"Keiner kann es alleine. Sie brauchen Mitstreiter."

Interview mit Rita Süssmuth

Frau Süssmuth, für eine CDU Politikerin haben Sie untypische Themenschwerpunkte. Weshalb sind Sie damals eigentlich in die CDU eingetreten?

Ich komme aus einer christdemokratischen Familie, sicherlich spielt auch der Einfluss dort eine Rolle. Und wenn Sie so wollen, hatte ich den Eindruck, dass es in der CDU zum damaligen Zeitpunkt am meisten zu tun gab. Ich bin vielleicht kein guter Parteisoldat, da mir immer die Sache das Wichtigste ist. Aber jeder hat auch seine Zugehörigkeiten.

Haben Sie jemals an einen Parteiaustritt gedacht?

Nachgedacht schon, aber nicht wirklich in dem Sinne, dass ich es auch vollzogen hätte. Ich hatte mit erheblichen Widerständen zu tun und eine schlechte Prognose als Politikerin: “Keine Erfahrung, in einem halben Jahr ist sie wieder weg.” Da kam in mir so was auf wie: Warum denn das schon so schnell? Und ich betone hier gerne: Keiner kann es alleine. Sie brauchen Mitstreiter. Manchmal sind es nur wenige, und dann wieder mehr. Aber dieser Gedanke, es doch zu schaffen, der beflügelte mich. Genauso wie die Überzeugung: “Das wollen wir doch mal sehen”, wenn mir gesagt wurde: “Das kommt nicht in Frage, schlagen Sie es sich aus dem Kopf.” Das hat mir geholfen, durchzuhalten. Ich habe mich oft auf der Verliererstraße bewegt, aber da wollte ich nie bleiben.

Sie sprachen gerade über Mitstreiter, Heiner Geißler war einer Ihrer Engsten. Wen sehen Sie heute von seinem Format in der Union?

Ich hoffe, dass da noch immer viele sind. Sie waren eine Zeit lang sehr stumm, zurückhaltend. Aber es gibt sie, in jeder Generation. Und ich finde, wir hätten als Politiker allen Grund, das Nachwirken von Heiner Geißler aktiv zu fördern. Ich teile nicht alle seine Verhaltensweisen, er war mutig und vorwärtsgewandt, kannte Widerstände und Gegenoffensiven, aber blieb bei seinen Haltungen für Menschen. Im Augenblick scheint er vergessen, aber er wird wiederkommen und auch Generationen nach ihm werden ihm nacheifern.

Das merke ich auch gerade an der jungen Generation, wo viele fragen, ob wir die Dinge nicht auch anders angehen können, die vielleicht manchmal weniger aggressiv sind als Heiner Geißler, aber auch sie wollen Veränderungen bewirken. Für mich war er eine zentrale Orientierung, eine Leitperson, die mir immer auch wieder nah gebracht hat: “Heute gescheitert, morgen wieder anfangen.” Insofern gehören solche Personen zur CDU, auch sie brauchen Macht, Veränderungstalent und Durchsetzungskraft.

Helmut Kohl war ein früher Förderer von Ihnen, gleichwohl war es wohl keine Herzensangelegenheit von ihm, eine Frauenministerin zu haben …

Nein, vor allem keine so Hartnäckige. Er war ein Gegner der Quote. Doch er wusste um die vielen Probleme der Frauen in Kirche und Gesellschaft. Ich bin ja mit der Quote zweimal durchgefallen. Beim dritten Mal hatte er sich dann persönlich eingesetzt. Er hatte wohl die Sorge, wer uns noch wählen würde, wenn wir die Quote ein drittes Mal ablehnen würden. Er war pragmatisch, hatte aber auch seine festen Überzeugungen.

Und bei dem Thema Frauen hatte er den Weitblick.

Er hatte Weitblick, aber sein Vorbild war seine eigene Mutter und nicht die Quote. Später sah er auch ein, dass wir Veränderung brauchen, und hat sich entsprechend für die Quote eingesetzt. Er war nicht Frauenanwalt, er war kein Feminist, aber er hat mir immer wieder gesagt: Arbeiten Sie weiter. Am liebsten hätte er es gehabt, dass niemand gemerkt hätte, dass ich überhaupt da bin, und wir hätten trotzdem diese Erfolge gehabt.

War er es eigentlich, der sie in die Politik geholt hat?

Heiner Geißler hatte mich vorgeschlagen, aber Helmut Kohl traf seine Urteile letztlich selbst. Es ist ja keine Frage, dass Helmut Kohl Heiner Geißler jahrelang gefördert hat. Da sind zwei starke Menschen zusammengekommen. Helmut Kohl hatte eine Hand dafür. Nehmen Sie Kurt Biedenkopf, den von mir sehr geschätzten Umweltminister Klaus Töpfer, er hat solche Persönlichkeiten wirken lassen. Das ist nachdrücklich wertzuschätzen. Er hätte ja auch sagen können, dass er der einzig stabilisierende und vertrauensstiftende Politiker sei. Oder nehmen Sie Norbert Blüm. Das sind alles auch Individuen mit einem eigenen Gesicht und einem eigenen Format. Aber er hat sie alle wirken lassen.

