den Rund-um-die-Uhr-Parteitag sozusagen. Auch wenn die dabei getroffenen Beschlüsse die Parteiführung nicht binden, so kann sie diese auf Dauer doch nicht ignorieren. Obwohl Liquid Feedback und andere Plattformen heute aufgrund ihrer vielfältigen technischen, strukturellen und datenschutzrechtlichen Probleme kritisiert werden, werden solche Beteiligungsformate die Politik in den kommenden Jahren immer stärker prägen. Der Bürger-Dialog der SPD und die neue Mitgliederbefragung der CDU unterstreichen dies. Die neuen Partizipationsmöglichkeiten haben Erwartungen geweckt, die die Politik nicht mehr enttäuschen kann. Der Erfolg der Piraten zwingt alle Parteien, eigene Formen der Mitglieder- und Bürgerbeteiligung zu entwickeln.
Das hat auch Auswirkungen auf die Kompromissfindung im parlamentarischen Prozess. Existiert keine mit der Basis abgestimmte Position, können die Repräsentanten im Parlament nicht handeln, ohne sich dem Unmut der Mitglieder auszusetzen. Aber auch eine gemeinsame Haltung durch Liquid Feedback bindet die Vertreter der Partei. Rücken sie von dem innerparteilichen Kompromiss ab, müssen sie sich rechtfertigen und die Argumente intensiv kommunizieren.
Viele derer, die Mitsprache verlangen, erhoffen sich davon, dass ihre Anliegen mehr Gewicht bekommen. Dabei verkleiden sie ihre Interessen nicht selten als Gemeinwohl. Minderheiten werden damit in der öffentlichen Wahrnehmung häufig zu scheinbaren Mehrheiten. Bei all den Forderungen nach Beteiligung schwingt jedoch auch die Vorstellung mit, dass direktdemokratische Prozesse die Vertretung einzelner Interessen („Lobbyismus“) erschweren und damit Entscheidungen eher zum Wohl der Allgemeinheit getroffen werden.
Doch Gemeinwohl kann eben nicht durch eine umfassende Bürgerbeteiligung identifiziert werden. In einer pluralistischen Gesellschaft ist es an der Politik, die unterschiedlichen Einzelinteressen gegen- und miteinander abzuwägen. Auch mehr Beteiligungsangebote werden politische Entscheidungsträger aus dieser Verantwortung nicht entlassen. Das Vertrauensdefizit der Eliten in diesem Land muss also anderweitig angegangen werden.
Unternehmen können dabei Akzeptanz für ihre Anliegen schaffen, wenn sie ihre gesellschaftliche Relevanz stärker kenntlich machen, ihre Interessen transparenter darstellen und umfangreicher kommunizieren. Damit Lobbying als legitime Interessenvertretung anerkannt wird, muss die Wirtschaft verdeutlichen, dass sie Teil der Gesellschaft ist. Wenn sie aufzeigt, dass sie zu ihrer Verantwortung steht, die sie gegenüber Mensch und Umwelt hat, werden ihre Anliegen nicht als egoistische Partikularinteressen verstanden. Diese gesellschaftliche Relevanz zu erklären, muss Aufgabe der führenden Wirtschaftsverbände sein, aber auch der einzelnen Unternehmen und ihrer Vertreter. Darüber hinaus müssen Unternehmen stärker als bisher für ihre Vorhaben werben und dabei ihre Interessen offenlegen. Verlangt eine interessierte Öffentlichkeit wachsenden Einfluss im politischen Entscheidungsprozess, kann sie die Gründe einer Entscheidung nur verstehen, wenn sie die Argumente kennt. Diese können von den Unternehmen beispielsweise auf ihrer Website in Form von Stellungnahmen und Factsheets veröffentlicht werden. Zielgerichteter ist aber meist der direkte Austausch mit den Anspruchsgruppen, etwa über extra dafür geschaffene Veranstaltungen oder aber über Online-Kanäle. In jedem Fall kann aber nur dadurch die sogenannte Schweigespirale durchbrochen werden, in der sich Minderheiten als Mehrheiten stilisieren. Dies verlangt aber nach struktureller Transparenz im gesamten Prozess der Interessensvertretung. Ein verbindliches Register für Interessenvertreter kann einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass die Lobbybemühungen aller Akteure nachvollziehbar werden.

Gründe statt Pfründe

In jedem Fall kommt der Unternehmenskommunikation vor diesem Hintergrund eine zunehmend größere Bedeutung zu. Sie trägt mehr und mehr zur Wertschöpfung und zum Erfolg der Geschäftstätigkeit bei. Dabei geht es auch darum, die öffentliche Meinung zu beobachten und wichtige gesellschaftliche Trends zu antizipieren. Wer frühzeitig die Erwartungen der Öffentlichkeit erkennt und auf diese reagiert, gewinnt Handlungsspielräume aber auch Glaubwürdigkeit und Vertrauen.
Die Politik steht vor ähnlichen Herausforderungen. Auch sie muss deutlich intensiver kommunizieren und den Entscheidungsfindungsprozess transparenter gestalten. Dazu gehört unter anderem, dass sie auf die in den Beteiligungsplattformen geäußerten Forderungen antwortet. Die Aufgabe ist es dabei, im Nachgang von getroffenen Entscheidungen zu erklären, welche unterschiedlichen Bedürfnisse dabei gegeneinander abgewogen wurden und aus welchen Gründen der Entschluss in dieser Form gefasst wurde.
Der Trend der verstärkten Bürgerbeteiligung verändert die Art und Weise, wie politische Entscheidungen getroffen werden und stellt Unternehmen und Politik vor neue Herausforderungen. Damit Liquid Feedback und andere Beteiligungsformate dazu beitragen können, Politikverdrossenheit und die Glaubwürdigkeitskrise der Eliten zu beheben, stehen alle Beteiligten in der Verantwortung.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Wir wollen rein – Bundestag 2013. Das Heft können Sie hier bestellen.