Und mangelt es aktuell nicht gerade an solchen Formaten in der deutschen Politik?

Gegenwärtig ist das Systemdenken beherrschend, nicht die Förderung starker Persönlichkeit. Und eine starke Persönlichkeit wie Angela Merkel, die Neues wagt und ermöglicht, stößt auf Widerstände, passt scheinbar nicht ins System. Aber Politik braucht Führungspersönlichkeiten, die mit den Menschen, die längst fälligen Veränderungen verantworten und durchführen.

Die folgenden Punkte sind eng mit Ihnen und Ihrem Namen verbunden: Frauenrechte, Aids, Migrationspolitik, Schwangerschaftsberatung. Welches war rückblickend Ihr härtester Kampf?

Der härteste Kampf war Aids, der zweithärteste war der Schutz des ungeborenen Lebens. Es gibt bei diesem Schutz, nicht die Lösung, aber Konfliktreduzierung. Was bleibt, ist die Auseinandersetzung zwischen dem Lebenserhalt auf der einen Seite und dem extremen Lebenskonflikt auf der anderen Seite. Für mich geht es darum, auch den anderen in seinen Gewissenskonflikten, in seinen Überlegungen ernst zu nehmen und dafür haben wir damals eine Regelung gefunden, von der ich noch heute sage, dass sie den Konflikt reduziert hat, zugleich die Frauen in ihrer Verantwortung und ihrer Entscheidung gestärkt hat.

Jetzt sind wir wieder dabei, dass entweder die Ärzte in der Frage des Abbruchs die Übeltäter sind, und wenn nicht sie, dann die Frauen selbst. Die schwierige Entscheidung wird den Frauen nicht abgenommen. Doch was nicht erneut verneint werden sollte, ist der Respekt gegenüber der Letztentscheidung der Frau. Wir urteilen über Frauen negativ, deren Konflikte wir letztlich nicht beurteilen können. Es müsste für uns darauf ankommen, die Hilfen in diesem Konflikt zu verstärken, Kindern eine glückliche Beziehungswelt zu ermöglichen und in das Zentrum unseres Handelns, Hilfen und Ermutigung zu stellen.

Welches war Ihr schönster Erfolg?

In der globalen Kommission der UNO zur Gestaltung der Einwanderung Menschen zu gewinnen und mitzunehmen, neue Win-Win-Situationen zu schaffen. Das beziehe ich nicht nur auf Flüchtlinge, sondern auch auf Menschen, die aus anderen Kulturen zu uns gekommen sind und mitarbeiten wollen. Das haben wir in wichtigen Punkten geschafft.

Sie haben eben die Flüchtlingsfrage angesprochen. Angela Merkel wurde in dieser Thematik sehr stark von rechts, aber auch aus den eigenen Reihen kritisiert. Was haben Sie angesichts der verbalen Angriffe gefühlt?

Ich habe sehr mit ihren Konflikten gefühlt und bestätige heute noch mein Urteil, dass das, was sie in dieser konkreten Notsituation entschieden hat, eine grundlegend menschliche Selbstverpflichtung war. Sie hat sicherlich nicht gewusst, wie das nachfolgende Management im Einzelnen aussehen wird. Nicht ihr Satz war falsch, sondern das nachfolgende Management ist diesem Anspruch, der in dem Satz lag, nicht gefolgt. Wenn wir nicht eine – doch nach wie vor aktive – Notgemeinschaft geblieben wären, wenn wir an die vielen Bürger denken, die zu den Flüchtlingen unterwegs waren, die Möbel, Wäsche und Nahrungsmittel anschleppten, hätten wir es nicht geschafft. Ich habe da wieder erlebt, wie stark eine Gesellschaft sein kann, wenn sie in solchen Konfliktsituationen zusammenhält. Sogar die Weltgemeinschaft hat bewundert, wie wir das hinbekommen haben. Heute reden wir nur über alles, was nicht hätte sein dürfen und was wir falsch gemacht haben.

Gleichwohl hat die Entscheidung von Angela Merkel damals zu Streitereien in der die Union geführt, die sie bis an den Rand ihres Zusammenbruchs gebracht haben.

Der Hauptstreit ging um die Öffnung der Grenzen und die Höchstgrenze der Belastung Deutschlands durch Flüchtlinge. Die Art und Weise, wie der Streit ausgetragen wurde, war abschreckend und deprimierend. Angela Merkel stand in einem Feuer der Kritik, die nichts Wertschätzendes hatte. Da habe ich jene Kommunen schätzen gelernt, die Hand angelegt haben. Dass darin auch Fehler vorkamen, Fehler in der Kontrolle, ist naheliegend. Aber umgekehrt wurde zügiges Handeln bekräftigt, da es bei den Asylanträgen, der Unterkunftsbeschaffung, bis hin zur Arbeitsvermittlung.